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ОглавлениеRobert wirft die Jacke auf den Tisch und lässt sich in seinen abgeschabten Drehstuhl fallen, nestelt eine Zigarettenschachtel aus der Jeans. Er hält sie dem Techniker hin, einem Pferdeschwanzträger, den alle Zacko nennen. Zacko zeigt auf das Schild hinter ihm. »Rauchen verboten.«
»Ehrlich?«, fragt Robert und zündet sich eine Zigarette an.
»Nee. Natürlich nicht«, sagt Zacko und greift zu. »Ist doch jetzt eh scheißegal.«
Vor den Männern, raumbreit und raumhoch, eine Glaswand, dahinter das Studio. Die Kulisse ist die Skyline der Stadt, von Funkturm bis Fernsehturm. Mini-Lichter in den Papp-Fenstern. Sieht billig aus, denkt Robert. Das hätte ich Sarah ja gestern eigentlich auch mal sagen können. Drei Barhocker stehen in der Mitte, sonst ist das Studio leer. Nichts soll Zuschauer und Gäste ablenken, das ist Christians Konzept. Talk pur. Berlin hautnah. Aber diese blöden Lichter!
Ein Techniker im Holzfällerhemd und kurzen Cargohosen legt Ansteckmikrofone auf die Stühle. Zacko schiebt ein paar Regler auf dem Mischpult hoch und runter. Die Zigarettenasche fällt zwischen die Knöpfe, er bläst sie weg.
»Scheißegal«, sagt er.
»Jetzt sei doch nicht so weinerlich«, meint Robert und sucht nach einem Aschenbecher. »Noch ist kein Fall bekannt, bei dem ...«
»Ja, klar. Bei BSE waren’s am Anfang auch nur die Chinesen.«
»Das war die Vogelgrippe, Zacko. Das verwechselst du.«
»Was auch immer ... «
Über dem Regietisch hängen ein Dutzend Bildschirme von der Decke. In der Mitte das Programm des eigenen Senders, links und rechts die Konkurrenz, der Videotext und auf einem weiteren Monitor die Homepage der größten Zeitung der Stadt. Immer noch läuft überall das Material von Renner.
»Ich möchte echt gern wissen, wie der raufgekommen ist«, sagt Robert. Sein fester Kameramann und bester Freund Ben Lieving ist kaum mehr ansprechbar, seit Renner den Film angeboten hat. Neid ist gar kein Ausdruck. Solche Jobs sind normalerweise Bens Ding. Oder richtiger: sind ihr gemeinsames Ding. Aber seit ein paar Wochen läuft es einfach nicht mehr.
»Ich denke, er hat einen von den Bullen bestochen oder so«, sagt Zacko.
Robert schüttelt ungeduldig den Kopf. Was weiß ein Techniker, wie so was geht?, denkt er. Was weiß denn ich über diese ganzen Knöpfe da auf seinem Mischpult? Tatsache ist: Renner hat die Bilder, diese fantastischen Bilder, und wir haben sie nicht.
Hinter der Glasscheibe tauchen jetzt immer mehr Leute auf, auch Sarah. Sie sieht gut aus. Nicht vertrautgut, sondern profigut. Ausgeruht, lässig. Wie sie das wohl angestellt hat, nach der kurzen Nacht? Sie bemerkt ihn, hebt aber nur den Arm zu einem schnellen Gruß. Was auch sonst?
»Wir sind Idioten. Komplette Idioten«.
Diese SMS schickte sie ihm um 4:55 Uhr, wahrscheinlich aus seiner Wohnung, als er noch schlief. Roberts schlechtes Gewissen ist wieder da, natürlich, obwohl die Nacht sein Plan war, seit Christian ihn vor vier Monaten in sein Büro geholt hatte und Sarah dasaß und er mit offenem Mund vor den beiden stand und nichts sagen konnte. Vor Überraschung, vor Glück und vor Angst. Weil es wieder losgehen würde mit ihnen. Nicht ganz von Anfang an, dafür kannten sie sich zu lange, aber mit dem unvermeidlichen, ewig gleichen Ausgang: Sarah verzweifelt, Robert demaskiert als das Monstrum, das er schon immer gewesen ist.
»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, sagt Zacko. Ja, natürlich, denkt Robert und fragt sich, ob der Techniker bekifft ist. Alle Techniker kiffen. Aber, mein Gott, es ist noch nicht mal elf Uhr morgens! Zacko nickt zum mittleren Bildschirm, auf dem n-tv läuft. »Breaking News« steht auf dem Nachrichtenband.
»Mach mal lauter«, sagt Robert, und Zacko tippt auf die Fernbedienung.
»... zweiundzwanzig Tage nach dem erstmaligen Auftreten der Erkrankung scheinen die Behörden nach wie vor keine Erklärung für oder eine Strategie gegen den sogenannten Lazarus-Virus zu haben. Der Krisenstab der Bundesregierung, die Kanzlerin und die wichtigsten Minister haben die Hauptstadt verlassen, um in Bonn über das weitere Vorgehen zu entscheiden ...«
Die Bilder: schwarze Limousinen vor dem Kanzleramt. Die Kanzlerin steigt ein, ein paar Minister. Alle in schwarzen Anzügen, nur Baron von Tendy wie immer in Zivil. Ernste Miene, superprofessionell und eine Spitzenfrisur. Er ist der Einzige, der den Reportern ins Mikro spricht:
»... sind wir in der ehemaligen Hauptstadt auf eine solche Situation bestens vorbereitet und durch die Nähe zu den europäischen Behörden in Brüssel vielleicht sogar an einem noch idealeren Ort, um zielgerichtet ...«
»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, wiederholt Zacko, wohl aus Sorge, dass Robert den Gag beim ersten Mal nicht gehört hat. Er nickt und deutet ein Lächeln an. Wie alle anderen Journalisten war auch Robert auf Tendy hereingefallen, auf seine verbindliche Art, seine vornehme Herkunft, seinen unverhohlenen Drang nach Aufstieg, Führung und Verantwortung. Es hatte ihn ehrlich beeindruckt, wie offen der Politiker mit ihm über seine Ambitionen sprach. Erst als der Provinzfürst, mittlerweile Bundesminister, genau das nicht mehr tat, erkannte Robert, dass er nur einer der vielen Steigbügelhalter gewesen war, nutzlos ab dem Moment, als Tendy die nächste Stufe erklommen hatte. Es war zwar nicht das erste Mal gewesen, dass Robert von einem Politiker benutzt worden war, diesmal aber hatte es wehgetan, denn er hatte wirklich geglaubt, dass da so etwas wie Freundschaft im Spiel gewesen war.
Im vergangenen Jahr hatte ihn Tendy in seinen Brandenburger Wahlkreis eingeladen, auf das Landgut seiner Familie. Der Baron hatte Robert überredet, mit auf die Jagd zu gehen. Im Morgengrauen waren sie aufgebrochen, in einem Audi Q7. Die einzige Waffe, die Robert jemals in der Hand gehalten hatte, war die verfluchte Pistole in Warschau gewesen, jetzt drückte ihm Tendy eine Flinte in die Hand, mit in den Schaft geschnitztem Familienwappen. Auf einer Lichtung trafen sie einen Waldhüter, stiegen zu dritt auf den Hochsitz und warteten, bis eine Rotte Wildschweine herantrottete, angelockt von ausgelegten Ködern. Ihr Moschusgestank strömte über den ganzen Platz. Seit seiner Jugend hatte Robert so etwas nicht mehr gerochen, düster wie der Wald, geil wie ein schweres Parfüm. Der Abgeordnete ballerte als erster, eine Bache und zwei Frischlinge brachen blutend zusammen, dann schoss der Wildhüter und schließlich auch Robert, immer und immer wieder, er konnte nicht anders, obwohl er ständig an Sarah und Christian und Warschau denken musste. So aber hatten sie etwas besiegelt, der Politiker und der Journalist, mit dem Blut dieser armen Wildschweine, ein Männerding, für das sich Robert schämte und das ihn doch auch stolz machte. Anschließend reichte ihnen der Wildhüter Schnaps aus einem Flachmann in einer Lederhülle. Sie tranken mit gierigen Schlucken, es war noch nicht einmal sieben Uhr morgens.
Ob er mit der Kanzlerin wohl auch zum Jagen war?, fragte Robert Christian, als sie ein paar Monate später gemeinsam die Bilder von Tendys Ministereid in der Tagesschau sahen. Es sollte spöttisch klingen, tat es aber nicht, sondern enttäuscht, denn die Treffen mit dem Jagdkumpanen waren immer seltener geworden. Und als er vergangene Woche wegen eines Interviews anfragte, vertröstete ihn Tendys Vorzimmerdame auf Montag. Das Gespräch, das er hatte führen wollen, las er dann schon am Sonntag im Vorabdruck des Spiegel – dem Magazin, das mit der Frau des Politikers wegen ihrer Tätigkeit für eine dubiose Pharmafirma zwar hart ins Gericht gegangen war, aber eben überregional erscheint und nicht, wie Christians Sender, nur in Berlin zu sehen ist.
Robert drückt die Facebook-App auf seinem Telefon, die blaue Seite öffnet sich. Nicht, dass ihn der Müllmix aus Erlebnissen, Gedankenfetzen und Einladungen von Freundesfreunden sonderlich interessierte; er will nur jede weitere Unterhaltung mit Zacko verhindern, bis die Aufzeichnung beginnt.
Seine Mutter postet ein Foto von einem neuen Hotel, das ihrer Meinung nach den Strand verschandelt, Bands kündigen Konzerte an, ehemalige Kollegen schicken Links zu Artikeln, die sie bemerkenswert finden. Menschen, die er nicht kennt, wollen ihm virtuelle goldene Eier und Zauberpflanzen für Spiele schenken, die er nicht spielt, amerikanische Hausfrauen schicken Fotos von Katzen, die aussehen wie Adolf Hitler. Roberts Finger schiebt die Meldungen weiter und weiter, dann ist da ein Foto, das von einer Facebook-Gruppe namens »Darwins Freunde« gepostet wurde: das bekannte Bild mit den drei wankenden Gestalten, dazu eine Überschrift in Schnörkelschrift: »Was, wenn sie der nächste Schritt der Evolution sind?« Das wiederum ist so krank, dass Robert für einen Moment überlegt, es Zacko zu zeigen, der würde sich sicher freuen.
Dann klopft es an der Glasscheibe, und Sarah steht vor ihm, ganz nah. Sie verdreht die Augen und macht eine Halsabschneidergeste. Aber es geht nicht um die Kanzlerin und Tendy auf dem Bildschirm. Es geht um ihren Studiogast.
Ganz großer Auftritt.
Olaf Sentheim, im billigen, blauen Anzug, an den Ärmeln schon glänzend, und doch fürstlicher, als es von Tendy je werden könnte. Die weißen Haare zerzaust, perfekter Albert-Einstein-Look und natürlich Sentheims Markenzeichen, die schwarze Klappe vor dem linken Auge. Die Magnum-Flasche Armand de Brignac, die der Chefredakteur des Stern für den Journalisten ausgelobt hatte, der ihm die Geschichte über Sentheims verlorenes Auge bringen würde, ist nach wie vor ungetrunken.
Aber es ist jedes Mal Sentheims Gang, stolz und doch leicht, federnd und bestimmt, der Robert imponiert. Diesen Gang hat man oder man hat ihn nicht. Solche Männer straucheln, aber sie fallen nicht, und wenn sie fallen, werden sie zur Legende. Vor weniger als einem Jahr hatte Robert ihm ein Bein gestellt. Jetzt aber ist Sentheim wieder obenauf.
Der Mann, der hinter Sentheim ins Studio kommt, hat eine Glatze, trägt einen weißen Kittel und eine rahmenlose Brille. Das ist also der »wissenschaftliche Experte«, den jede Talkshow braucht. Wahrscheinlich ein Genie, wenn es darum geht, innerhalb einer Woche vier Generationen von Meerschweinchen um die Ecke zu bringen und das Ganze als Triumph der Medizingeschichte zu verkaufen, aber in einem Fernsehstudio ein hilfloser Fall. Er klettert auf den Barhocker mit einer Konzentration, als wäre es der Mont Blanc.
»Siehst du das? Der gibt Sarah noch nicht einmal die Hand! Was ist denn das für ein Arschloch! Sentheim, du Wichser!«
Zacko zeigt dem Weißhaarigen durch das Glas den Finger. Das ist nicht sonderlich mutig, weil die Studiogäste jetzt nicht mehr sehen können, was im Regieraum passiert. Dann muss sich der Techniker auf seinen Job konzentrieren, denn der Vorspann der Sendung läuft bereits. Robert zündet sich eine zweite Zigarette an.
»... begrüßt Sarah Samir nun Professor Andreas Schadeck, den Chefvirologen der Charité, und den ehemaligen Justizsenator von Berlin, Olaf Sentheim, dessen Buch Debatte Deutschland seit einem halben Jahr die Agenda sowohl im Bundestag als auch an den Stammtischen bestimmt. Herzlich willkommen bei Streitzeit Mitte.«
Das Telefon klingelt. Zacko sagt: »Scheiße «, und hebt ab. Dann wirft er Robert den Hörer zu. »Ist für dich. Führerhauptquartier.«
»Mist.«
Der Techniker zuckt mit den Schultern.
Die Stimme im Hörer gehört Emma. Christians Sekretärin. Sie säuselt: »Robert, er will dich sehen.«
Robert fragt: »Hat das nicht Zeit?«
Emma antwortet: »Ich glaube eher nicht. Nein. Er hat gesagt, sofort.«
Robert wirft den Hörer neben den Apparat und macht eine abfällige Geste. Zacko schaut nicht hin, er ist mit der Sendung beschäftigt. Durch das Glas sieht Robert Sentheim, der lächelt, Sarah zieht die Augenbrauen hoch. Das kann ja was werden, denkt Robert und stemmt sich aus dem Sessel.