Читать книгу Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1) - Perry Rhodan - Страница 13

Оглавление

5.

»Die Jagdhunde sprangen und wedelten«

Perry Rhodan war Zemina Paath ins Schiff gefolgt. Er hatte nicht erkennen können, wie sie es bewerkstelligte, den Firnis zu durchdringen. Das würde man später untersuchen – so bald wie möglich.

Nun war er es, der voranging. Er wählte einen Weg, der an der Kluft vorbeiführte, die er im Anflug auf das Nashadaan gesehen hatte. Der Hieb – wie und von wem auch immer erfolgt – führte beinahe dreißig Meter tief ins Schiffsinnere. Er hatte Decken, Wände, Böden gespalten, Maschinen zerstört, Leitungen und Verbindungsrohre getrennt.

Rhodan war kein unerfahrener Mann, was Schiffsschäden anging. Er hatte Raumer gesehen, nachdem sie auf Planeten abgestürzt oder von Impulskanonen und Desintegratoren getroffen worden waren. Was jedoch diese Zerstörung angerichtet hatte, wusste er nicht zu sagen. Sie mutete mechanisch an, aber die Vorstellung, es hätte tatsächlich ein überdimensionales Beil die Hülle getroffen, war zu abwegig.

Nach zwei Stunden, die er mit dem SERUN durch die Korridore und stillgelegten Antigravschächte geflogen war und sich einen Überblick verschafft hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass eine Inbetriebnahme des Schiffes grundsätzlich möglich sein müsste.

Das Schiff würde bei Weitem nicht über alle seine technischen Möglichkeiten verfügen, aber es war von dem Treffer nicht ganz außer Gefecht gesetzt. An den meisten Bruchstellen hatten rasch die Autoreparaturroutinen gegriffen, waren Aufrisse zum Weltraum von schnell aushärtendem Metallplast versiegelt, waren Schotten geschlossen, Maschinen, die außer Kontrolle zu geraten drohten, notabgeschaltet worden.

Vor dem Eingang zur Zentrale zögerte er, für Zemina Paath wohl kaum spürbar. Wer die Zentrale beherrschte, beherrschte die RAS TSCHUBAI. Und das Omniträgerschiff, dieser Prototyp der SUPERNOVA-Klasse, war ein viel zu machtvolles Instrument, um es irgendjemandem auszuliefern.

Er zog den Handschuh seines SERUNS aus und legte die bloße Hand in die Identifikationsmulde. Mit dem Zeigefinger betätigte er die Sensortaste.

Die nächsten Ereignisse liefen zu schnell ab, als dass er ihnen bewusst hätte folgen können. Die Tür öffnete ihren Energiespeicher und begann mit der Untersuchung. Das Abschaben winzigster Hautpartikel spürte er nicht. Die Tür sichtete seine DNS und die seiner Mitochondrien. Eine winzige Blutprobe wurde genommen, das Aroma seiner Haut analysiert.

Er wusste, dass Taststrahler in seinem Körper nach verborgenen Mechanismen und Implantaten fahndeten, dass die Sensorik der Tür Einblick nahm in sein Gehirnwellenmuster und die Gestaltung seines Augenhintergrundes. Die Ohrmuschel wurde vermessen und das Ergebnis mit den hinterlegten Daten verglichen.

»Lincoln«, sagte die Tür.

»Der 16. Präsident der USA«, ergänzte Rhodan.

»Norma Jeane Mortenson«, sagte die Tür.

»Marilyn Monroe.«

»Was verstrich zwischen Suzan und Michael?«

»Acht Minuten«, sagte Rhodan. Acht Minuten war seine Tochter Suzan Betty älter als sein Sohn Michael.

»Willkommen, Perry Rhodan«, sagte die Tür und beendete die personalisierte Befragung, auf die mit großer Wahrscheinlichkeit nur einer die Antworten wissen konnte: der Mensch Perry Rhodan.

Ganz zufrieden war die Tür aber noch nicht. Sie fragte: »Darf ich dich mit einer Coke begrüßen, oder mit einem Glas Heumilch?«

Rhodan warf Zemina Paath einen kurzen Blick zu, die dem Dialog verständnislos gefolgt war. »Heumilch«, sagte er. »Zwei Glas.« Jede andere Antwort hätte dazu geführt, dass die Tür ihn mit all ihren Mitteln unter ihren Schutz gestellt, seine Begleitung aber neutralisiert hätte.

»Werde ich auch etwas gefragt?«, wollte Paath wissen.

»Du weißt doch sowieso nichts«, sagte Rhodan säuerlich.

Die Tür öffnete sich. Die Zentrale lag offen vor ihnen.

*

Auch an ihren normalen Arbeitstagen war die Zentrale nie grell ausgeleuchtet gewesen. Gestern noch, dachte Rhodan. Gestern vor ein paar Jahrhunderten.

Das Nervenzentrum des Schiffes befand sich in der besonders gesicherten Zentralkugel und erstreckte sich über die Decks 15.09 bis 16.04. Der Raum war halbelliptisch angelegt. Er maß 40 Meter in der Länge wie in der Breite der flachen Rückwand, durch die Rhodan und Zemina Paath nun eintraten, und hatte eine lichte Höhe von 15 Metern, genug Platz für mehrere Galerien.

Rhodans erster Eindruck: Alles erloschen. Weder leuchtete der Hologlobus, auf den sonst alle Augen in der Zentrale schauten, noch eines der Großholos beim COMMAND-Podest. Selbstverständlich waren auch die bewegten dreidimensionalen Bilder der stillen Wasserflächen desaktiviert, über die sonst geradezu herzzerreißend wirklichkeitsgetreue Libellen geisterten.

Alle Kontursessel standen leer. Niemand hielt sich bei den Interface-Säulen auf, die den Datenaustausch dirigierten und die schweren Sessel mit Energie versorgten.

»Hou«, sagte Zemina Paath. »Hier bist du zu Hause?«

Perry Rhodan lachte. Eine Frage, die er sich so nie gestellt hatte, die er aber auch nicht hätte verneinen können. Nach all den Reisen, auf die er in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten mit dem Schiff gegangen war, den Flügen von Larhatoon zur Milchstraße oder in die Galaxien Orpleyd und Sevcooris, war das Schiff tatsächlich etwas wie eine Heimat zwischen den Sternen geworden.

Und die Zentrale mit dem Podest sein Arbeitsraum.

»Ja«, sagte er. »Hier bin ich zu Hause.« Er machte einige Schritte Richtung Podest. »Wir werden zuerst ANANSI wecken. Und dann alle anderen aus der Suspension holen.«

»Sobald das Schiff aktiviert ist«, sagte Zemina Paath, »kann der Mantel, den mein Nashadaan um dein Schiff gelegt hat, es nicht mehr ganz verhüllen.«

»Du meinst: Dieser Firnis tarnt die RAS TSCHUBAI?«

»Sicher«, sagte sie. »Der Mantel – oder Firnis – kann nur begrenzte Mengen Energie absorbieren.«

»Welche Arten von Energie?«

»Alle Arten«, sagte Paath. »Physische, hyperphysische, biochemische und mentale.«

»Mentale Energien?«

»Ausstrahlungen, die zum Beispiel für ein Bewusstsein kennzeichnend sind«, antwortete Paath.

Rhodan nickte. »Der Firnis vermag diese Strahlung zu absorbieren?«

»In geringem Maße«, sagte Paath.

Rhodan hob die Brauen. »Aber wenn viele Tausende unserer Bewusstseine aktiv sind, überfordert das den Firnis und macht uns und das Schiff anmessbar für diese Cairaner?«

»Sie verfügen über bestimmte mobile Sensorgarben. Mein Nashadaan bezeichnet sie als Mentaltaster.«

»Du meinst: über Sonden, die Bewusstseine anmessen können?«

»Bestimmte Bewusstseine, nimmt mein Nashadaan an.«

»Welche denn?«

Sie zögerte nun deutlich. »Bewusstseine wie deines«, antwortete sie dann.

»Was wäre das Besondere an meinem Bewusstsein?«

»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Möglicherweise existiert ein Zusammenhang zwischen deinem Bewusstsein und der Gerätschaft in deiner Schulter. Es ...« Sie unterbrach sich.

»Wir nennen diese Gerätschaft einen Zellaktivator. Vereinfacht gesagt, verlängert er mein Leben, indem er Alterungsprozesse stoppt. Er funktioniert nach einem technischen Prinzip, das nicht von uns entwickelt worden ist und von unseren Wissenschaftlern noch nicht ganz verstanden, geschweige denn angewendet werden konnte. Wir wissen nur, dass der Zellaktivator Hyperenergiefelder ausstrahlt, die seneszente Zellen desaktivieren und andere Körperzellen revitalisieren. Ich habe diesen Aktivator verliehen bekommen.«

Sie schien über seine Auskünfte nachzudenken.

»Du hast mir diesen Aktivator entnommen und wieder eingepflanzt«, sagte er. »Du hast ihn untersucht. Bist du mit dem Ergebnis zufrieden?«

»Ich musste sicherstellen, dass dieses Gerät keine Gefahr für mich darstellt«, versicherte sie.

»Wie hast du es untersucht?«

»Der Paau hat es analysiert.«

»Analysiert – oder auch manipuliert?«

»Dazu hatte er kein Mandat.«

Rhodan seufzte. »Das alles ist nicht, was ich eine vertrauensbildende Maßnahme nennen würde, Zemina Paath.«

Sie starrte ins Leere.

»Gib mir etwas, das es mir ermöglicht, dir zu vertrauen«, forderte er. »Die Lage ist für mich unübersichtlich genug. Ich kann dich nicht an Bord meines Schiffes dulden, wenn du ein unkalkulierbares Risiko bist.«

»Ich gefährde dein Schiff nicht«, sagte sie. »Ich suche doch selbst Schutz.«

»Schutz wovor?«, fragte er scharf. »Vor wem?«

»Ich weiß es nicht.«

Perry Rhodan ließ ab von ihr. Dies war die Zentrale der RAS TSCHUBAI. Ein Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden sollten. Stattdessen drehte er sich mit Zemina Paath im Kreis ihrer beider Unwissenheit. Das musste aufhören. Er brauchte handfeste Informationen. »Diese mobilen Sensorgarben, von denen du gesprochen hast, diese Mentalsonden und ihre Kapazitäten – sind das Theorien, oder haben du und dein Nashadaan diese Geräte in Aktion gesehen?«

»Mein Nashadaan hat keine dieser mobilen Mentaltaster eingefangen. Es ist bislang nicht notwendig gewesen. Aber wir sind sicher, dass sie zu diesem Zweck eingesetzt sind.«

»Ich werde jetzt die Bordsemitronik wecken«, kündigte Rhodan an.

*

Oberhalb der Zentrale lag ein Saal, in dessen Mitte sich eine acht Meter durchmessenden Kugel aus transparentem Material befand.

Normalerweise schwebte diese Sphäre. Nun lag sie in einer kreisförmigen und nicht mehr als zwanzig Zentimeter tiefen Mulde. Rhodan wusste, dass die Kugel magnetisiert war, um von der Mulde in Position gehalten zu werden. Zusätzlich hielten vier Spangen, die mit den Rändern der Senke verbunden waren, die transparente Kugel fest.

Das Innere der Sphäre war von unzähligen feinen Fäden durchzogen, die millionenfach miteinander verknüpft waren. An den Verknüpfungspunkten hingen tropfenförmige, mattweiß schimmernde Gebilde.

Im Zentrum der Sphäre lag eine Kugel, die keinen ganzen Meter durchmaß. Darin lebte, von einem eigenen Erhaltungssystem versorgt, die egogenetisch-bioplastische Komponente der Semitronik, das Zellplasma. Dieses Plasma war eine besondere posbische Züchtung mit hochregenerativen Fähigkeiten.

ANANSI hatte Zugriff auf das gesamte und vielfach vernetzte Computerverbundsystem des Schiffes und seiner Beiboote. ANANSIS ureigene Rechnertechnik aber war in gewisser Weise nicht von dieser Welt: Sie befand sich in einer selbststabilisierenden Halbraumblase, die zwar von einem hoch entwickelten HAWK V erzeugt worden war, zu ihrer Aufrechterhaltung aber keiner weiteren Energiezufuhr bedurfte.

Jedenfalls normalerweise nicht.

Was jedoch auf dem Rückflug durch das chaotemporale Gezeitenfeld um Wanderer geschehen war, wusste Rhodan nicht.

Die in den Halbraum ausgelagerte Rechnertechnik ANANSIS war nicht festmateriell, sondern bestand aus Hyperfeldern. Möglicherweise war diese Feldarchitektur während der Passage beschädigt worden.

Im Notfall war das Schiff selbstverständlich auch ohne ANANSI manövrierfähig. Aber um das hochkomplexe System der RAS TSCHUBAI und seine technischen Möglichkeiten auszuschöpfen, war und blieb die Semitronik unverzichtbar.

Perry Rhodan gehörte zu den Aktivierungsautorisierten, den AkAs der Semitronik. Vorgeschaltete positronische Routinen überprüften die Berechtigung Rhodans binnen eines Lidschlags noch einmal. Perry Rhodan war nicht die einzige Person, die als AkA die Semitronik und das Omniträgerschiff starten konnte. Neben dem Residenten der Liga Freier Galaktiker und einiger ihrer Minister sowie dem Flottenoberkommandierenden der Liga-Flotte und einiger seiner Stellvertreter gehörten Atlan, Gucky und Homer G. Adams zu diesem Personenkreis.

Was ANANSI anging, kamen die an Bord befindlichen Betreuer dazu sowie einige ausgewählte Positroniker der Liga und der Union Positronisch-Biologischer Zivilisationen.

»Was kann ich für dich tun, Perry Rhodan?«, fragte die Positronik.

»Wir aktivieren ANANSI«, befahl er.

Beinahe augenblicklich zeigte sich im Inneren der transparenten Sphäre der Umriss eines humanoiden Körpers.

Mehr als dieser Umriss aber auch nicht.

Rhodan meinte zu spüren, wie sein Herzschlag aussetzte. Was, wenn ANANSI nicht...?

Dann leuchteten die zahllosen, tautropfenartigen Verknüpfungspunkte plötzlich wie Diamanten, die ein Lichtstrahl trifft, in allen Farben auf.

ANANSI erschien.

*

ANANSI saß. Sie war sichtbar gealtert – was immer dies bei einer Semitronik bedeuten mochte. Ihre Haut war blass und blau und durchscheinend, aber ihr Gesicht war nicht mehr das eines Kindes oder einer Jugendlichen, sondern das Antlitz einer Frau. Die Augen dominierten wie eh und je, doch die Züge waren reifer, eigentümlicher, ausdrucksstärker.

Sie fixierte Perry Rhodan. »Wie geht es dir, Perry?«

»Es geht mir gut, danke. Und dir, ANANSI?«

»Es geht mir gut«, sagte die Semitronik. »Der Weltenbrand ... er ist gelöscht?«

ANANSI war eine künstliche Intelligenz, bei deren Erschaffung terranische, siganesische, swoonsche, ferronische und nicht zuletzt posbische Spitzentechnik zum Einsatz gekommen war. Dennoch war an ihrer Erscheinung nichts Zusammengesetztes. Sie war eines, sie war ganz.

Rhodan überlegte. An den Weltenbrand hatte er nicht einen Gedanken verschwendet, seit er aufgewacht war. Die Veränderung der Milchstraße, die drohende Auslöschung allen Lebens. Rhodan horchte in sich hinein. Er presste die Fingerkuppen gegen seine Oberschenkel. Alles fühlte sich normal an. Keine brennende Qual zu spüren.

»Ich spüre den Weltenbrand nicht mehr. Was ist mit dem Schiff?«

»Das Schiff ist beschädigt«, sagte sie ruhig. »Ich kümmere mich darum. Die Besatzung ist noch in Suspension. Soll das so bleiben?«

»Nein. Leite unverzüglich die Rematerialisierung aller Besatzungsmitglieder ein. Einsatzbereitschaft für alle medotechnischen Roboter. Achte auf unsere Umgebung. Möglicherweise werden wir angegriffen.«

»Von wem?«

»Einheiten der sogenannten Cairaner. Bauweise und technische Kompetenzen unbekannt. Sie operieren in der Milchstraße und im Halo, mindestens mit ihren Sonden, vielleicht auch mit Raumschiffen.«

»Ich erkundige mich«, sagte ANANSI. »Die Hyperfunkabteilung sucht seit diesem Moment die bekannten Frequenzen ab. Ich werde eine Weile brauchen, bevor ich dir verlässliche Ergebnisse mitteilen kann. Ich stelle fest: Wir haben durch die Passage Zeit verloren.«

»Welches Datum schreibt man in der Milchstraße?«

»Den 8. September 2045 Neuer Galaktischer Zeitrechnung.«

Also doch.

Fast fünfhundert Jahre.

Rhodan schloss kurz die Augen. »Wir haben einen Gast an Bord«, sagte Rhodan. »Sie heißt Zemina Paath.«

»Impliziert Gast eine besondere, bevorzugende Behandlung?«

Rhodan warf Paath einen Blick zu. Sie starrte die Gestalt in der Semitronik an.

»Behalte unseren Gast bitte im Auge«, sagte Rhodan. »Sollte sie feindselig agieren, setze sie außer Gefecht. Wir müssen auch ein Objekt im Auge behalten, das sie mit an Bord gebracht hat. Sie nennt es ihren Koffer oder auch ihren Paau. Er befindet sich in dem Alkovensaal, in dem ich aufgewacht bin.«

»Ich schicke TARAS dorthin« sagte ANANSI. Eine Tür öffnete sich, eine TARA-IX-Inside-Maschine schwebte herein und bezog in einigen Metern Abstand zu Zemina Paath Stellung. Drei ihrer vier Waffenarme hingen hinab; der vierte Arm war angehoben, sein Abstrahlprojektionsfeld auf Zemina Paath gerichtet. Den Lichtsignalen nach war er auf Paralysemodus geschaltet.

Auch die anderen, von der Semitronik beauftragten Maschinen würden längst unterwegs sein.

Wie hieß es doch in Oma Elis Märchen? Die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen auf und wedelten.

Dornröschen mit der blauen Haut und den dunklen Augen mochte ein wenig gealtert sein, aber sie war aus ihrem Jahrhundertschlaf erwacht.

*

Perry Rhodan hatte Zemina Paath gebeten, mit dem Roboter zu gehen und vor der Tür zu warten. ANANSI werde ihr ein Quartier zuweisen, in das sie sich später zurückziehen konnte. Er meinte, Angst in ihren Augen aufflackern zu sehen.

»Niemand nimmt dich gefangen«, versprach er. »Aber ich brauche im Moment das Gefühl, den Rücken frei zu haben.«

»Du wirst mich brauchen«, sagte sie. Ihre fast blendend blauen Augen schienen noch stärker aufzuleuchten. Dann folgte sie dem TARA-Inside, der sie, lautlos schwebend und mit seinen 1,90 Metern ebenso groß wie sie, zum Ausgang führte.

»Ich leite die Rematerialisierung und damit die Beendigung der Suspension ein«, teilte ANANSI mit. »Der Koffer deines Gastes ist umstellt. Schutzschirmprojektoren sind in Position gebracht. Nötigenfalls isoliere ich das Objekt mit einem HÜ-Schirm. Die Paratrontechnik ist noch nicht wieder einsatzbereit.«

»Was ist geschehen?«

»Die Passage durch das chaotemporale Gezeitenfeld hat sich als sehr viel problematischer erwiesen denn der Hinflug. Ich habe noch nicht ganz verstanden, wie sich Wanderer entfernt hat. Entsprechende Datensätze sind gespeichert, soweit sie für mich anmessbar waren. Ich möchte sie so bald wie möglich mit Sichu Dorksteiger und den anderen Wissenschaftlern an Bord diskutieren.

Meine Theorie ist vorläufig diese: Wanderer hat mit diesem Universum gebrochen. Die Entfernung des Kunstplaneten hat zu einer Fraktur zwischen unserem kosmischen Bezugssystem und demjenigen geführt, das Wanderer eigen ist. Die RAS TSCHUBAI ist in die raumzeitlichen und hyperräumlichen Turbulenzen geraten, die durch diese Fraktur erzeugt worden sind.«

»Absichtlich erzeugt?«

»Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht«, sagte ANANSI. »Ich gehe davon aus, dass der problematische raumzeitliche Kontext zu einer Überlastung des Systems Wanderer geführt hat. Der Kunstplanet konnte uns nicht in Schutz nehmen.«

»Ist Wanderer zerstört worden?«

»Nein«, sagte ANANSI.

»Können wir Kontakt aufnehmen?«

»Nein. Wie gesagt: Soweit ich sehe, ist Wanderer nicht mehr Teil dieses Universums.«

»Was ist geschehen, nachdem du die RAS TSCHUBAI aus diesen Turbulenzen gesteuert hattest?«

»Es ging mir nicht gut«, sagte ANANSI. Rhodan spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. »Ich konnte das Schiff nicht aus eigener Kraft stabilisieren. Das Schiff und ich erlebten einen Hyperchronschock.«

»Was heißt das?«

»Eine spontane und asynchrone Separierung differenzdimensionaler Energieprozeduren, vereinfacht gesagt.«

»Versuche es bitte noch ein wenig einfacher.«

»Es passte nichts mehr zusammen«, sagte ANANSI. »Ich passte nicht mehr zusammen. Das Schiff und ich drohten zu zerreißen.«

Rhodan nickte. Es würde eine der nächsten und womöglich dringlichsten Aufgaben der Bordingenieure sein, die beinahe eingetretene Katastrophe zu analysieren und richtige Schlüsse daraus zu ziehen, vor allem nach Möglichkeit sicherzustellen, dass sich ein vergleichbares Ereignis nicht mehr wiederholte.

»Hast du diese Krise allein bewältigen können?«, fragte er. »Oder hattest du Hilfe?«

»Soweit ich die Ereignisse rekonstruieren kann, erfuhr ich Hilfe«, sagte ANANSI.

»Von dem Objekt, das in der Landebucht der RALF MARTEN liegt?«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

Perry Rhodan atmete auf. Zemina Paaths Darstellung war also wenigstens nicht ganz frei erfunden. Es könnte durchaus sein, dass man ihr und ihrem Nashadaan einiges zu verdanken hatte. Vielleicht sogar alles.

»Ich habe vier TARA-X-Trägermaschinen knapp unterhalb der Landebucht der RALF MARTEN beordert, aber in Bereitschaftsmodus versetzt«, informierte ANANSI. »Ich interpretiere den Flugkörper in der Landebucht vorläufig und in Anbetracht der geleisteten Hilfestellung nicht als feindlich. Bist du einverstanden?«

Rhodan nickte. Die Baureihe TARA-X-T stellte die kampfstärksten Roboter, über die sein Schiff verfügte. Eigentlich stellte jedes dieser 20 Meter durchmessenden Kampfensembles eine eigene Robotarmee dar. »Behalte aber auch den weiteren Raum im Auge. Treib die Reparaturen voran. Ich gehe in die Suspensionshalle. Halt mich über alles andere auf dem Laufenden.«

*

Perry Rhodan hatte Zemina Paath gebeten, ihn zurück in den Suspensionssaal zu begleiten. Er wollte sehen, wie sie auf seine Besatzungsmitglieder reagierte und wie die Besatzungsmitglieder auf diesen unverhofften Gast.

Sollte der Paau für Probleme sorgen, war Paath eventuell die einzige Person, die diese Probleme ohne den Einsatz von Gewalt beheben konnte.

Rhodan erlebte, wie die anderen endlich aus den Suspensions-Alkoven stiegen. Atlan, der weißhaarige Arkonide, war sofort präsent. Er hatte seine Augen kurz auf Zemina Paath gerichtet, dann Perry Rhodan einen Blick zugeworfen, der eine einzige stumme Frage gewesen war. Rhodan hatte kaum merklich genickt. Der hochgewachsene Arkoniden strich über seine Kombination, als gelte es, Falten zu glätten, machte einige scheinbar ziellose Schritte, die aber doch dafür sorgten, dass sich der Gast nun zwischen ihm und Rhodan befand.

Sichus Blick auf Paath geriet flüchtiger. Sie wandte sich von ihr und Rhodan ab und sprach leise mit Farye, Rhodans Enkelin, die sich dehnte und reckte und sogar gähnte wie nach einem wirklichen Schlaf, worüber sie selbst kurz lachen musste.

Gut gemacht, lobte Rhodan im Stillen. Seine Frau wollte der unbekannten Person keinen Hinweis geben auf die Beziehung, die zwischen ihr, Sichu, und ihm selbst bestand, und nahm auch Farye aus dem möglichen Fokus.

Cascard Holonder massierte seine spiegelnde Glatze, ohne Zemina Paath aus den Augen zu lassen. Magebe Lenski, mit 1,76 Körpergröße alles andere als klein gewachsen, reichte dem Ertruser eben bis zum Rippenbogen.

Die anderen Mitglieder der Zentralebesatzung gruppierten sich um Holonder, der sie alle überragte. Atani Kekuku, der Zweite Offizier, starrte Paath unverhohlen neugierig an.

Briony Legh und Andris Kantweinen, die beiden Piloten, redeten gedämpft miteinander. Beide standen gespannt und aufmerksam; auch ihnen war klar, dass etwas Unerwartetes und Dramatisches geschehen sein musste.

Lit Olwar schlug sich mit den flachen Händen auf die gewaltige, tonnenförmige Brust, als müsste er die großen Lungen neu in Gang setzen. Der Chef der Funk- und Ortungsabteilung stammte von Imart, seine Vorfahren hatten sich an die andersartigen Luftverhältnisse dort angepasst.

Valentin Taru, für die Verteidigung des Schiffes zuständig, fuhr sich mit den Fingern durch den grauen, gekräuselten Bart.

Shalva Galaktion Shengelaia, dessen klapperdürre Gestalt wie immer unterernährt aussah, strich sich einige Strähnen seines grünen Haars aus der Stirn. Er war der Erste, der etwas laut sagte. »Was ist mit ANANSI?«

»ANANSI ist wieder in Ordnung.«

Der Kamashite stutzte kurz, dann nickte er. Ihm dürfte das wieder aufgefallen sein; es gab ihm Stoff zum Nachdenken.

Am wichtigsten waren Rhodan die Reaktionen von Gucky und Donn Yaradua. Die beiden Parabegabten hatten, daran war nicht zu zweifeln, längst ihre Kräfte auf Paath gerichtet und versuchten, sie zu sondieren.

Aus dem Augenwinkel nahm Rhodan wahr, dass Zemina Paath gerade herzhaft gähnte.

Yaradua bemerkte Rhodans Blick, nickte knapp und hob leicht die Faust.

Ich habe sie im Griff, deutete Rhodan die Gebärde.

Und der Ilt?

In den vielen Jahrhunderten, die Rhodan den körperlich kleinen Multimutanten nun kannte, hatte er gelernt, dessen Intuition zu vertrauen. Gucky war eines der mächtigsten Lebewesen, die Rhodan kannte, zugleich einer der besten Freunde, die er sich vorstellen konnte. Ironisch nannte Gucky sich den »Retter des Universums«, er liebte es nach all der Zeit immer noch, kindliche Scherze zu machen. Und er fand schnell Kontakt.

Es war nicht nur einmal vorgekommen, dass Gucky ein Gegenüber durch seine überfallartige Zuwendung und seinen einzigartigen Charme für sich eingenommen und schließlich für die Menschheit und ihre Sache gewonnen hatte.

Sogar zu einem Meister der Insel, in Rhodans Augen die unbarmherzigsten Tyrannen, die Andromeda je gesehen hatte, war es ihm gelungen, einen Draht zu finden, wie man in den alten Zeiten gesagt hätte.

Aber das Gesicht des Ilts, das Rhodan längst zu lesen gelernt hatte wie das eines Menschen, blieb maskenhaft starr. Gucky schien ratlos.

Und das beunruhigte Rhodan durchaus.

»Wie lange waren wir in Suspension?«, klang Atlans Stimme durch den Saal.

»In der Milchstraße schreibt man den 8. September 2045 NGZ«, sagte Rhodan.

»493 Jahre«, sagte Atlan, ohne zu zögern.

Einige Gesichter wurden blass. Sichus Hand krallte sich an Faryes Schultern fest. Donn Yaradua stöhnte leise auf. Rhodan kannte den Mutanten längst nicht so lange und so gut wie Gucky. Yaradua hatte sich entschieden, die Mission zum Kunstplaneten Wanderer mitzumachen. Rhodan hatte das erleichtert, aber er hatte keine Ahnung, wen oder was Yaradua deswegen hatte zurücklassen müssen.

»Seit wann bist du wach?«, fragte Atlan.

»Erst einige Stunden«, sagte Rhodan. Atlan sah für einen Moment wie in unbestimmte Ferne. Eine Konferenz mit seinem Extrasinn, vermutete Rhodan. Der Logiksektor wird nach weiteren Informationen verlangen.

Und so kam es auch. »Ist das Schiff noch in unserer Hand?«, fragte Atlan.

»Ja.«

»Die TARAS sind einsatzbereit?«

Rhodan nickte. Der Sinn der Frage war ihm klar: Wenn die unbekannte Frau eine Gefahr für die im Saal Versammelten wäre, hätte Rhodan oder hätte ANANSI Kampfmaschinen in den Einsatz beordert.

Es sei denn, die TARAS wären aus irgendeinem Grund außer Betrieb.

»Gibst du uns einen ersten Lageüberblick?«, fragte Atlan.

»Wir befinden uns in etwa dort, wo wir den Kunstplaneten Wanderer verlassen haben«, sagte Perry Rhodan. »Also im Halo der Milchstraße. Wir sind allein, aber wir sind nicht völlig außer Gefahr. Es besteht ein gewisses, aber noch nicht unmittelbares Risiko eines Angriffs.«

»Und wer wäre in diesem Fall unser Konfliktpartner?«, fragte Atlan mit scheinbar nur mildem Interesse.

»In der Milchstraße operieren einige uns unbekannte Kräfte«, sagte Rhodan. »Kräfte, deren technische Kompetenzen wir bisher nicht einschätzen können, die uns aber nicht freundlich gesinnt sein müssen.«

»Ist die RAS gefechtsklar und vollständig manövrierfähig?«, fragte Cascard Holonder.

»Das überprüft ANANSI gerade«, sagte Rhodan. »Das Schiff ist beschädigt. ANANSI sichtet diese Schäden und wird vordringliche Reparaturen bereits in Angriff genommen haben.«

»Und was ist das?« Atlan wies auf den Paau, der sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatte.

Zwei TARAS standen neben ihm, reglos wie abstrakte Skulpturen. Vier faustgroße HÜ-Schirmprojektoren lagen in nächster Nähe; Statussensoren blinkten grün: Der Schirm konnte jederzeit aktiviert werden. Der Paau aber stand unbewegt – metallisch schimmernd und fernblau.

»Das ist ein Koffer«, sagte Rhodan.

»Und wann«, fragte Atlan, »stellst du uns den dazugehörigen Gast vor?« Er sah Paath mit einem kalten Lächeln an.

»Bald«, sagte Rhodan. »Wir treffen uns in einer Stunde im Konferenzraum.«

Atlan hob skeptisch die Brauen. »Warum erst so spät?«

»Ich habe noch ein kurzes Rendezvous«, sagte Rhodan. »Mit Sichu. Und mit Matho Thoveno.«

*

Der TARA hatte Zemina Paath in ihr neues Quartier gebracht. Und der Paau – siehe da – war ihr anstandslos dorthin gefolgt, auf einem Antigravfeld schwebend, und hatte sich, wie ANANSI berichtete, im selben Raum wie sie niedergelassen.

Die TARAS waren ihm eigenständig gefolgt. Das Quartett der HÜ-Schirmfeldprojektoren schwebte hinter ihnen her.

Perry Rhodan hatte den Chefmediker zu sich gebeten. Nach der Untersuchung bestätigte Thoveno, dass ein chirurgischer Eingriff im Schulterbereich vorgenommen worden war – mikroinvasiv und hoch professionell; die Operationswunde war exzellent versorgt. Offenbar war der Chip bei dieser Operation entfernt und später wieder implantiert worden.

Sichu Dorksteiger konnte allerdings keinerlei Änderung an dem Zellaktivator feststellen. Sie hantierte mit technischen Geräten, die sie teilweise selbst konstruiert hatte. »Alles wie bisher«, sagte sie abschließend.

Rhodan und Dorksteiger begaben sich in den Konferenzraum. Cascard Holonder, Farye, Gucky und Donn Yaradua warteten bereits.

Im selben Augenblick, als Atlan eintrat, erkannte Rhodan, dass es kein einfaches Gespräch werden würde.

Das schien auch Gucky nicht anders zu erwarten. Der Ilt duckte sich und verschwand förmlich in seinem Pneumosessel. Donn Yaradua, der neben ihm saß und die gespreizten Hände auf die Tischplatte gelegt hielt, inspizierte außerordentlich aufmerksam seine Fingernägel.

Rhodan atmete das schwache, angenehm herbe Aroma des Tisches aus rötlichem Holz ein. Birnbaum, wusste er. Belastbar und sehr selten. Wie eine gute Freundschaft.

Der Arkonide sah sich kurz um.

Rhodan bemerkte die Feuchtigkeit in Atlans Augen. In den Winkeln deuteten sich Tränen an – ein Zeichen, dass der Arkonide stark erregt war.

Atlan wies mit dem Kinn in Richtung Sichu und Farye und fragte schroff: »Wird das eine offizielle Sitzung, oder tagt der Rhodan-Familienrat?«

Farye warf Rhodan einen verwunderten Blick zu.

»Die Mission Wanderer ist zu Ende«, stellte Atlan fest. »Ihr Missionsleiter könnte entlassen werden, bleibt aber allem Anschein nach weiter in der Verantwortung?«

»Ja«, sagte Perry Rhodan kälter, als er es beabsichtigt hatte. »Es sei denn, du möchtest das Kommando übernehmen?«

Atlan winkte ab. Er setzte sich neben Holonder und kniff die Augen zusammen

Erneut eine Konferenz mit dem Logiksektor, vermutete Rhodan. »Du bist wütend auf mich?«, fragte er.

»Ich bin nicht wütend. Ich bin zornig«, korrigierte Atlan. »Zorn ist gerecht. Warum hast du mich nicht früher aus der Suspension geholt? Und sag jetzt nicht: Ich hatte meine Gründe.«

»Ich hatte meine Gründe«, sagte Rhodan und deutete ein Lächeln an. »Komm schon, gute Gründe.«

»Als da wären?«

»Ich brauchte Informationen über Zemina Paath, über das Schiff, über die Situation insgesamt. Ich wollte ausschließen, dass die Rückholung aus der Suspension zum Risiko für euch wird. Oder für das Schiff. Paath machte Andeutungen, dass es zu Komplikationen kommen könnte, sobald ihr aus der Suspension geholt seid.«

»Diese Komplikationen kann sie gerne haben«, fauchte Atlan. »So viel sie will.«

»Und ich wollte wissen, was Zemina Paath über die Milchstraße weiß«, fuhr Rhodan unbeeindruckt fort.

»Was sie weiß – oder was sie zu wissen behauptet?«

Rhodan zuckte mit den Achseln.

»Cairanische Epoche!«, rief Atlan. »Ladhonen. Zentralgalaktische Festung. Und dann dieses widersinnige Gefasel über Terra. Das sind doch alles nur leere Worte, Parolen, Behauptungen. Wir wissen gar nichts. Hast du sie nach Arkon gefragt? Nach dem Galaktikum? Nach der USO?«

Rhodan schüttelte langsam den Kopf. »Das habe ich nicht. Aber nichts hindert dich, diese Fragen nachzuholen.«

»Ich traue ihr nicht«, sagte Atlan.

»Ach was!« Rhodan lachte auf. »Glaubst du, ich traue ihr? Irgendjemand traut ihr?«

Atlan zeigte keine Reaktion. Sein Blick war düster.

»Gucky? Donn?«

Gucky schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ihre Gedanken sind mir nicht zugänglich.« Das war eine harte Aussage für den besten Telepathen, den Rhodan kannte. Wenn Gucky die Gedanken nicht erfassen konnte ... »Es ist keine Mentalstabilisierung, jedenfalls keine, wie wir sie kennen. Ihre mentalen Prozesse sind gewissermaßen chiffriert. Und mir fehlt der Schlüssel.« Er blickte Yaradua auffordernd an.

»Was ihren Metabolismus angeht, kann ich nichts Auffälliges feststellen«, sagte Yaradua. »Sie ist kein Mensch, definitiv nicht. Aber die Funktionseinheiten ihres Körpers weichen nicht nennenswert von vergleichbaren biologischen Strukturen anderer humanoider Lebensformen ab. Sie atmet Sauerstoff, betreibt Stoffwechsel und so weiter.«

Yaradua war Metabolist. Dank seiner Paragabe vermochte er, auf die biochemischen Prozesse eines Lebewesens zuzugreifen und sie zu manipulieren. So konnte er Müdigkeit, Schläfrigkeit, Hunger, Durst und so weiter auslösen, Gefühle aller Art generieren und die Aufnahme von Atemgas verhindern oder optimieren. In letzter Zeit hatte er überdies gelernt, seine Gabe zunehmend sicherer zur Beschleunigung körpereigener Heilprozesse einzusetzen.

»Sie wäre mithin nicht immun gegen Zugriff von deiner Seite?«, fragte Atlan nach.

»Ich denke, nicht. Jedenfalls konnte ich ihr einen kleinen Schub Müdigkeit eingeben. Habt ihr nicht gesehen, wie sie gegähnt hat?«

»Immerhin«, sagte Atlan. »Und ihr sogenannter Koffer?«

»Der ist ohne jedes Lebenszeichen«, sagte Yaradua.

»Keine mentalen Aktivitäten«, bestätigte Gucky. »Allerdings bekomme ich keinen telekinetischen Zugriff auf sein Inneres.« Auch das war verwirrend; mit der Kraft seiner Gedanken konnte Gucky sonst buchstäblich alles bewegen.

Für einen Moment verfielen alle in Schweigen; es war, als hinge jeder seinen eigenen Gedanken nach oder als hätten Geist und Körper nach der Suspension noch nicht wieder zusammengefunden. Rhodan war erleichtert, dass in Zukunft eine Entmaterialisierung im Falle eines Hypertrans-Progressorflugs nicht mehr notwendig sein würde. Die in die Hülle der RAS TSCHUBAI eingegangene Eiris machte die Suspension überflüssig.

Und zu einer Passage wie jene durch das chaotemporale Gezeitenfeld würde sie hoffentlich nie mehr gezwungen sein.

Rhodan fuhr hoch, als Holonder seinen wuchtigen Körper aus dem Sessel stemmte. Andere folgten. Wie nach einer stummen Vereinbarung verließen bald darauf alle anderen Teilnehmer den Konferenzraum, der sich zwischen der Zentrale und den Quartieren der Schiffsführung befand.

Zurück blieben nur Perry Rhodan und Atlan.

Atlan stand auf und orderte von der Versorgungssäule einen Kaffee. »Du auch?«, fragte er mit einem Blick über die Schulter Rhodan, der am Tisch sitzen geblieben war.

»Ja. Danke.« Rhodan nahm das Friedensangebot an.

Atlan fasste das Tablett mit den beiden Tassen, der Schale mit weißem und braunem Zucker und dem Milchkännchen von der Präsentationsfläche der Versorgungssäule und setzte alles auf dem Tisch ab. »Birnenholz, nicht wahr?«, fragte Atlan und legte die Handfläche fast genießerisch auf die rötlich schimmernde Platte.

»Ja«, sagte Rhodan. Er goss Milch ein, nahm aber keinen Zucker.

»Immer noch der alte Barbar«, bemerkte Atlan. »Milch im Kaffee!«

»Alte Laster sind langlebig.«

»Hm«, machte Atlan. Er führte die Tasse mit beiden Händen an den Mund und nippte von dem dampfenden Getränk. »Ich habe keine Ahnung, wer du bist«, sagte er und schaute Rhodan über den Rand des Gefäßes hinweg in die Augen. »Sie kann dich manipuliert haben. Sie kann dich ausgetauscht habe.«

»Das Schiff hat mich akzeptiert; ANANSI hat mich akzeptiert.«

»Ach komm schon.« Atlan nippte wieder. »So ein Schiff lässt sich übertölpeln. So eine Semitronik lässt sich übertölpeln. Wie viele Schiffe hast du dir durch List und Tücke und gefälschte arkonidisch-imperiale Flugführerscheine angeeignet?«

»Gar nicht so viele«, verteidigte sich Rhodan. »Würde es dir helfen, wenn ich aus dem Nähkästchen unserer gemeinsamen Erinnerungen plaudere? Das Wasserlied, das du mir damals auf Hellgate vorgesungen hast? Deine Worte, als ich sie aus dem Hangar der CREST III dem All übergeben habe?«

»Lass dieses Nähkästchen geschlossen«, sagte Atlan, nicht mehr ganz so verstimmt. Er seufzte. »Wahrscheinlich muss ich das Risiko eingehen, dir zu glauben. Obwohl ich deine Vorgehensweise wie üblich leichtfertig finde.«

»Um nicht zu sagen: idiotisch.« Rhodan grinste.

»Um dies nicht zu sagen.« Atlan grinste zurück. »Man bemüht sich ja um eine gewisse Etikette.« Er setzte die Tasse ab. »Also: Was machen wir jetzt?«

»Wir fliegen in die Milchstraße, schauen, ob Bully in seiner Festung belagert wird, und hauen ihn raus.«

»Ja«, sagte Atlan und neigte den Kopf, als lauschte er andächtig dem Kommentar seines Extrasinns. »Klingt für uns nach einem guten Plan, Terraner.«

»Freut mich einfachen Bürgerssohn immer, wenn ich bei Hofe derer von Gonozal Eindruck schinden kann.« Rhodan setzte die Tasse ab.

*

In der Zentrale trafen beinahe im Minutentakt neue Meldungen aus den verschiedenen Abteilungen ein; mehr und mehr Funktionen des Schiffes waren wiederhergestellt.

Die Rematerialisierung der Suspendierten war absolut reibungslos verlaufen.

Allerdings würden sie die erschreckenden Informationen erst einmal verarbeiten müssen. Auch die größten technischen Probleme blieben vorläufig unbehoben. Dass an einen Start mit dem Hypertrans-Progressorantrieb nicht zu denken war, war dabei Rhodans geringste Sorge. Für den Flug zur Milchstraße genügte der normale Librotronantrieb mit seiner Überlichtkomponente allemal; die Galaxis war im Linearflug gut erreichbar.

Die vier Aagenfelt-Blitz-Projektoren waren noch nicht wieder einsatzbereit; damit war die RAS TSCHUBAI einer wesentlichen Komponente ihres Offensivwaffenensembles beraubt.

Auch die Aagenfelt-Generatoren, die sonst eine Aagenfelt-Barriere um das Schiff legen konnten, blieben in Reparatur. Schlimmer noch: Die Hyperenergieingenieure konnten für eine restlos verlässliche Arbeit der 36 Paratronkonverter des Schiffes nicht garantieren. Damit stand infrage, ob man einen schützenden Paratronschirm aktivieren konnte oder ob es möglich war, einen Paros-Schattenschirm zu errichten.

Die gesamte Paratrontechnologie des Schiffes litt unter einer nie da gewesenen Störanfälligkeit. So würde auch mit den Paratronwerfern zunächst nicht zu rechnen sein.

Im Angesicht einer drohenden Feindberührung mit Einheiten, deren waffentechnische Möglichkeiten man nicht ansatzweise kalkulieren konnte, waren das keine ermutigenden Nachrichten.

Andererseits war das Schiff eventuellen Angreifern nicht schutzlos ausgeliefert: Alle 216 Multivariablen Hochenergiegeschütze waren ebenso einsatzbereit wie die Hyperpulswerfer; die etwa 70.000 Raumtorpedos sowieso. Dazu kamen die Beiboote des riesigen Raumschiffs: die verbliebenen sechs MARS-Kreuzer, jeder mit seinem Durchmesser von 500 Metern ein mächtiges Kampfschiff, die 240 PHOBOS- und DEIMOS-Korvetten, die über 500 Space-Jets und über Hunderte der schnellen und wendigen HALLEY-Raumjäger, von denen jeder einzelne erhebliche Kampfkraft entfalten konnte. Ob sie im Ernstfall für alle Beiboote genügend Besatzungsmitglieder aufbieten könnten, musste sich zeigen.

Die RAS TSCHUBAI war nicht nur ein Raumschiff – sie war die mobile Basis für einen kompletten Kampfverband, geradezu eine eigene Flotte.

Nur, dass wir nicht wissen, welche andere Flotte uns entgegentreten wird, dachte Rhodan. Wir hängen fest und warten.

Sichu Dorksteiger betrat das COMMAND-Podest. Sie wirkte nach nunmehr fast vierzehn Stunden pausenloser Arbeit erschöpft.

»ANANSI empfängt Millionen Hyperfunksprüche«, berichtete sie. »Immer wieder ist von den Cairanern die Rede. Von den Ladhonen. Von Bull, der Zentralgalaktischen Festung. Dein Gast könnte all dies also per Hyperfunk aufgeschnappt haben, um sich als Informantin aufzuspielen.«

»Was vergeben wir uns, wenn wir für diesmal annehmen, dass sie die Wahrheit spricht?«, entgegnete Rhodan.

»Was vergeben wir uns, wenn wir nicht vergessen, dass sie lügen könnte?«

Er nickte und lächelte ihr zu.

Sie strich sich müde eine Strähne aus der Stirn. »Ich mache dann mal weiter.«

Er stand auf. »Cascard? Übernimm bitte das Kommando für eine Weile. Ich lege mich ein wenig hin.«

»Allein?«, fragte Sichu.

»Man wird sehen.«

*

Etwa 30 Minuten später schloss sich die Tür hinter Sichu Dorksteiger, die in sein Quartier getreten war. Rhodan hatte es sich auf der Liege bequem gemacht, die Hände im Nacken verschränkt. Vor seinen Augen schwebte und drehte sich der Würfel mit den Porträts seiner Kinder: Thomas, Suzan Betty und Michael, Eirene, Kantiran, Delorian.

Wo war Michael? Wo Kantiran? Wie mochte es Delorian gehen, dort, im isolierten Neuroversum? Und wie Eirene, die hinter die Materiequellen hatte gehen wollen?

Von der sechsten Fläche lächelte Farye, ziemlich keck, geradezu verschwenderisch; hinter ihr sah man das kleine Porträt einer anderen Frau: Yanid – die Tochter, die er nie kennengelernt hatte und die die Mutter seiner Enkelin war.

»Störe ich?«, fragte Sichu.

Mit Sichu hatte er vor etwas über zehn Jahren – oder vor etwas über fünfhundert Jahren – einen Ehevertrag geschlossen; der Vertrag hatte in der Rubrik Nachkommen im schönsten Bürokrateninterkosmo festgehalten: Diesbezüglich keine ausdrücklichen Vereinbarungen.

»Nein. Du störst nicht«, sagte er, wie tief ins Nachdenken über ein uraltes Menschheitsrätsel versunken.

Sie streifte die Schuhe ab und legte sich neben ihn. »Whow! Im Bett mit dem Retter einer ganzen Galaxis. Machst du mir ein bisschen mehr Platz?«

Rhodan rückte eine Handbreit zur Seite, aber nicht so weit, dass er ihre Körperwärme nicht mehr gespürt hätte. Er stupste den Würfel mit einem Zeigefinger an; der Würfel folgte dem Impuls, schwebte zurück an seinen Arbeitstisch und landete dort sanft und lautlos.

Beide blickten zur Zimmerdecke auf.

»So eine Decke hat schon was«, sagte Sichu schließlich »Man könnte stundenlang zusehen.«

Rhodan lachte leise. »Tagelang.« Er drehte den Kopf. Die Ator hatte ihr silbernes Haar zu einer Turmfrisur aufgesteckt. Die verschlungenen und miteinander verwobenen Linien auf ihrer hellgrünen Haut leuchteten wie offen zutage liegende Goldadern.

Ihre Lippen standen ein wenig offen. »Wie findest du eigentlich unseren wohlproportionierten Gast mit den entzückenden Erinnerungslücken?«, fragte sie.

»Ist sie wohlproportioniert?«

»Das wäre dir nicht aufgefallen?«

Er schwieg.

»Sie hat etwas, nicht wahr?«

»Ja«, sagte er. »Einen Koffer.«

»Zum Beispiel.«

»Ein Sternenschiff.«

»So etwas haben wir auch.«

»Ich habe mich bisher nicht beklagt«, sagte er.

Sie schwiegen; sie mussten nichts sagen. Er lehnte sich wieder zurück. Irgendwann fragte Sichu Dorksteiger: »Und wenn wir es für diesmal gut sein lassen?«

»Wenn wir was gut sein lassen?«

Sie drehte sich auf die Seite und stützte ihren Kopf in die Hand. »Wenn wir nicht in die Milchstraße zurückkehren? Ich weiß, für viele, für dich ja auch, fühlt es sich an wie eine Verbannung: 500 Jahre verloren. Aber was, wenn es eine Chance ist? Niemand erwartet uns mehr. Niemand erwartet dich mehr. Du hast getan, was in deiner Macht stand. Du hast den Weltenbrand gelöscht. Du schuldest der Galaxis nichts. Keine Verbindlichkeiten. Du bist frei.«

»Ich habe darüber nachgedacht«, gab er zu. »All die Möglichkeiten, die das Schiff uns bietet. Sein Antrieb, der uns überallhin tragen könnte. Ogygia, wo es sich gut leben lässt.«

»Wie lange hast du nachgedacht?«

»Hm. Lange. Bestimmt so zehn, zwölf Sekunden. Vielleicht sogar ein wenig mehr.«

»Das ist viel«, sagte sie. Sie legte ihm die freie Hand auf die Brust. »Zehn Herzschläge lang, Vielleicht zwölf. Das muss ein harter innerer Zwist gewesen sein.«

Er musste lachen. »Nicht ernsthaft.«

»So viele Alternativen«, sagte sie.

»Auch die Heimkehr in die Milchstraße ist eine dieser Alternativen.«

»Sicher«, sagte sie. »Diese besondere Schwerkraft einer Heimat.«

»Ich weiß. Ich weiß ja, dass du weit fort bist vom Hof deiner Eltern, von Anthuresta. Auch dorthin werden wir eines Tages zurückkehren.«

»Will ich das?«

»Geht es um das, was wir wollen?«

»Sag du es mir. Oder sag: ja. Sag: Eines Tages wird es um das gehen, was wir wollen. Eines Tages wird es um uns gehen.«

»Na gut«, sagte er. »Eines Tages...«

In diesem Moment erklang der Alarm.

Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1)

Подняться наверх