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10.

Giunas Entdeckung

Es gab nur einen Raum: rundum geschlossene Wände und mattes Zwielicht aus einer Mulde in der Decke. Der Empfangstransmitter stand hinter ihnen, ein schlichter Käfig, dessen Energiefeld nun erlosch. Es wurde noch ein wenig düsterer im Zimmer.

Die drei Neuankömmlinge stellten sich sofort nach ihrer Ankunft Rücken an Rücken, mit erhobenen Waffen, und sicherten die Umgebung. Unnötig vorsichtig, wie sich zeigte, denn es gab keine Cairaner in der Nähe – genau wie erwartet und erhofft.

Niemand hielt sich freiwillig in der Ausweglosen Straße auf. Robotische Einheiten übernahmen sämtliche Wachfunktionen, lebendiges Personal kam nur in Krisensituationen vor Ort ... zumindest theoretisch.

Bislang war nie eine Krise bekannt geworden. Das Bestrafungssystem funktionierte reibungslos, ohne dass jemand eingreifen musste. Von einem Aufstand der Gefangenen oder gar einem Ausbruch hatte man nie gehört. Der Vital-Suppressor unterdrückte jede Motivation dazu.

Im nächsten Augenblick fragte sich Giuna, wieso sie dieses Risiko überhaupt einging. War es nicht verrückt, in die Ausweglose Straße vorzudringen und zu versuchen, ihren Mann zu befreien?

Närrisch?

Irrsinnig?

Die sinnlose Tat einer Wahnsinnigen!

»Vergesst nicht«, hörte sie die Stimme von Kondayk-A1, »dass der Suppressor bereits wirkt! Geht es euch genauso wie mir? Ich spüre es. Aber darauf dürfen wir nicht hören. Diese Gefühle sind nicht echt!«

Gefühle?

Wovon sprach er?

Etwa von dieser Müdigkeit, die in Giunas Glieder kroch? Diesem Wissen, dass ihr Versuch ohnehin zum Scheitern verurteilt war?

Es lohnte nicht, weiterzumachen und Energie zu verschwenden!

Giuna schloss die Augen, stellte sich Lanko vor, sein Gesicht. »Ich gebe nicht auf«, sagte sie, und als sie es aussprach, fühlte es sich an, als verlöre die Antriebslosigkeit die Gewalt über sie.

Natürlich wirkte der Suppressor immer noch – es ging nicht um Zauberei oder eine böse Macht, die man bannen musste. Aber Giuna hatte diese ersten Sekunden gebraucht, um die Bedrückung einordnen und dagegen angehen zu können.

Nur was man kannte, konnte man bekämpfen.

»Der Suppressor entzieht uns bereits Lebenskraft und wirkt dadurch auf unsere Willensstärke«, sagte der Barniter. »Genau wie die Berichte behaupten. Wenn man in den Wirkungsbereich des Geräts tritt, zeigen sich sofort Auswirkungen.«

»Das wussten wir«, sagte Cyprian.

»Aber jetzt fühlen wir es«, meinte Giuna. »Ein gewaltiger Unterschied.«

Man konnte dagegen ankämpfen, eine Zeit lang ... einige länger, die meisten kürzer. Was diesen Kampf begünstigte, lag im Dunkeln, nur, dass es wenigen gelang.

Der Terraner versuchte sich an einem Lächeln. Es fiel kläglich aus. »Gehen wir raus. Das unbekannte Land erwartet uns.«

Bis auf das alles andere als umfangreiche Bildmaterial, das Giuna bereits gesehen hatte, wusste auch der NDE nichts über die Zustände in der Ausweglosen Straße oder den Aufbau der Landschaft.

Wie sollten sie Lanko finden?

Diese Frage schob sich nun in den Vordergrund. Daran wollte sich Giuna festhalten – und sie würde nicht zulassen, dass ihr irgendeine Maschine das brennende Verlangen raubte, ihren Mann zu befreien! Egal, wie der Vital-Suppressor wirkte, er war nur ein Stück Technologie, ein Ding.

Es gab eine Tür im Zimmer mit dem Transmitter, und sie ließ sich problemlos öffnen.

Giuna trat nach draußen.

Ins Freie.

Sie sah sich um. Sie waren in einem winzigen Gebäude materialisiert, das offenbar nur aus diesem einen Raum bestand. Es stand auf der Spitze einer hoch aufragenden, dunklen Felsnadel. Das Land rundum blieb flach, eine lang gezogene Ebene. Nur in der Ferne erahnte sie eine Hügelkette.

Wahrscheinlich gab es weit und breit keinen Ort, der einen besseren Überblick bot. Nicht, dass sich die Aussicht lohnte – es zeigten sich nur Trostlosigkeit und die Kargheit der offenbar knochentrockenen Felsenebene: graue Geröllfelder, so weit das Auge reichte.

Und sie hörte das Echo eines Schreis, kaum wahrnehmbar. Giuna konnte nicht einschätzen, ob der Laut von einem Menschen oder einem Tier stammte.

Aber mehr als alles andere bedrückte sie die unwirkliche Tatsache, dass es keinen Horizont gab. Sie standen auf der Innenseite des Rings, und das Gesamtgebilde war nicht groß genug, dass sich der Blick in der Ferne verlor. Stattdessen wölbte sich der Boden nach oben, bog sich dem Betrachter immer stärker entgegen, bis er schließlich in lichter Höhe zurückkippte.

Giuna legte den Kopf in den Nacken.

Es gab keinen Himmel, sondern wiederum nur die Landschaft – über ihnen, in unbestimmter Entfernung.

Nein, nicht unbestimmt. Vier Kilometer, das wusste sie aus den Daten. So weit lagen die Innenseiten voneinander entfernt, und dort oben wies die Schwerkraft in die entgegengesetzte Richtung ... immer zur Fläche des Rings hin.

Man konnte stets weiterlaufen, ohne je das Gefühl zu haben, bergauf zu gehen; zumindest vermutete sie das. Eine perfekt ausgerichtete Gravitation brachte diesen Effekt mit sich. Die Cairaner wären dazu in der Lage, aber ob sie es auch wollten, stand auf einem anderen Blatt.

Vielleicht gab es Bereiche, in denen jede Schwerkraft fehlte, sodass man abstürzte? Wo sie ohne Vorwarnung anstieg, wodurch man sich plötzlich mit dem doppelten oder dreifachen Körpergewicht voranquälen musste?

Giuna blickte zur Seite – eigentlich sollte sie aus der Ausweglosen Straße ins freie All hinaussehen können oder hinunter zum Planeten Pelorius. Schließlich handelte es sich um einen Ring, nicht um ein optisch geschlossenes Gebilde. Selbstverständlich war der Ring seitlich abgedichtet – mit von außen durchsichtigem, glasartigem Material, das einen Blick ins Innere erlaubte. Von innen, erkannte Giuna nun, sah das anders aus. Ob es an dem Glas lag oder am umgebenden Schutzschirm, wusste sie nicht.

Jedenfalls verlor sich die Sicht in einem diesigen, schmutzig grauen Etwas, einer Nebelwand an einem trüben Herbsttag ähnlich, wenn ein Gewitter aufzog. Die Cairaner gönnten den Gefangenen keine Hoffnung, und sei es nur durch einen Blick in eine bessere Welt, hinaus aus ihrem Elend, in die Schönheit des Weltraums.

»Gehen wir nach unten!«, forderte Kondayk-A1. »Wir werden uns aus eigener Kraft einen Überblick verschaffen müssen, um unser Ziel zu finden.«

»Lanko«, präzisierte Giuna.

»Und den Vital-Suppressor«, ergänzte der Barniter.

Ihr gefiel das nicht. Wo lagen die Prioritäten? Sie suchte Cyprians Blick, doch der stand bereits am Rand der Felsnadel. »Brechen wir auf!«, sagte er. »Unsichtbar für alle in dieser Strafanstalt.«

Von einem Augenblick zum anderen verschwand er.

Sie schaltete genau wie Kondayk-A1 ebenfalls ihren Deflektorschirm ein, und weil die Geräte wie bei ihrem letzten Einsatz gekoppelt blieben, konnten sie einander sehen.

»Wir nutzen die Flugfunktion.« Der Barniter schwebte parallel zur Felsnadel in die Tiefe.

Giuna folgte, Cyprian flog hinter ihr. Die Reihenfolge sprach für sich: Die beiden waren entschlossen, sie zu schützen, und das wiederum fühlte sich relativ gut an.

»Denk daran«, sagte der Terraner. »Auf alles können wir uns nicht vorbereiten. Nichts lässt sich ...«

»Ja, schon klar«, fiel sie ihm ins Wort. »Nichts lässt sich exakt vorhersagen.«

Der Barniter lachte, ein Geräusch, das in dieser Umgebung seltsam unpassend wirkte. »Die Kleine lernt schnell.«

Sie erreichten den Fuß der Felsnadel. Nach wie vor konnten sie niemanden sehen.

»Kein Gefangener in der Nähe«, sagte Kondayk-A1.

»Und kein Okrill«, ergänzte Giuna. »Nicht, dass ich es mir wünsche.«

»Wahrscheinlich hält die Steuerung alles und jeden von hier fern, weil es die Ankunftsstation der Cairaner ist.« Cyprian hob die Hände und presste sie an die Schläfen. Er schloss die Augen, atmete tief durch.

Sie verstand, wie er sich fühlte – in ihr pochte unablässig die Frage, wieso sie nicht aufgab.

Sich einfach auf den Boden setzte und abwartete.

Bis sie starb.

Das Leben aus allen Poren sickern lassen ... der knochentrockene Steinboden würde es aufnehmen und abtöten.

Sie schüttelte den bizarren Gedanken ab.

Der Suppressor mochte die Vitalität in ihr unterdrücken und ihr jede Motivation rauben, aber dadurch bewirkte er auch, dass ihr Hass auf die Cairaner wuchs. Daraus wollte Giuna Kraft schöpfen, es in etwas umwandeln, das Gutes hervorbrachte.

Sie flogen los.

Die Felsnadel blieb hinter ihnen zurück. Als sich Giuna nach einiger Zeit umdrehte, sah sie nur noch die weite Felsenebene – keine Spur von dem hoch aufragenden Gebilde. Sie machte die beiden Agenten darauf aufmerksam.

»Ein Unsichtbarkeitsfeld«, vermutete Cyprian. »Wir haben es passiert, ohne es zu bemerken. Ab einer gewissen Grenze ist die Ankunftsstation nicht mehr zu sehen. Ein einfacher, aber effektiver Schutzmechanismus, der verhindert, dass die Gefangenen versuchen, in sie einzudringen.«

»Wahrscheinlich gibt es positronische Fallen, die dafür sorgen, dass niemand nahe genug kommt«, ergänzte Kondayk-A1.

»Das heißt, wir können nicht zurückkehren?«, fragte Giuna.

»Wir müssen«, sagte Cyprian. »Der Transmitter ist unsere einzige Fluchtmöglichkeit. Wir kennen die genaue Position, sie ist in den Anzugpositroniken gespeichert. Solange die Cairaner nicht damit rechnen, dass wir über die entsprechenden Mittel verfügen, haben wir eine Chance. Wir werden alle Fallen überwinden.«

»Sicher?« Das Wort rutschte Giuna raus, ehe sie darüber nachdenken konnte. »Ich meine, davon abgesehen, dass nichts vorhersehbar ist.«

»Sagte ich es nicht?«, fragte der Barniter. »Sie lernt!«

Sie flogen weiter, und bald tauchten in der Ferne die ersten Gefangenen auf.

*

Sie waren zu fünft – drei Humanoide und zwei Nichtmenschen, die auf vier Beinen gingen. Alle trugen abgerissene, braungraue Kleidung.

Die Gefangenen würden sie nicht entdecken, das stand fest – für die positronischen Wachanlagen galt das mit einiger Wahrscheinlichkeit genauso. Zumindest waren sie im Kontrollturm unentdeckt geblieben, bis Cyprian den Alarm ausgelöst hatte.

Giuna und ihre beiden Begleiter flogen im Schutz der Unsichtbarkeit näher. Bei den Humanoiden könnte es sich um Terraner handeln, ebenso gut aber auch um Tefroder oder Angehörige eines der anderen, äußerlich ähnlichen Mitglieder der Lemurischen Allianz. Eine Frau war dabei, mit verfilzten, hellblonden Haaren. Die Gesichter waren schmutzig und müde.

Was die Fremdwesen anging, hatte sich Giuna aus der Ferne getäuscht. Sie gingen nicht auf vier Beinen, sondern lediglich sehr gebückt, bei langen, fast bis auf den Boden hängenden Armen. Von der Hüfte aufwärts zog sich ein schwarzer Körperpanzer, der nur die Vorderseite des Kopfes freiließ. Sechs dunkelrote Augen gruppierten sich um einen zentralen Mund, der offen stand und einen Kreis nadelspitzer Zähne präsentierte.

Der Anblick ließ Giuna frösteln. Wesen wie diese kannte sie nicht – eines der zahllosen Sternenvölker, die wahrscheinlich nie besondere Bedeutung erlangt, das die Cairaner aber dennoch befriedet hatten. Was eben früher oder später dazu führte, dass einige Angehörige gegen die Regeln des Friedensbundes verstießen.

»Was tun wir?«, fragte Kondayk-A1.

»Geh zu ihnen, Giuna!«, schlug Cyprian vor.

Sie nickte. Was sonst? Sie wollten Informationen sammeln.

Die beiden NDE-Agenten würden sich möglichst nie zeigen. Für die Cairaner musste es am Ende aussehen, als wäre Giuna allein in die Ausweglose Straße eingedrungen. Eine einzige Schuldige, für den Rest ihrer Tage gejagt. Aber auch in der Obhut des NDE, der ihr und im Idealfall Lanko eine neue Identität verschaffen würde.

»Wir bleiben in der Nähe«, sagte der Barniter. »Wir lassen dich nicht aus den Augen und halten Verbindung.« Er tippte an sein Ohr. Dort trug sie einen winzigen Funkempfänger, über den die beiden Agenten sie erreichen konnten.

Giuna landete etwa zweihundert Meter hinter der kleinen Gruppe und schaltete den Deflektor ab.

Sie lief los.

Steine rutschten und klackten unter ihren Füßen.

Obwohl es aus dieser Entfernung für die Gefangenen unmöglich zu hören sein müsste, drehten sich beide Fremdwesen gleichzeitig zu ihr um. Offenbar hatten sie ein exzellentes Gehör – wo immer ihre Ohren sitzen mochten. Sehen konnte sie sie jedenfalls nicht.

Alle fünf blieben stehen.

»Helft mir!«, rief Giuna, während sie weiter auf sie zuging.

Einer der Fremden richtete sich auf, dehnte den Oberkörper, bis die Arme nur noch bis zu den Knien hingen. Der wuchtige Rückenpanzer verlieh ihm ein imposantes Äußeres.

»Als ob nicht jeder hier Hilfe nötig hätte!« Die Stimme klang überraschend angenehm und sprach in Interkosmo. »Allerdings siehst du nicht so aus, als ...«

»Ach?«, unterbrach sie, nur wenige Schritte entfernt.

»Ich habe noch keinen Gefangenen mit einem funktionierenden Schutzanzug gesehen.«

»Er ist defekt, weil ...«

»Lüg nicht!«

»Aber ...«

»Du kannst erst in unserer Nähe gelandet sein, sonst hätten wir dich viel früher gehört.«

»Ich bin ...«, setzte Giuna an.

Die Frau unterbrach sie: »Wer bist du? Eine neue ... Teufelei der ... Cairaner?« Sie sprach abgehackt und seltsam undeutlich. Ihr fehlten fast alle Zähne, die Lippen waren voller Narben.

Der Anblick versetzte Giuna einen Schlag. »Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben.«

»Wir fürchten alles, das nicht ist wie wir«, sagte einer der Männer. »Das ist unser Leben, solange uns Kraft bleibt. Es ist das Letzte, das uns geblieben ist, und von dir lassen wir uns das nicht nehmen.«

Giunas Unterlippe zitterte. In dieser Aussage lag etwas so Trauriges, dass sie keine Worte fand. »Ich werde euch helfen.« Sie wusste, dass sie damit ein allzu optimistisches Versprechen gab. Weder hatte sie die Mittel dazu, noch war es das Ziel ihres Einsatzes. »Aber zunächst brauche ich eure Unterstützung. Ich suche ...«

»... einen Fluchtweg?« Die Frau lachte. Ein wenig Blut rann ihr aus dem Mundwinkel.

»Jemanden«, stellte Giuna klar. »Habt ihr von Lanko Wor gehört?«

Sie verneinten. Es wäre ein allzu großer Zufall. Aber immerhin redeten sie mit ihr.

»Was kann ich tun, um ihn zu finden?«, fragte Giuna.

»In der Ausweglosen Straße?« Das war das Fremdwesen, das zuerst mit ihr gesprochen hatte. »Unmöglich. Wenn du nicht weißt, wo er ist, gibt es ...«

»Er ist seit drei Wochen hier.«

»Dann könnte er überall sein.«

Der Boden bebte. Steine verrutschten und führten einen Tanz aus. Etliche spritzten einen halben Meter hoch. Einer schlug an Giunas Knie.

»Nein«, sagte die Fremde. »Ich kann nicht mehr.«

Einer der Männer packte ihren Arm. »Du musst.«

Sie schüttelte ihn ab, wankte einige Schritte zur Seite und brach zusammen. »Lasst mich!«

»Der Suppressor ...«

Ein Grollen riss ihm die Worte von den Lippen. Steine flogen meterhoch und krachten wie ein tödlicher Regen zurück.

Die Fremdwesen rannten, einer der Humanoiden ebenso. Der zweite Mann beugte sich zu der hilflos daliegenden Frau.

Der Boden brach auf, und ein gezackter Riss jagte hindurch, verbreiterte sich zu einer Spalte, die Giuna von den beiden trennte.

Der Mann rutschte über die Kante, klammerte sich im letzten Moment fest. Seine linke Hand löste sich ab. Steine fielen, einer schlug ihm auf den Kopf. Er verlor endgültig den Halt und stürzte ab.

Giuna aktivierte die Flugfunktion, sprang in den Spalt und schwebte hinab. Er lag auf einem kleinen Plateau. Direkt neben ihm ging es in unbestimmte Tiefe.

Sie packte ihn und zog ihn mit sich an die Oberfläche. Gemeinsam landeten sie bei der Frau. »Ich nehme sie«, schrie Giuna gegen das ständige Grollen des Erdbebens an. »Kannst du allein ...?« Sie stockte.

Die Fremde war tot. Ihre Augen standen offen, aber es war, als läge ein Schleier über ihnen. Die Hände hingen verkrampft auf der Brust.

»Ihr Herz«, sagte der Mann. »Ich habe das schon oft gesehen.«

An einer weiteren Stelle platzte der Boden auf.

Giuna packte den Überlebenden, umklammerte ihn und schaltete den Anzug auf volle Flugleistung. Sie hoben ab und rasten über die Ebene, hinaus aus dem Gebiet des Erdbebens.

Erdbeben.

Ein falsches Wort. In dieser künstlich erschaffenen Raumstation, in diesem gewaltigen Ring, gab es keine Naturkräfte, die die Erde zum Erbeben bringen könnten. Dies war ein bewusst ausgelöstes, genau kalkuliertes Ereignis – das, was die Fremde kurz vor ihrem Tod eine neue Teufelei der Cairaner genannt hatte.

Als Giuna landete, hatte sie Tränen in den Augen.

*

»Du hast doch eine Chance«, sagte der Mann.

Sie blinzelte die Tränen weg. »Was meinst du?«

»Diesen Lanko zu finden. Wer ist er? Dein Bruder? Dein Vater?«

»Mein Mann. Wieso glaubst du, dass ich ihn finden kann?«

»Dein Anzug. Dir bieten sich andere Möglichkeiten als uns. Und wenn ich dir einen Rat geben darf, sei vorsichtig.«

»Ich kenne die Gefahren, die euch ständig zur Flucht zwingen.«

»Das meine ich nicht.«

»Sondern?«

»Die Gefangenen. Du wirst dich mitten unter sie mischen müssen, und dein Anzug ist hier mehr wert, als du dir vorstellen kannst.«

Giuna lächelte matt. »Also warnst du mich auch vor dir selbst?«

»Du hast mir das Leben gerettet. Ich werde dich nicht angreifen. Sonst hätte ich es längst versucht.«

Sie überlegte, ihm zu sagen, dass sie gut bewacht wurde, doch sie wollte nicht ohne Not auf Kondayk-A1 und Cyprian Okri hinweisen, die sich während des Bebens mit keinem Wort gemeldet hatten. Waren sie überhaupt noch da? Der Gedanke kam wie ein Blitzstrahl. Sie schob ihn beiseite, aber es blieb ein böse nagender Zweifel.

»Wie soll ich Lanko suchen?«, fragte sie stattdessen.

»Die Fläche der Ausweglosen Straße umfasst etliche Quadratkilometer. In einer Stadt dieser Größe hättest du keine Chance, ihn zu entdecken. Aber hier ist es ...« Er lachte trocken. »... dünn besiedelt. Flieg. Frag. In ein paar Wochen solltest du ihn finden. Wenn du so lange durchhältst. Oder schützt dich dein Anzug auch vor dem Suppressor?«

»Nein.«

»Das dachte ich mir.«

»Es gibt keinen Schutz vor diesem Gerät.«

»Frag ihn nach dem Suppressor«, hörte sie Cyprians Stimme im Ohr. Also war er noch da. Selbstverständlich.

»Wie heißt du?«, fragte sie stattdessen.

»Agalor.«

»Wie lange bist du schon hier?«

»Zwei Monate.«

»Du kennst dich hier aus?«

Er nickte. »Was willst du wissen?«

»Wo steht der Vital-Suppressor?«

»Du kommst nicht an ihn ran.«

»Lass das meine Sorge sein.«

Mit einem Brüllen raste ein Raubtier auf sie zu – die mächtigen Tatzen schienen die Steine kaum zu berühren. Kein Okrill, erkannte Giuna. Wenigstens das. Sie riss ihre Waffe hervor und feuerte.

Sie verfehlte das heranjagende Ziel. Ihr Schutzschirm aktivierte sich automatisch. Sie war in Sicherheit – Agalor jedoch nicht.

Sie schoss erneut.

Ein Heulen, und die Bestie wurde im Sprung zur Seite gerissen. Sie brach zusammen, ein blutiges Loch im Brustkorb.

»Mit den richtigen Mitteln ist nichts so gefährlich, wie es scheint«, kommentierte Giuna, als hätte sie derlei schon hundertmal getan. »Also, wo finde ich den Suppressor?«

»Manche sagen, am Ende der Ausweglosen Straße.«

»Es gibt kein Ende.«

»Eben. Niemand hat ihn je gesehen.«

»Ist er in die Hülle des Rings eingearbeitet?«

»Vielleicht. Ich kann dir nicht helfen.«

»Zurück zu Lanko. Ich darf ihn nicht nur ziellos suchen. Du hast von ein paar Wochen gesprochen, bis ich auf ihn stoße. So viel Zeit bleibt mir nicht. Nicht einmal ansatzweise. Die Cairaner wissen wahrscheinlich bereits von mir. Sie werden ein Team schicken, das mich sucht, und das wird nicht lange brauchen, obwohl ich mich gut verbergen kann. Ich bin auf einen schnellen Erfolg angewiesen. Meine Chancen sinken von Tag zu Tag.« Sie hatte von Stunde zu Stunde sagen wollen, aber das klang zu frustrierend.

»Geh ins Dorf. Früher oder später tauchen alle dort auf, um sich Nahrungsmittel zu besorgen. Außerdem, wenn dein Mann erst seit drei Wochen hier ist, könnte er zu den Narren gehören, die sich darin verschanzen. Neulinge halten oft an falschen Hoffnungen fest.«

»Das Dorf?«

»Die Cairaner stellen uns Hütten zur Verfügung. Die meisten geben schnell auf, dort zu wohnen. Es ist noch gefährlicher als überall sonst. Hin und wieder muss man allerdings zurückkehren – nur im Dorf wird Nahrung angeliefert. Die einzige Alternative ist, auf die Jagd zu gehen und eine dieser Bestien zu erledigen.« Er deutete angewidert auf den Kadaver. »Das Problem ist, dass viele genetisch verändert sind. Ihr Fleisch ist nahezu ungenießbar.«

»Wo finde ich das Dorf?«

Agalor lächelte, und seine Augen wirkten lebendiger als zuvor. »Wir sind alle dort angekommen und kennen es deshalb. Du nicht.«

»Nein.«

»Wie bist du in die Ausweglose Straße gekommen?«

Sie zögerte. Was sollte sie tun?

»Geh nicht darauf ein«, forderte Cyprian via Funk. »Er darf nichts erfahren. Wir dürfen ihm nicht helfen.«

Sie durften nicht. Aber sie mussten. Nur wie? »Ich kann es dir nicht sagen.«

»Ich verstehe. Vielleicht hättest du mich in dem Felsspalt sterben lassen sollen.«

»Ich komme zurück. Wir befreien euch alle.« Fast erwartete sie Widerspruch, doch die beiden Agenten schwiegen.

Agalor sagte ihr, in welcher Richtung das Dorf lag.

Sie verabschiedeten sich, und Giuna flog los.

Als Agalor weit genug entfernt war, schaltete sie den Deflektorschirm ein. Cyprian und Kondayk schlossen sich ihr an.

*

»Die Nahrungsausgabe«, sagte Giuna. »Warum haben wir nicht daran gedacht?«

»Natürlich haben wir das«, widersprach Cyprian. »Aber wir wussten nicht genug. Es gibt nur an einer Stelle Nahrungsmittel ... gut. Nach dieser Information steht fest, was wir tun müssen. Vorher ...«

»Schon klar«, unterbrach sie. »Glaubt ihr, Agalor hat recht und die anderen Gefangenen werden versuchen, an meinen Schutzanzug zu kommen?«

»Es ist nicht von der Hand zu weisen«, sagte Kondayk-A1. »Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns in einer Strafanstalt der Cairaner befinden. Viele sind wohl zu Unrecht inhaftiert. Aber die Gefangenen ... nun, sie gehören nicht unbedingt zu den Guten.«

»Findest du es etwa richtig, ihnen das hier anzutun?«

»Das habe ich nicht gesagt. Doch wo ein paar Dutzend zusammenleben, könnte es für dich gefährlich werden.«

»Was soll ich tun?«

»Du landest vor dem Dorf, legst den Schutzanzug ab und spazierst rein«, sagte Cyprian. »Du trittst als eine von ihnen auf, mit dem Unterschied, dass wir dich aus der Unsichtbarkeit heraus beschützen. Du suchst nach Lanko und nach Informationen über den Vital-Suppressor.

Beim geringsten Anzeichen, dass bereits Cairaner gekommen sind, um dich zu jagen, holen wir dich raus und fliehen. Wir beobachten alles und finden einen Ort, an den wir uns zurückziehen können. Sobald Kondayk und ich die Gesamtlage so einschätzen, dass wir den Einsatz abbrechen müssen, werden wir das tun. Oder es zumindest versuchen. Ohne Diskussion, und egal, ob du Lanko gefunden hast. Wir wissen, wo der Transmitter steht, der uns theoretisch die Flucht ermöglicht. Verstanden?«

»Schon, aber es gibt einen Punkt, den ich nicht verstehe.«

Cyprian fixierte sie mit einem starren Blick.

»Wieso giltst du als maulfaul? Die Rede eben ...«

Er verdrehte die Augen »Als Buchhalter spiele ich eine Rolle. Noch etwas?«

Giuna versuchte zu grinsen. »Nein. Alles gut.«

Nur, dass in Wirklichkeit nichts gut war. Sie war müde und antriebslos, und sie musste ständig gegen die Frage ankämpfen, weshalb sie nicht einfach aufgab.

Lanko? – Wahrscheinlich längst tot.

Die anderen Gefangenen? – Verbrecher.

Die Cairaner? – Selbst wenn sie die Ausweglose Straße zerstörten, war es nur ein Mückenstich für den Friedensbund.

»Lügen«, flüsterte Giuna. All das waren Lügen, die aus ihrem erschöpften, entmutigten Bewusstsein kamen, aus ihrer vom Vital-Suppressor beeinflussten Seele.

Sie überschlug die Zeit, die sie bereits in diesem Gefängnis verbracht hatte. Ein paar Stunden höchstens, bis sie es nicht mehr ertrüge.

Wie ginge es ihr erst ohne ihren technischen Schutz? Hätte sie die Attacke durch das Raubtier und das künstliche Erdbeben überstanden? Würde sie überhaupt noch leben? Und wie mussten sich all die Gefangenen fühlen, die seit Wochen und Monaten an diesem Ort lebten?

In der Ferne sah sie die Gebäude des Dorfes, gedrungene Hütten aus Metall. Eine davon hatte sie in den Holodaten betrachtet – beim Angriff des Okrills.

Ob Lanko tatsächlich dort war?

Wie hatte Agalor gesagt? Er könnte zu den Narren gehören, die sich darin verschanzen wollen. Neulinge halten oft an falschen Hoffnungen fest.

Es würde zu Lanko passen, nicht aufzugeben, selbst unter dem Einfluss des Vital-Suppressors. Sogar, wenn andere ihn deswegen für verrückt hielten.

Sie landeten, nach wie vor unsichtbar.

»Ziehen wir es durch?«, fragte sie.

Kondayk-A1 legte ihr seine wuchtige Hand auf die Schulter. »Hast du Zweifel?«

»Nein.« Sie wusste selbst nicht, ob sie log oder nur gegen die Wirkung des Suppressors aufbegehrte.

»Wir sind bei dir«, stellte der Barniter klar. »Immer.«

Giuna stieg aus dem Schutzanzug. Darunter trug sie einen schlichten grauen Einteiler.

Sie ging auf das Dorf zu und kam sich verlorener vor als je zuvor. So, als ob sie hilflos und freiwillig in den Tod spazierte. Was die Situation eigentlich hervorragend beschrieb.

Als sie die ersten Hütten erreichte, veränderte sich plötzlich alles.

*

Neben dem Ring, wo bislang diffus-düsterer Nebel gehangen hatte, ging der Blick plötzlich hinaus ins All.

Eine unendliche Weite tat sich auf, erhabene, wunderbare Schwärze, in der Milliarden ferne Sonnen glitzerten.

Doch etwas schob sich davor: ein gewaltiges weißes Ding, ein Koloss mitten im All, in dem sich die Unzahl der Sterne spiegelte.

Ein Ring, dessen Hohlraum zur Hälfte eine rot leuchtende Kugel ausfüllte, gehalten von einigen Metallstreben.

Wie ein Auge, das sie anstarrte.

Sie und alle Gefangenen der Ausweglosen Straße.

Ein kilometergroßer cairanischer Augenraumer.

Eine Stimme dröhnte aus verborgenen Akustikfeldern. »Es gibt einen Eindringling in die Ausweglose Straße. Wir erweisen dir die Gnade, dass du dich stellen darfst. Ansonsten werden wir dich töten. Dich und jeden, der uns im Weg steht.«

Giuna fühlte, wie sich ein Dutzend weiterer echter, organischer Augen auf sie richtete. Dann Hunderte. Sämtliche Gefangene im Dorf liefen zusammen, starrten sie an.

»Der Gefahrengrad der Ausweglosen Straße wird verdoppelt, bis der Eindringling sich stellt. Die Nahrungsmittelzuteilung ist hiermit halbiert. Wir fordern alle Häftlinge zur Mitarbeit auf.«

Die Gesichter der Wesen, die sie anstarrten, veränderten sich. Von Verblüffung, vielleicht Erstaunen oder sogar Bewunderung, bis hin zu Hass.

Giuna wollte umkehren.

»Hier!«, wurde ein Schrei laut, dann ein ganzer Chor, getragen von Angst. »Hier ist sie!«

Giunas Beine waren wie versteinert. Aber sie musste rennen.

Fliehen.

Nun bist du also tatsächlich auf der Ausweglosen Straße angekommen, dachte sie. Nun erst wusste sie, wie sich die Gefangenen wirklich fühlten.

Drei Dinge geschahen gleichzeitig.

»Wir holen dich raus«, hörte sie Cyprians Stimme.

Ein weiß glänzender Kampfroboter flog auf sie zu.

Und etwas zupfte an ihrem Arm. »Giuna.«

Sie drehte sich um. Es war Lanko.

Ihr Herz blieb stehen, vor Freude und Entsetzen. Sein Gesicht war eine starre Maske, die Augen blutunterlaufen, das dunkle Blau der Iriden wie mit einem milchigen Schleier überzogen. Auf der rechten Kopfseite waren die Haare büschelweise ausgerissen und schmutzig rote Krusten zurückgeblieben. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Das war der Mann, der sie auf dem Rücken den Ranlo-Berg hochgetragen hatte?

Und dennoch, trotz seines elenden Zustands hatte letztlich nicht sie ihn gefunden, sondern er sie.

Ihre Lippen zitterten. »Du gehörst also zu den Narren, die ausharren und die Hoffnung nicht aufgeben?«

»Wieso Narren?«, fragte er. »Du bist hier, oder nicht?«

Dann feuerte der Kampfroboter. Die Welt explodierte, und wo einen Augenblick lang Feuer loderte, blieb nur Schwärze.

Giuna Linh fiel ins Dunkel.

Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1)

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