Читать книгу Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1) - Perry Rhodan - Страница 11

Оглавление

3.

Der Gast

Perry Rhodan drehte sich langsam um. Vor ihm stand eine Frau. Sie musste aus dem Durchgang zur Zentrale getreten sein. Sie war groß, dabei grazil, sehr feminin proportioniert. Ihre Haut war außergewöhnlich hell, die sehr kurz geschnittenen Haare schwarz mit einem blauen Schimmer. Sie beobachtete ihn aus zwei fast blendend blauen Augen, die ein wenig schräg standen und von schmalen Brauen überwölbt wurden wie von dunklen Mondsicheln.

Kleidung wie ihre hatte er nie zuvor an Bord der RAS TSCHUBAI gesehen. Sie trug eine einteilige Kombination aus einem rötlich schimmernden Stoff, auf dem sich blaue Bahnen und Linien abzeichneten, als ob man ihre Organe sehen könnte. Der Stoff umschloss zudem ihre Füße so eng, dass ihre Zehen sichtbar blieben. Es waren schlanke, allem Anschein nach feingliedrige Zehen, und es waren fünf.

Sie hatte fünf Finger oder hatte sie zumindest gehabt, wie ihre rechte Hand bewies. An der linken dagegen fehlten die äußeren zwei. Auf allen Fingern außer den beiden Daumen saßen Fingerhüte verschiedenen Aussehens. Ob es sich dabei um Schmuck handelte oder technisches Gerät oder beides, vermochte Rhodan nicht zu erkennen.

Um ihren langen Hals lag eine handbreite Halskrause von deutlich technischer Beschaffenheit. Sie war aus einem sehr ähnlichen Material gefertigt wie der Koffer – der Paau –, wies aber zahlreiche Ausbuchtungen und Vertiefungen auf.

Perry Rhodan hatte jede Zeit, die Fremde in Augenschein zu nehmen, denn auch sie musterte ihn unverhohlen.

»Ich vermute, du bist neu an Bord?«, fragte er.

»So neu nicht«, antwortete die Fremde. Ihre Stimme klang menschlich. Sie sprach perfektes Interkosmo, aber mit einem leichten Akzent, der Rhodan gänzlich unvertraut war.

»Mein Name ist Perry Rhodan«, stellte er sich vor. »Wer bist du?«

»Perry Rhodan«, wiederholte sie. Es klang zugleich erstaunt und ungläubig. »Ist das so?«

»Warum sollte ich lügen?«

»Ja, warum?« Sie straffte ihren Körper. Sie musste wenigstens 1,90 Meter groß sein. »Ich bin Zemina Paath.«

»Und wie lange bist du schon an Bord?«

»Einige Zeit«, sagte sie vage. »Es war nicht einfach, in dieses Schiff einzudringen und so weiter.«

Rhodan spürte, wie sich alles in ihm anspannte. »Du bist in das Schiff eingedrungen?«

»Ja.«

»Und du bist dabei auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen?«

»Das will ich nicht sagen«, gab sie zu. »Ich hatte jedoch Unterstützung.«

Rhodan wies auf den Koffer: »Den?«

»Zum Beispiel.«

Wenn das stimmte, stellte der Paau einen erheblichen Machtfaktor dar. Ganz zu schweigen davon, dass Rhodan über keinerlei Hinweise verfügte, wie der Koffer bei diesem Angriff geholfen haben sollte. »Was hast du in dieser Zeit im Schiff gemacht?«

»Ich habe mich umgesehen.«

»Und dann hast du mich geweckt?«

Sie bildete mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand einen Kreis.

Er hob fragend die Brauen.

»Das heißt ja«, übersetzte sie diese Geste.

»Du hast mich zweimal geweckt?«

»Das könnte man so sagen.«

»Warum mich?«

»Warum nicht?«, fragte sie zurück.

»Willst du sagen, du hättest mich zufällig geweckt?«

Wieder bildete sie den Daumenfingerkreis.

»Hat ES dich geschickt?«, fragte er. »Der Wanderer? Homunk? Ernst Ellert?«

Sie sah ihn ratlos an. »Ich habe diese Namen nie gehört.«

»ES ist der Name einer Superintelligenz«, erklärte Rhodan. Er beobachtete ihr Gesicht. Es war von milder Neugierde gezeichnet. »ES ist der Konstrukteur und der Mentor dieser Mächtigkeitsballung.« Kein Zeichen der Erkenntnis in ihren Zügen. »Ich dachte, du bist vielleicht seine Botin.«

Sie spreizte Daumen und Zeigefinger weit voneinander ab. »Nein.« Sie dachte nach. »Vielleicht bin ich eher eine Kundschafterin.«

»Eine Kundschafterin wessen?«

»Das weiß ich nicht.« Sie wirkte gequält. Rhodan setzte nicht nach. »Ist dieses ES hier? In dieser Galaxis?«

»ES ist verschwunden«, sagte Rhodan.

»Wie dieses Schiff.«

Rhodan nickte bedächtig. »Wie lange waren wir fort?«

»Das weiß ich nicht. Der Legende nach viele Jahrhunderte.«

Viele Jahrhunderte, hallte es in seinem Kopf wider. Er schloss kurz die Augen. Er spürte, wie sein Herz bis zum Hals schlug. »Wie viele Jahrhunderte?«

»Es ist eine Legende«, sagte sie. »Sie spricht nicht von exakten Daten.«

»Und wieso eine Legende?«, wiederholte Rhodan. »Existieren denn keine historischen Berichte über unsere Mission?«

»Vielleicht«, sagte sie. »Wie könnte ich das wissen?«

»Bist du keine Bürgerin der Liga Freier Galaktiker?«

»Nein.« Der Begriff der Liga schien ihr immerhin etwas zu sagen.

»Bist du auch keine Terranerin?«

»Nein.« Sie lächelte – nachsichtig, wie ihm schien, und wie über einen alten Mann, der sich in der modernen Welt nicht mehr zurechtfindet.

»Was bist du dann?«

Er bemerkte, dass sich ihr graziler Körper wie die Sehne eines Bogens spannte. »Ich weiß es nicht.«

Rhodan trat einen Schritt auf sie zu. Sie wich nicht zurück. »Und warum weißt du das alles nicht?«

Sie hob die linke Hand, an der die äußeren zwei Finger fehlten, und tippte sich an den Hinterkopf. »Weil ich porös bin.«

»Porös?«

Sie bildete mit der rechten Hand den Daumenfingerring. »Man hat mir Teile meines Gehirns gestohlen.«

»Wer?«

»Jemand«, sagte sie. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Er ist ein grausamer Dieb. Er sammelt etwas.«

»Ist er hier?«

»An Bord deines Schiffes? Nein, ich glaube nicht. Die Hülse – mein Nashadaan – hat es sehr sorgfältig abgesucht, und auch der Paau hat keine Spur von ihm gefunden.«

»Sehr beruhigend.« Rhodan lächelte. »Und was genau ist diese Hülse?«

»Mein Sternenschiff«, sagte sie kurz angebunden. »Das Nashadaan, das dein Schiff stillgelegt hat.«

*

Der Koffer stand unbewegt. Es war weiterhin totenstill an Bord des Schiffes. Nichts war mehr sicher.

Perry Rhodan hatte das Gefühl, bei wachem Verstand in einem Traum gefangen zu sein. Fast war er für das maschinelle Summen dankbar; es vermittelte ein wenig vertraute Realität. Kein Zweifel: Das Schiff und alle seine Anlagen befanden sich im Notbetrieb, die RAS TSCHUBAI war gewissermaßen auf Stand-by geschaltet.

Eine Leistung, für die Zemina Paath Respekt gebührte – sofern sie die Wahrheit gesagt hatte. Wie hatte sie das geschafft? Die RAS TSCHUBAI war ein mächtiges Schiff, eine Waffe, mit der man fürchterliches Unheil anrichten konnte. Und wieso hatte sie das getan? Was führte sie an Bord seines Raumschiffs?

»Erinnerst du dich überhaupt an etwas?«, fragte er.

»Natürlich. An sehr vieles. Nur eben an das nicht, was in den Exzerpten gespeichert liegt.«

»Du meinst: in den gestohlenen Teilen deines Gehirns?«

»Ja.«

»Woran erinnerst du dich?«

Sie schloss die Augen. Rhodan bemerkte, dass ihre Lider mit winzigen, aus dieser Distanz nicht genau erkennbaren Tätowierungen oder etwas in der Art versehen waren. »Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann.«

»Du bist an Bord meines Schiffes.«

»Ich habe es mir angesehen«, sagte Zemina Paath. »Seine Waffensysteme. Sie können ungeheure Gewalten entfesseln.«

»Du hast also mein Schiff untersucht. Und du hast mich ebenfalls untersucht, nicht wahr? Du hast mich aus der Suspension geholt, mich auf irgendeine Art bewusstlos gehalten, mir den Zellaktivator herausgeschnitten, ihn analysiert und wieder eingesetzt. Alles ohne meine Einwilligung.«

Sie überging die Anklage ohne ein Wort der Rechtfertigung, aber auch, ohne zu widersprechen. »Ich habe die Projektoren für die Schirme gesehen, die dein Schiff schützen«, gab sie zurück. »Du kannst es fast unangreifbar machen. Dein Schiff ist eine Macht. Nicht erstaunlich, dass sie dich fürchten.«

»Wer fürchtet mich?«

»Die Cairaner«, sagte Zemina Paath. »Die Konsuln der Milchstraße und ihres Halos in ihrer Cairanischen Epoche. Die, auf deren Geheiß das Sternenrad rollt und die Friedensbrecher zerbricht.«

*

Perry Rhodan bemühte sich, ruhig zu bleiben, obwohl sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Ihm war, als packte ihn eine eiskalte Hand im Nacken. Wieso nur? Das alles waren nur Worte, Namen, Sätze, die ihn an Glaubensartikel erinnerten.

Doch er spürte die Gewalt, von der in diesen Formeln die Rede war: die Friedensbrecher zerbrechen – wie oft hatte er solche oder ähnliche Sätze gehört, wenn es um die Rechtfertigung von Kriegen und Strafaktionen ging? Die Cairanische Epoche.

»Diese Cairaner beherrschen die Milchstraße?«, fragte er.

»Sie sind ihr Numen«, sagte Zemina Paath. »So nennen sie das. Ihre friedenswirkende Kraft.«

Hatte er vorschnell geurteilt? »Demnach herrscht Frieden in der Galaxis?«

»Das habe ich gehört«, sagte Paath.

»Was genau hast du gehört?«

»Hyperfunksprüche«, antwortete sie. »Die Hyperfunksprüche, die meine Hülse – mein Nashadaan – aufgefangen hat, verkünden, dass die Milchstraße in die Cairanische Epoche eingetreten ist. Die Ladhonen, wo sie noch für Feuer und Frevel sorgen, werden bekämpft und besiegt. So heißt es.«

»Und die Liga Freier Galaktiker? Von der hast du immerhin gehört?«

Sie legte Daumen und Zeigefinger bejahend zusammen. »Das habe ich. Von der Liga und ihrem Residenten. Der Resident und seine Getreuen leben in der Zentralgalaktischen Festung. Der Gigant mit dem unzerstörbaren Leib hütet diese Festung.«

Legenden, dachte Rhodan. Das alles klingt tatsächlich nach Legenden. Was mag ihr wahrer Kern sein? Was ist wirklich geschehen? »Und wer ist der Resident?«

»Ein Mann namens Reginald Bull«, sagte Zemina Paath.

Unwillkürlich atmete Rhodan tief ein und wieder aus. Bully, dachte er. Mein ältester Freund, seit Jahrtausenden. Er lebt noch! Es war, als höbe jemand ein massives Joch aus Terkonit von seinen Schultern. »Reginald Bull«, wiederholte er. »Du bist sicher?«

»Ich bin nicht sicher«, stellte Paath klar. »Ich bin nie in der Milchstraße gewesen. Ich höre manchmal den Stimmen aus den Hyperfunksendern zu.«

»Du selbst stammst nicht aus der Milchstraße?«

Sie zögerte. »Richtig.«

»Wo lebst du?«

»Im Nashadaan«, sagte sie, als vermöchte sie nicht zu begreifen, wie man das nicht wissen konnte.

»Und mit diesem Sternenschiff kreuzt du im Halo der Galaxis?«

»Das ist richtig.«

»Und hier hast du mich gefunden, mich und mein Schiff? Ganz zufällig?«

»Ja.«

»Und hast zufällig mich geweckt? Zu viele Zufälle, findest du nicht?«

Sie betrachtete ihn wie ein begriffsstutziges Kind. »Es gibt nicht zu viel, von nichts. Da das Universum endlich ist, ist auch die Anzahl von allem endlich. Auch die der möglichen Zufälle.« Zum ersten Mal lächelte sie. »Ich weiß, von diesen Zufällen habe ich schon ziemlich viele verbraucht.«

»Ich werde die RAS TSCHUBAI aktivieren«, sagte er. »Ich werde alle Besatzungsmitglieder wecken.«

»Sobald sie wach sind, sie alle, und sobald dein Schiff seinen Betrieb aufnimmt und Energie braucht und frisst, werden die Cairaner dich aufspüren und vernichten.«

»Das käme auf einen Versuch an«, meinte er. »Wie du eben bemerkt hast, ist die RAS TSCHUBAI nicht ganz wehrlos.«

»So kann man sagen«, gab sie zu. »Aber dein Schiff ist nur ein Schiff, und dir wird eine ganze Galaxis entgegenstehen.«

»Warum sollte das so sein?«, fragte Rhodan. »Was habe ich getan?«

»Beinahe nichts«, sagte Paath. »Nur, dass du nicht aus der Cairanischen Epoche stammst.« Sie verzog ihr Gesicht. »Wieso willst du dein Schiff opfern, Perry Rhodan?«

*

Der Satz hatte ihm zu denken gegeben. Sie hatte recht. Er durfte die RAS TSCHUBAI nicht in Gefahr bringen. Er musste zunächst die Situation so weit wie möglich klären.

Er hatte von Paath verlangt, ihr Nashadaan zu sehen, ihr Sternenschiff. Sie hatte nach kurzem Zögern eingewilligt. Der Koffer – ihr Paau – machte keine Anstalten, ihnen aus dem Suspensionssaal zu folgen. Rhodan wusste selbst nicht, warum er erwartet hatte, dass sich dieses Gebilde in Bewegung setzen und Paath folgen sollte. Dass dieser ominöse Koffer an Ort und Stelle blieb, war Rhodan nur bedingt angenehm. Immerhin war nicht auszuschließen, dass der Paau eine Bombe war oder eine ähnliche Wirkung entfalten konnte.

Die stillgelegte RAS TSCHUBAI war wehrlos. Er musste wissen, warum. Was die Fremde und ihre Hülse getan hatten, um sein Schiff auf diese Weise zu paralysieren.

In den Gängen und Korridoren des Schiffes herrschte dasselbe abgemilderte Licht wie im Suspensionssaal. Die Luft schmeckte frisch und unverbraucht, beinahe urweltlich. Er fragte sich, wie lange kein Mensch mehr in diesen Gängen geatmet hatte.

Ihr Weg führte fort von der Zentrale. Rhodan überlegte, ob er Zemina Paath auf das Expresskapselsystem hinweisen sollte. Er unterließ es. Sie erreichten einen der größeren Antigravschächte, die das Schiff vertikal durchzogen. Eine Sicherheitsscheibe aus Glassit war vor dem Eingang zum Schacht herabgelassen. Das Antigravsystem war desaktiviert.

Perry Rhodan trat näher an die Glassitscheibe, legte seine Stirn dagegen und schaute in den Schacht hinauf und hinab. Nur sparsamste Beleuchtung.

»Wir müssen einige Decks hinauf«, sagte seine Begleiterin.

Er öffnete eine Notfalltür, die in das Treppenareal führte. Die größeren Antigravschächte verfügten über derartige Notfalltreppen, die sich spiralförmig außen um die Schächte wanden. Das Notlicht, das in diesem Areal glomm, war deutlich schwächer als das Licht auf den Gängen.

Rhodan nahm die ersten Stufen. Zemina Paath folgte ihm. Er versuchte, sie noch einmal in ein Gespräch zu verwickeln, um mehr über die Cairaner zu erfahren und über die Ladhonen.

Was war mit der Liga und ihrem Residenten? Wieso war Paath an Bord der RAS TSCHUBAI, was waren ihre Ziele?

Aber Paath schwieg, als wären Stufen und Treppen ihr völlig unvertraut und erforderten all ihre Aufmerksamkeit. Rhodan musste an die vielen Besatzungsmitglieder denken, die immer noch in Suspension lagen, körperlos, zeitlos, bewusstlos. Wieder überkam ihn das Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen, in einem Albtraum, in dem das Steigen in diesem Schacht kein Ende nahm. Er klopfte mit der flachen Hand gegen die feste Wand, spürte das wirkliche Metallplast und kämpfte das Gefühl nieder.

Irgendwann sagte Zemina Paath: »Ungefähr hier ist es.«

Sie stiegen aus und fanden sich auf einem Deck, das Zugang zu den Landebuchten der MARS-Kreuzer bot. Zwei der 500-Meter-Schiffe hatten die RAS TSCHUBAI verlassen, bevor Rhodan mit ihr in das chaotemporale Gezeitenfeld getaucht war. Ihre Landebuchten standen leer, geometrisch exakte, halbkugelige Landschaften aus purem Metall, versehen mit elektromagnetischen, gravitativen und nicht zuletzt mechanischen Halterungen für je einen dieser Kreuzer, mit Übergängen und Kontaktschleusen, die zur unteren Hälfte des Beibootes führen sollten.

Solange ein Kreuzer in seiner Bucht ruhte, bildete sein Ringwulst den Abschluss aller Verbindungsstellen zum Mutterschiff. Der Wulst der Kreuzer selbst lag bis zu seiner Mitte in einer ringförmigen Einbuchtung der Landemulde.

Paath folgte etwa fünfzig Meter einem der sternförmig angeordneten Radialkorridore, wechselte dann in einen der konzentrischen Ringgänge und von dort wieder in einen breiteren Radialkorridor, der direkt auf die Landebucht zuführte. Offenbar kannte sich Zemina Paath gut aus, wenigstens in diesem Bereich des Schiffes.

Allerdings bemerkte Rhodan, dass sie an dem Zugang zu einer Halle achtlos vorüberging, in der er einen der Interntransmitter der RAS TSCHUBAI wusste. Wahrscheinlich war ihr dieses System für den unverzüglichen Personentransport bisher entgangen. Er entschied sich, sie auch nicht auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Allerdings funktionierten sie derzeit ohnehin nicht – zuerst musste ANANSI wieder die Arbeit aufgenommen haben.

Schließlich und etwa eine Stunde, nachdem sie gemeinsam aus der Suspensionshalle aufgebrochen waren, standen sie vor der Tür zu einer Mannschleuse, die aus dem Mutterschiff hinaus- und in den Kreuzer hineinführte.

Aus dem rückwärtigen Teil der Halskrause von Paaths Anzug entfaltete sich ein halbkugeliger Helm, der ihren Kopf bedeckte. Der Helm war in seiner vorderen Hälfte transparent, dabei leicht getönt. Die hintere Hälfte wurde von einer fugenlos glatten Schale gebildet. Mit einem leichten Sauggeräusch rastete der vordere Teil in der Halskrause ein.

Rhodan folgte ihrem Beispiel und aktivierte den Helm seines SERUNS.

»Hörst du mich?«, fragte Paath über Funk.

Rhodan bestätigte.

Paath legte eine Hand auf einen Sensorschalter an der Wand, und die Schleusentür öffnete sich. Rhodan registrierte es mit Unbehagen: Die Übergänge von außen nach innen und umgekehrt waren bei allen Raumschiffen hochsensible Bereiche. Warum gehorchte die RAS TSCHUBAI der Fremden so widerspruchslos?

Sie traten ein, und die Tür schloss sich hinter ihnen. Rhodan war nicht mehr überrascht, dass die Sicherungsroutinen der Schleuse nicht ansprachen. Normalerweise hätten er und seine Begleiterin telemetrisch abgetastet, hätte ihre Legitimation und Ausrüstung überprüft und mit den bei ANANSI hinterlegten Daten abgeglichen werden müssen. Ein Vorgang, der den Bruchteil einer Sekunde dauerte und in einer Freigabe zum Übertritt abgeschlossen wurde.

Nichts tat sich. Niemand meldete sich. Nur die Kabinenatmosphäre wurde abgesaugt, dann glitt die Außentür lautlos zur Seite.

Was Rhodan sah, verschlug ihm den Atem.

*

Über ihm hing das lichte Spiralrad der Milchstraße, Hunderte von Milliarden Sterne, von ebenso ungeheuren wie unsichtbaren Kräften aneinandergebunden, ohne je eine festgefügte Ordnung zu finden. Ein kosmisches Mobile aus Stoff und Energie, das nur dem menschlichen Geist gegenüber stillstand, während es in Wirklichkeit herumwirbelte wie ein Sturm aus Licht, der unaufhaltsam in die Tiefen der Raumzeit vordrang, als vermöge er die ewige Finsternis auszuleuchten.

Die Landebucht für den MARS-Kreuzer erschien dagegen wie eine schwarze Schüssel, riesengroß und abgründig. Sie wirkte wie ein Gefäß, in dem all jenes Licht aufgefangen werden sollte, das die Milchstraße über ihnen ausgoss.

Allerdings lag in dieser Schüssel ein Gebilde, und sie hatte einen immensen Sprung, der von einer Seite der Bucht bis zur anderen klaffte. Es war, als hätte ein Titan mit einer überlebensgroßen Axt zugeschlagen. Die unter dem Riss befindlichen Gänge und Hallen lagen im Dunkeln.

Hier hat die RALF MARTEN gelegen, dachte Rhodan. Was ist geschehen?

»Dein Schiff hat Schaden genommen«, sagte Paath in einem Tonfall, in dem ein Mediker den Eltern eine Verwundung ihres Kindes meldet.

»Wurde es angegriffen?«, fragte Rhodan.

»Ich glaube nicht«, sagte Paath. »Aber die Schäden sind, soweit ich sehe, beträchtlich. Möglich, dass ich ohne diese Beeinträchtigungen dein Schiff gar nicht hätte betreten können.«

Rhodan nicke, obwohl sie diese Geste nicht sehen, vielleicht nicht einmal hätte deuten können.

»Und das dort ist dein Schiff?«, fragte er und wies auf das Gebilde, das mit einem Ende unten in der Landebucht auflag, während es oben weit über die Bucht hinausragte.

»Das ist mein Nashadaan«, bestätigte sie.

Paaths Sternenschiff hatte die Form eines sechseckigen Zylinders. Rhodans schätzte, dass es dreihundert Meter lang war; der SERUN bestätigte das auf kurze Anfrage. Das Schiff hatte eine Kantenlänge von rund sechzig Metern. Das Ende, mit dem es in der Landebucht auflag – Rhodan hielt es für den Bug –, wurde von einem kuppelartigen Gebilde abgeschlossen. Wie das Heck des Nashadaans beschaffen war, entzog sich seinem Blick.

Rhodan aktivierte den Helmscheinwerfer seines SERUNS und richtete ihn auf die Hülse. Im Lichtkegel zeigte sich, dass die Hülle dieses Objektes dunkelrot schimmerte. Ohne erkennbares Muster waren kleinere und größere, meist runde, manchmal ovale Fenster über die Hülle verteilt. Weitere Aufbauten, Waffentürme etwa, Ortungsgeräte oder Fugen, die Hangartore andeuteten, bemerkte er nicht.

»Die Hülse und ich haben das künstliche Bewusstsein abgeschaltet, das dein Schiff gesteuert hat«, sagte Paath unvermittelt. »Mein Nashadaan befürchtete, dass dieses Bewusstseinsartefakt wahnsinnig werden könnte.«

»Gut«, sagte Rhodan. Er hatte keinen Beweis für diese Aussage, aber zu seinem eigenen Erstaunen glaubte er ihr.

»Ich will dir dein Schiff nicht stehlen«, versicherte sie.

Erneut glaubte er ihr, glaubte ihr sogar, dass sie, hätte sie es nur gewollt, diesen Diebstahl hätte begehen können.

»Möchtest du die Hülse sehen?«, fragte sie. »Ich meine: ihr Inneres?« In ihrer Stimme klang Aufregung mit wie bei einem Kind, das einem Erwachsenen etwas vorführen will, auf das es stolz ist.

Etwas sagte ihm, dass er dieses Angebot nicht ausschlagen sollte. »Ich würde dein Schiff gerne sehen.«

*

Sie stießen sich vom Boden ab und schwebten auf das Nashadaan zu. Rhodan wies die Positronik seines SERUNS an, Paath zu folgen. Als sich Rhodans SERUN-Stiefel von der Hülle der RAS TSCHUBAI lösten, glaubte er, eine leichte Klebrigkeit zu spüren.

Es war nur ein flüchtiger Moment, der ihn jedoch nachhaltig irritierte. Unzählige Male war er in einem SERUN in den Einsatz gegangen. Das Schuhwerk war mit sensitiven Folien ausgelegt, die seinem Träger ein taktiles Gefühl für den Untergrund vermittelten – angemessen gedämpft: Brühend heiße, scharfkantige oder ätzende Oberflächen schmerzten nicht, sondern wurden nur andeutungsweise klassifiziert. Rhodan bewegte sich auch nicht zum ersten Mal über die Außenhülle der RAS TSCHUBAI. Hatte die neuartige Anmutung etwas damit zu tun, dass sich der Werkstoff Ynkalkrit mit Spuren von Proto-Eiris verbunden hatte?

Er warf einen Blick durch das schmale Fenster im SERUN-Ärmel auf sein Multikom. Das Gerät zeigte ein schwaches und nicht näher definierbares, fünfdimensionales Energiefeld an, das die Hülle des Schiffes wie ein hauchdünner Firnis bedeckte. Oder wie eine Haut.

Der Detektor des Multikoms empfing in dieser Sache außerdem Daten, die es denkbar erscheinen ließen, dass jener Firnis auch über sechsdimensionale Energiekomponenten verfügte. Um solche Energien nachzuweisen, brauchte es allerdings höherwertige Ortungsgeräte.

Immerhin: Seine Empfindung hatte ihn wohl nicht getäuscht. Etwas an der Hülle der RAS TSCHUBAI hatte sich verändert. »Bist du für die energetische Ummantelung meines Schiffes verantwortlich?«, fragte er.

»Das Nashadaan«, stellte Zemina Paath richtig.

»Hat dieser Energiemantel die RAS TSCHUBAI stillgelegt?«

»Ja«, sagte Paath. »Zu unserem Schutz.«

»Vor den Cairanern?«

»Vor den Cairanern, vor den Ladhonen, vor wem auch immer.«

»Gut«, murmelte Rhodan. Es war eine andere Zeit, sie hielt neue Gefahren für ihn bereit.

Wie mochte es jenen ergangen sein, die auf Wanderer zurückgeblieben waren? Perry Rhodan II, seinem anderen Ich? Lua Virtanen und Vogel Ziellos, der endlich sein Ziel gefunden hatte? Ernst Ellert? Hatten sie Glück und Frieden genießen können oder genossen sie noch?

Was, vor allem, hatten diejenigen erlebt, die all die Jahre in der Milchstraße verbracht hatten, seine alten Freunde Reginald Bull und Homer G. Adams oder der Haluter Icho Tolot? Und was war mit der Familie seines Freundes Bully, mit Toio Zindher und ihrer gemeinsamen Tochter Shinae?

Er riss sich von diesen Gedanken los. Sie hatten das Nashadaan beinahe erreicht. Paath hielt auf eines der Fenster zu. Möglich, dass es sich hierbei um Schotts handelte, um Schleusen oder Hangartore.

Paath verlangsamte ihren Flug, breitete die Arme aus und drang in die Öffnung ein. Rhodan folgte ihr kurz darauf. Das Fenster nahm ihn auf wie eine zähflüssige Substanz, die seinen Flug zwar verlangsamte, aber nicht stoppte.

Dann schwebte er in den Innenraum.

Sein Eindruck war: Dies ist eine Kathedrale.

Licht fiel durch einige – bei Weitem nicht durch alle – Fenster, in dicken, fast stofflich anmutenden Säulen. Perry Rhodan erkannte, dass der Innenraum der Hülse hohl war. Wie zufällig verteilt hingen verschieden große geometrische Körper im Raum, Würfel, wie Rhodans erster Gedanke war. Aber ein wenig komplizierter waren diese Gebilde schon.

Eine Mischung aus Würfel und Bienenwabe. Sie hatten überwiegend sechsseitige Flächen, verbunden durch Quadrate. Der Fachausdruck dafür heißt Oktaederstumpf, entsann sich Rhodan.

»Was ist das?«, fragte er Paath.

»Das sind die Daans dieser Hülse«, antwortete sie. »Lebensräume. Mediatheken. Maschinen. Vorratskammern. Traumkapseln. Medokabinen. Und so weiter.«

Die Gebilde waren durch Seile oder Drähte miteinander verbunden, manche davon dick wie Rhodans Unterarm, andere fast unsichtbar wie Fäden aus Spinnenseide. Ihre Anordnung schien keinem sichtbaren System zu folgen: Größere Daans waren durch hauchzarte Bande verknüpft, kleinere Gebilde durch wuchtige Trossen.

Rhodan ließ seinen Blick durch den Raum streifen, betrachtete die Innenseite der Schiffshülle. Sie war bemalt – bemalt oder mit Mosaiken ausgelegt. Das Visier seines SERUN-Helms folgte seinem Blick und stellte ihn scharf.

Rhodan betrachtete die Bilder. Es war schier überwältigend. Er sah neben schlichten, aber ausdrucksstarken Zeichnungen prachtvolle Gemälde, angedeutete Skizzen, kaum eine Handfläche, kaum einen Daumennagel groß, dann wieder Panoramen von Dutzenden Metern Länge und Breite. Manche Bilder gingen ineinander über, andere waren durch eine kreisrunde, schwarze Kontur von allen anderen getrennt. Er sah Dutzende, Hunderte verschiedener Darstellungsstile; er sah Farben aller Art und Leuchtkraft; er sah Globen, Landschaften, Landkarten, Bauwerke, Maschinen, Fahr- und Flugzeuge, Lebewesen in einer sinnesverwirrenden Mannigfaltigkeit und exotischen, fremdartigen Pracht.

Ein wenig erinnerten die Werke ihn auch an die Zeichnungen, die er auf Zemina Paaths Lidern gesehen hatte.

Holonder hätte seine Freude, durchfuhr es ihn. Jedes Museum Terras hätte seine Freude.

»Von wem stammen diese Bilder?«

»Von vielen«, sagte sie.

»Auch von dir?«

Rhodan spürte ihr Zögern. »Das will ich nicht ausschließen«, sagte sie dann.

Rhodan war, als zögen diese Bilder ihn an, als saugten sie sich an ihm fest. Er musste sich zwingen, den Blick zu lösen.

»Hast du genug gesehen?«, fragte Zemina Paath.

Rhodan nickte, immer noch von der stillen Bilderflut wie betäubt. »Es ist sehr beeindruckend. Ich werde nun auf mein Schiff zurückkehren. Ich denke aber, wir bleiben in Kontakt, Zemina Paath.«

»Du willst ohne mich zurück?«, fragte sie. Nun klang ein Hauch von Belustigung mit.

»Du hast dein Schiff, ich habe meines«, sagte Rhodan. »Ich muss meine Besatzung wecken, die Schäden erheben und reparieren. Und dann fliegen wir heim ins Solsystem. Nach Terra.«

»Terra?« Sowohl in ihrem Gesicht wie in ihrer Stimme spiegelte sich Verwunderung, Erschrecken, schierer Unglaube.

»Wohin sonst?«, fragte Rhodan, ehrlich überrascht.

»Es gibt keinen Ort namens Terra«, sagte Paath. »Es gibt ihn nicht. Es hat ihn nie gegeben.«

»Was?«

»Terra ist das Irrlicht dieser Galaxis«, fuhr Paath fort. »Eine Legende. Ein Haufen von Legenden, ausgedacht von Banden von Terranern, um sich Privilegien zu sichern und eine höhere Wertigkeit zu beanspruchen. Terra ist der Grund zahlloser Kriege. Terra ist der Sprengsatz, der die Gesellschaft der Milchstraße zerstören soll. Terra ist das Gift, das alle lähmt, die guten Willens sind.«

War das ihre eigene Empörung? Oder sprach sie die Empörung anderer nach? »Wie kommst du darauf?«, fragte Rhodan.

Er fühlte sich, als schwankte der Boden unter ihm. Als würde ihm ein Stück seines Herzens und seines Verstands herausgerissen. Wie hatte Zemina Paath vorhin gesagt? Ich bin porös. In diesem Augenblick glaubte er, sie zu verstehen.

Sie schwieg.

»Wie kannst du so etwas sagen?« Fast hätte er geschrien.

»Das sage nicht ich«, entgegnete Paath. »Das sagt alle Welt.«

Unmöglich! Terra soll nie existiert haben? Rhodans Gedanken rasten.

Er, dem ein legendärer Ruf vorauseilte, in jeder Situation sofort umschalten zu können, sich auf Neues einstellen und den Überblick in erzwungener Gelassenheit behalten zu können – er stand in diesem Moment neben sich. Das war Irrsinn!

»Was genau sagt alle Welt?«, fragte er gepresst.

»Dass Terra nichts als eine Legende ist. Ein Mythos.«

Das kann nicht sein!, wollte Rhodan rufen. Aber er schwieg. Das war ganz sicher nicht der richtige Moment, darüber zu diskutieren, dass das Wissen um einen Planeten, der eine so herausragende Rolle in der Geschichte der Milchstraße gespielt hatte, nicht einfach verloren gehen konnte. Schon gar nicht in nur ein paar Jahrhunderten.

Unmöglich. Es muss doch Tausende, Millionen Beweise geben!

Ob sie ihm wohl sein Entsetzen, seine Verblüffung ansah? Jedenfalls fuhr sie ungerührt fort: »Jeder weiß das. Man braucht ja nur ins Solsystem zu fliegen. Terra ist ein Mythos und war nie etwas anderes.«

*

Perry Rhodan hatte es versucht. Aber es war ihm nicht gelungen, aus eigener Kraft in die RAS TSCHUBAI zurückzukehren. Das höherdimensionale Feld, der Firnis, verhinderte es.

Zemina Paath hing hinter ihm im Raum, in Warteposition, die Arme in einer fast rührend menschlichen Weise vor der Brust verschränkt.

Für einen kurzen Moment fühlte er sich ausgesetzt und verloren: Dort schwebte sein Schiff, ein Globus mit 3000 Metern Durchmesser, im leeren Raum, wenige Armlängen entfernt und absolut unerreichbar. Über alle Ränder des gewaltigen Kugelleibes hinaus leuchteten die Spiralarme der Milchstraße, so, wie sie vor etwa zehntausend Jahren ausgesehen hatte – lange, bevor die Menschheit sich von Terra aus über Luna auf den Weg gemacht hatte, die Sterne zu erobern.

Wie man so sagte. Denn wie und wozu sollten Wesen ihrer Art, vergänglich und klein, diese gewaltigen Kraftwerke aus Gas und Gravitation erobern?

Dann verflog dieser Moment. Er war ja nicht verloren. Er hatte ein Ziel: zurückzukehren in dieses Schiff, das seine Frau und seine Freunde beherbergte und über zehntausend andere. Er musste sie sehen und sie aus ihrer Suspension zurückholen in die Wirklichkeit.

Dann musste er mehr über diesen angeblichen Mythos herausfinden, den er noch nicht glauben wollte, den er sich nicht vorstellen konnte. Die Erde – ein Mythos? Wer erzählte so etwas, und warum tat Zemina, als nähme sie eine solche Legende ernst? Aber das fand er nur heraus, wenn er wieder auf die RAS wechselte.

»Du hast gewonnen, Zemina Paath«, gab er zu. »Hilf mir bitte, an Bord zu kommen.«

»Ja«, sagte sie matt.

Täuschte er sich, oder schwang in ihrer Stimme etwas wie Neid mit, wenn nicht sogar eine Sehnsucht, von der er nicht wusste, wer sie erfüllen könnte?

Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1)

Подняться наверх