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Fremdschämen

Mein Nachbar tut Dinge, für die ich mich in Grund und Boden fremdschämen muss. Z. B. auf offener Straße wildfremde Frauen aus dem Stehgreif willkürlich anbaggern und nach der Uhrzeit fragen. Dabei ganz offen per Mimik zur Schau stellen, dass die Frage selbstverständlich nur ein Vorwand für gewöhnliche Anmache ist. Geht’s noch?! Wogegen ich mir zu Zeiten, als ich noch auf der Pirsch war, immer tagelang die ausgeklügelsten Diskursmuster ausgedacht und auswendig gelernt habe, bevor ich es überhaupt gewagt hätte, einer Vertreterin des weiblichen Geschlechts unter die Augen zu treten, geschweige gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und offen um ihre Huld zu buhlen.

Überhaupt ist die richtige Ansprache des imaginierten Zielpersonenspektrums die größte Herausforderung. Die allgemeine Versachlichung des Gefühlslebens gebietet es, jedweden unsachlichen Grund eines Annäherungsversuchs kategorisch auszuschließen. Die plumpe Täuschung, um nicht zu sagen Pseudotäuschung von wegen der Uhrzeit ist erst recht nicht auch nur im entferntesten die feine Art, die zum Ziel führt. Umso bitterer die Erfahrung, dass nicht wenige Damen sich auf diese Täuschungsebene bereitwillig einlassen und einem noch so einfallslosen Gockel spontan ihr Gehör schenken; mehr noch, im Affenzahn gleich Hochzeit feiern, zumindest für eine Nacht. Eine solch kulturlose Barbarei kränkt einen von der Pike auf gelernten Gehemmten wie mich zutiefst.

Bevor mir jetzt als schnödes Motiv der blanke Neid auf den Erfolg der Baggerstrategen unterstellt wird, gebe ich zu bedenken, dass ich auf die angekreidete weibliche Zielgruppe gar nicht versessen bin. Viel eher könnte ich dankbar sein, dass die Herrn Gockel mir Arbeit abnehmen und eine Art Vorselektion betreiben, so dass am Ende die Bahn freigeräumt ist für die potentiell wahre Begegnung mit der erträumten Auswahl an erlesenen Zielpersonen.

Wenn nur nicht dieses Fremdschämen wäre für die plumpen Vertreter von meinesgleichen, die nicht lange fackeln und nach der Tabularasa-Methode auf Beute aus sind, dabei ständig Erfolg haben, statt zu scheitern.

Sage einer, ich hätte nicht genügend Magazine gelesen, in denen genau aufgelistet ist, wie man es richtig macht. Meine dezente Anspracheperformance ist so konzipiert, dass Emotionen erst einmal ausgeblendet bleiben, und ich bei der Annäherung zunächst vorab behutsam die Aufmerksamkeit darauf lenke, dass es wohl danach aussehen könnte, als wären nur Vorwände und kein echter Anlass gegeben, gleichwohl aber von einem Anlass gesprochen werden müsse, indem gerade diesen zu beanspruchen ich mir die Freiheit mit Verlaub genommen hätte, wenn sie verstünde, was ich damit anzudeuten meinte. Auf keinen Fall wünschte ich eine Auskunft über die Uhrzeit, zumal mir die Zeit ihrer augenblicklichen Gegenwart als keiner real existierenden Uhrzeit kompatibel dünkte. Wenn die Dame dann einlenken und zu erkennen geben sollte, dass eine dermaßen anstrengende Serpentinenstrecke zum Ziel nicht in ihrem Sinne sei, habe ich die Wahl zwischen einem enttäuschenden Direkterfolg einerseits, d. h. dem flachen Genuss eines vorzeitigen mühelosen Gelingens - ein Bergsteiger dürfte kaum erpicht sein, einen Urlaub im Flachland zu verbringen - und andererseits den enttäuschenden Tantalusqualen der vergeblichen Anstrengung. Tritt ersteres ein, habe ich mir wenigstens die Last des Fremdschämens ein wenig auf Abstand gehalten.

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