Читать книгу Kurz angebunden - Peter Franz Schmitt - Страница 15
ОглавлениеSELBSTÜBERWACHUNG
So etwas hatte schon lange in der Luft gelegen. Und nun, wo die Zeit reif dafür war, schien es kaum noch aus dem Rahmen zu fallen. Neue Generationen waren herangewachsen und hatten sich dermaßen an Überwachung gewöhnt, dass es als nichts Besonderes hingenommen wurde, wie Sprühregen im November. Als der BND auch an mich diskret herantrat mit dem Anliegen, ich solle mich selbst effizienter überwachen, um das Staatsbudget zu entlasten, hatte ich zuerst reflexartig Bedenken jener abgemilderten Art, denen die Eingewöhnung an die Zustände bereits inhärent war. Erst im zweiten Anlauf kam ich mir gelinde gesagt auf den Arm genommen vor. Und überhaupt. Mich selbst zu überwachen, praktiziere ich doch ohnehin schon mein ganzes Leben lang, freiwillig, ohne Auftrag von außen.
Na ja, so ganz stimmt letzteres freilich wiederum auch nicht. Selbstredend kam der Auftrag ursprünglich von außen, wenn man nicht sogar von 100 % Fremdsteuerung sprechen kann. Die Mechanismen hat man allerdings längst verinnerlicht und fühlen sich an, als seien sie dem eigenen Ich höchstpersönlich entsprungen. Jedenfalls liegen triftige Gründe für die Annahme vor, dass meine Selbstüberwachung nicht auf Einbildung beruht. Bei Licht besehen, reichen die Anfänge der Fremdsteuerung bis ins Kindbett zurück, als meine fremdgesteuerten Eltern nur zu bald anfingen, mir zuzumuten, ich solle auf Muttermilch verzichten, mich nicht ständig einnässen, im Kopf behalten, dass 2x2=4 ist usw. Später fand dies seine Fortsetzung in ständigen Ermahnungen, ich solle mich nicht schmutzig machen, auf meine Kleidung achten, die Nase putzen und dergleichen mehr. Dessen nicht schon genug, setzte mich die Mutter schon früh auf Liebesentzug, denn mit Liebe einen Knaben verzärteln, macht ihn später untauglich fürs entbehrungsreiche Mannesleben. Dies allein traf mich schon mit voller kafkaesker Wucht, und war doch erst das Vorspiel zu dem folgenden Desaster, der Konfrontation mit einer eigens für Dressurzwecke eingerichteten Anstalt, bekannt unter dem Namen Schule.
Jene Schule, die einem all das beibringen soll, was dazu gehört, seinen Körper als Werkzeug zu begreifen und als den Arbeitskraftbehälter, den die kapitale Gesellschaft einem leihweise anvertraut. In dieser Kaserne zur Züchtung gehorsamer Arbeitsroboter wird exakt dort angeknüpft, wo das fremdgesteuerte Elternhaus die qualifizierende Vorarbeit geleistet hat. Hauptdressurinstrumente: Malträtieren, kujonieren und schikanieren. Als Kind drückt man natürlich bei den Eltern ein Auge zu und tut so, als sei alles halbwegs in Ordnung. Schließlich ist man das Opfer von Erpressung und abhängig von deren Gratifikationen, d. h. kostenlos Essen + Trinken + Wohnen, nicht zu vergessen das Versprechen auf Markenklamotten. Die Eltern wiederum machen sich den Staat nur zu gern zum Komplizen, schließlich bedingt ihre eigene Interessenlage, für sich eine Art Sozialarbeiter heranzuzüchten, der ihnen später im Alter unter die Arme greift. Fremdgesteuerte Eltern, die einem den Staat als eine Art gütigen Übervater nahelegen - soll man sich da wirklich wundern, dass Millionen junger Männer ihre Körper frohen Herzens auf den Kriegsschlachtbänken haben zerhäckseln lassen? Aber dies nur am Rande.
Wir waren ja bei der Zumutung der Selbstüberwachung, eine Routineleistung am eigenen Ich, die unsereins seit Kindheits- und Schultagen tagtäglich im Staatsauftrag ausübt. Die danach durch staatliche und privatkapitalistische Apparate verdoppelt wird. Und nunmehr sollen wir uns die Zusatzleistung abverlangen lassen, sogar die Staatssekurität auf die eigene Kappe zu nehmen?
Sorry, lieber Leser, ich muss mir jetzt selbst die Fußfessel anlegen und mich einer eingehenden Prüfung unterziehen, inwieweit ich staatszersetzenden Gedanken freien Lauf gelassen habe. Sobald ich aus der Selbstschutzhaft entlassen bin, melde ich mich zurück.