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Kapitel 1 Die Bedeutung der Wiedererlangung des ganzen Spektrums der Gefühle
ОглавлениеDas Gefühl sagt uns, wie und wie sehr eine Sache für uns wichtig ist.
— Carl Gustav Jung
Amerika ist eine Nation emotionaler Waisenkinder … erwachsene Kinder sind ohne wirkliche Eltern aufgewachsen. Unzählige unserer Freunde, Nachbarn, Ehepartner und Liebhaber hatten eine Kindheit, in der ihre Eltern emotional nicht für sie da waren.
— Dennis Wholey
Gefühle und Emotionen sind energetische Zustände, die sich nicht auf magische Weise auflösen, wenn sie ignoriert werden. Ein großer Teil unseres unnützen emotionalen Schmerzes ist der verzweifelte Druck, der dadurch entsteht, dass die emotionale Energie nicht freigesetzt wird. Wenn wir uns nicht um unsere Gefühle kümmern, sammeln sie sich in uns an und erzeugen wachsende Angst, die wir häufig als Stress abtun.
Stress ist nicht nur eine schädliche physiologische Reaktion auf belastende äußere Anreize wie Lärm, Umweltverschmutzung, Pendeln zum Arbeitsplatz, lange Arbeitszeiten oder viel Trubel. Stress ist auch der schmerzhafte innere Druck der angesammelten emotionalen Energie.
Das Trauern, das hier ausführlich untersucht wird, ist der effektivste Mechanismus zur Stressbewältigung, über den die Menschen verfügen. Trauern ist ein sicheres, gesundes Ventil für unsere inneren Druckkochtöpfe der Emotionen. Oft habe ich Gefühle erlebt, bei denen ich glaubte, gleich zu explodieren, und die sich durch ein ausgiebiges Weinen sofort lösten. Fast täglich erlebe ich in meiner Privatpraxis, wie andere dieselbe wunderbare Erleichterung erfahren.
Wenn wir uns nicht auf unsere Gefühle einlassen, hat das viele furchtbare Konsequenzen. Der Preis der Unterdrückung der Gefühle ist eine konstante, verheerende Energieverschwendung, die viele von uns deprimiert und schweigsam macht. Wenn wir auf diese Weise ständig geschwächt werden, versinken wir zunehmend in Apathie und im Gefühl des Überdrusses, »alles schon mal gesehen zu haben, überall schon mal gewesen zu sein und alles schon mal gemacht zu haben«. Wenn dies eintritt, geben wir unsere Bestimmung auf, ausdrucksstarke, das Leben feiernde Wesen zu sein, zu denen wir geboren wurden.
Der Kampf gegen unsere Gefühle zwingt diese, sich gegen uns zu wenden. Ein Großteil unseres überflüssigen Leidens wird durch die Geister unserer getöteten Emotionen verursacht, die durch unser Bewusstsein wehen und uns in Form von verletzenden Gedanken verfolgen. Verleugnete Emotionen trüben unsere Gedanken durch ängstliche Sorge, mürrische Selbstzweifel und wütende Selbstkritik.
Wir riskieren auch, unsere Emotionen unbewusst »auszuleben«, wenn wir nicht bereit sind, sie zu spüren. Sarkasmus, der Hang zum Kritisieren, gewohnheitsmäßiges Zuspätkommen und »vergessene« Verpflichtungen sind häufige unbewusste Äußerungen von Wut. Paradoxerweise lassen uns diese passiv-aggressiven Verhaltensweisen in noch größerem emotionalen Schmerz zurück, weil sie andere dazu bringen, uns zu misstrauen und uns nicht zu mögen.
Die gravierenden Probleme des maßlosen Essens, der Übermedikation und des übermäßigen Arbeitens, die Amerika plagen, wurzeln ebenfalls in der massenhaften Entfremdung von unseren Gefühlen. Wenn wir Angst vor unseren Gefühlen haben, sind wir gezwungen, uns durch stimmungsverändernde Substanzen, Arbeitssucht oder ständige Geschäftigkeit von unseren Emotionen abzulenken. Wie Anne Wilson Schaef in ihrem Buch Im Zeitalter der Sucht: Wege aus der Abhängigkeit zeigt, sind viele von mindestens einer selbstzerstörerischen Substanz oder einem entsprechenden Verhalten abhängig.
Ironischerweise tragen unsere Ablenkungen in der Regel zu dem zugrunde liegenden Schmerz bei, den wir versuchen zu vermeiden. Wenn es zur Gewohnheit wird, fügen sie unserem Körper schließlich schwere Schäden zu. Unser rasendes Lebenstempo und die Verwendung von chemischen Substanzen (verschriebene, illegale oder rezeptfreie) betäuben uns so gründlich, dass wir ihre lähmenden Auswirkungen oft erst dann spüren, wenn wir schwer erkranken.
Wir sind so abwehrend gegenüber unseren Schmerzen geworden, dass wir immer wieder auf der Suche nach neuen Wegen sind, um nicht zu fühlen. Die weit verbreitete Narkotisierung der Hausfrauen mit Valium in den Fünfziger- und Sechzigerjahren war ein Präzedenzfall für die gegenwärtige explosionsartige Betäubung beider Geschlechter mit modernen Antidepressiva. Medikamente wie Prozac, Zoloft und Paxil werden derzeit als »Designerdrogen« verwendet, und viele Allgemeinmediziner mit geringer psychiatrischer Ausbildung verschreiben sie großzügig jedem, der sich schlecht fühlt.
1995 wurde in einer TV-Sondersendung von Frontline über entsprechende Zustände berichtet. Dieses Programm dokumentierte den damals weitverbreiteten Trend zum übermäßigen Gebrauch von Prozac und richtete den Fokus auf einen Psychologen aus dem Bundesstaat Washington, der Prozac allen seinen Klienten verschrieb und neue Klienten nur behandelte, wenn sie bereit waren, Prozac zu nehmen. Vor laufender Kamera sagte er einem potenziellen Klienten: »Sie haben keinen Zugang zu Ihrem wahren Selbst ohne dieses Medikament.« Leider begegne ich immer mehr Therapeuten, die ihren Klienten sofort Prozac verschreiben, ohne zuerst das Trauern als Mittel gegen Depressionen und Stress auszuloten.
In dem Krieg, den unsere Kultur gegen das Fühlen führt, werden Emotionen zu einer gefährdeten Art. Überall werden wir von familiären und gesellschaftlichen Erwartungen bedrängt, »cool« zu sein. Die Haltung, so zu tun, als könne uns nichts verletzen oder beeinträchtigen, ist schleichend zu unserem Vorbild für Gesundheit und Entfaltung geworden. Viele von uns sind so cool, dass sie emotional kalt und abschreckend distanziert geworden sind. Mit den Worten von Robert Bly:
… die Vertuschung schmerzhafter Emotionen in uns … ist in unserem Land zu einer Frage des nationalen und privaten Stils geworden. Wir haben mit überwältigendem Elan das Tier der Verleugnung zum Leittier des Lebens in unserem Land gemacht.
Nirgendwo, weder in unseren privatesten Momenten, noch in der Gesellschaft unserer engsten Freunde, fühlen wir uns sicher, unsere Gefühle zu erkunden. Wut, Depression, Neid, Traurigkeit, Angst, Misstrauen usw. sind alle genauso wichtig für das Leben wie Brot, Blumen und Straßen. Doch diese Gefühle rufen bei uns – sobald sie aufkommen – gewöhnlich Scham und Furcht hervor, selbst bei denjenigen, die allen anderen unvorhergesehenen Lebensereignissen tapfer begegnen.
Wer es wagt, Gefühle auszudrücken, die nicht positiv sind, wird als bemitleidenswert und unreif betrachtet, weil er sich nicht für eine würdevollere Haltung entschieden hat. Welch schrecklicher Verlust der natürlichen menschlichen Neigung, einem verzweifelten Freund Mitgefühl zu erweisen – eine Reaktion, die es in nichtindustrialisierten Ländern immer noch gibt.
Eine Schulter zum Ausweinen und die Erlaubnis, zu jammern und zu klagen, sind in den Industriegesellschaften verschwindende Sakramente. In unserer Kultur bedeutet Empathie, unseren bedrückten Freunden – in bester Absicht – zu raten, »das Positive zu sehen« und daran zu denken, dass »es schlimmer sein könnte«.
Dies steht im Gegensatz zur Stammeskultur von Neuguinea, wo Männer und Frauen gleichermaßen von ganzem Herzen an den jährlichen Trauerfeierlichkeiten beteiligt sind. Den ganzen Tag lang halten sie sich in den Armen und trösten sich gegenseitig über den Verlust ihrer in der Tat glücklichen Kindheitstage.
Uns fehlt die normale menschliche Güte, aus der heraus wir unsere engen Freunde ermutigen, ihre Gefühle zu zeigen, damit sich ihr Schmerz nicht einkapselt und in Angst, Sorge und Selbstverachtung verwandelt.
Von Jahr zu Jahr offenbart sich immer mehr die 1969 vom Psychoanalytiker Rollo May geäußerte Vorhersage:
Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft einen eindeutigen Trend zu einem Zustand der Gefühllosigkeit als Lebenseinstellung, als Charakterzustand gibt.
Hat Gott einen schrecklichen Fehler begangen, als er uns mit der Eigenschaft zu fühlen ausgestattet hat, um uns von Robotern und Androiden zu unterscheiden, denen wir scheinbar nacheifern?
Vielleicht ist Gott dabei, ein neues Gebot zu erlassen: »Du sollst keinen emotionalen Schmerz fühlen oder ausdrücken!« Wenn dem so ist, könnten wir alle in einer Welt enden, die frostig und ohne Gefühl ist. Lesley Hazelton beschreibt in ihrem Buch Dein Recht, dich schlecht zu fühlen. Mit Alltags-Depressionen leben solch eine Welt:
Schizophrene kennen diese Welt. Sie haben sich in sie zurückgezogen, abseits des gesamten Bereichs menschlicher Interaktionen und Beziehungen – in extremen Fällen sogar von der Fähigkeit, physischen sowie psychischen Schmerz zu empfinden. Dies ist ein Zustand schwerer emotionaler Störung. Dennoch kommt er dem derzeitigen Idealzustand, keine »negativen« Gefühle zu haben, sehr nahe.