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In der Stadt, in der die Toten sich erheben, geht das Leben seinen Gang. Noch schläft Robert, unruhig, aber immerhin, er schläft. Das schwarze Bettlaken hat sich um seine Beine gewickelt, die Füße zucken in kurzen Abständen. Das blonde Haar verklebt, verfilzt von dem Schaum, der seine Strähnen tagsüber fast wie einen Helm nach hinten bändigt. Nachts eine Katastrophe. Ein Speichelfaden läuft aus seinem Mundwinkel, rinnt am Kinn mit den Bartstoppeln entlang und tropft auf das Kissen. Er sollte sich mal rasieren, wirklich. Kein schöner Anblick, der schlafende Robert. Aber immerhin, er schläft. Schon bald könnte das Luxus sein: durchschlafen. In einem Bett, in einer Wohnung, in einem Haus, in einer friedlichen Straße, mit Geschäften, Autos, Menschen.

Lebenden Menschen.

Roberts Kopf zuckt, er träumt. Wer schläft, verarbeitet die Wirklichkeit. Kein Wunder, dass Roberts Kopf zuckt.

Sarah ist schon eine ganze Weile wach. Erst hat sie Robert beim Schlafen zugesehen, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Jetzt starrt sie aus dem Fenster über dem Bett. Der Mond steht gelb am Himmel, rot und weiß blitzen die Lichter an der Spitze des Fernsehturms. Der Himmel ist das Einzige, was sich nicht verändert hat.

Robert schnarcht leise – ein gedämpftes Rasseln, wie durch Watte. Aber bald wird er aufwachen, sich duschen und in den Sender fahren. Dort werden sie sich wieder treffen. Das wird unangenehm. Im Moment gibt es nur Fragen.

Der Fernseher läuft, ohne Ton. Die flackernden Bilder sind immer dieselben. Die Sender zeigen sie seit Tagen: drei Gestalten, taumelnd, wie betrunken oder im Halbschlaf. Dann zoomt die Kamera zurück, man erkennt, dass der Fotograf auf einer Art Aussichtsposten steht. Das Bild wackelt, ein Polizist legt seine Hand auf die Linse, es wird dunkel, der Ton läuft weiter. Jetzt hört Sarah ihn nicht. Aber sie hat den Film tausendmal gesehen, sie weiß, was der Polizist schreit:

»Was machen Sie hier? Sie haben keine ... Sie dürfen hier nicht ... Also, verlassen Sie umgehend das Sperrgebiet! Sofort!«

Sie zeigen den Film mehrmals hintereinander, auch in Zeitlupe. Er ist nur ein paar Sekunden lang, fantastisches Material. Ihr Sender hat es von Renner, einem freien Kameramann, gekauft. Weiß der Teufel, wie er auf den Turm gekommen ist. Aber er war oben, der einzige, der einen Blick auf die andere Seite werfen konnte. Die Kollegen erzählen, er hätte gekotzt, nachdem er sein Material abgeliefert hatte.

Renner war nach Hause gefahren, und Christian hatte ihm eine Flasche Whisky per Boten hinterhergeschickt. Seine Art, Danke zu sagen. Die Bilder sind Gold wert, erst vierundzwanzig Stunden exklusiv gesendet, dann verkauft, landesweit, weltweit. Sie zeigen es immer noch, nach drei Tagen, überall, als Beweis dafür, dass diese endlosen Expertenrunden, Ein-Stunden-Sondersendungen, Talkshows, Verlautbarungs-Pressekonferenzen und Außenreporter-Reportagen wirklich nötig sind. Als Beweis, dass es richtig ist, nicht das Traumschiff zu zeigen oder Wer wird Millionär? oder Frauentausch oder Die Deutschen, Teil 2.

Der Titel des Logos links oben ist auf fast allen Kanälen gleich.

Der Lazarus-Virus.

Der Sender, für den Sarah arbeitet, zeigt das Material in starker, grob aufgepixelter Vergrößerung. Die Augen, der Mund. Das Blut.

Robert schläft weiter. Sarah ist wach. Die Toten laufen. Die Stadt begreift erst langsam. Bäcker backen Brot, Lastwagen beliefern Supermärkte, es gibt natürlich noch immer Hummer, Schnittblumen und die neuesten Killerspiele für die Playstation 4. Der Müll wird abgeholt.

Die Fernsehbilder sind nah und doch weit weg. Angst schleicht sich langsam an, bevor sie zur Panik wird. Und es wird zur Panik kommen, aber so weit ist es noch nicht. Der Bürgermeister hält eine Rede, der Innensenator spricht. Es gibt einen Krisenstab. All das soll zeigen: Sie wissen, was sie tun. Und es gibt eine Erklärung, die beruhigen soll: Nicht jeder kann es bekommen!

Das Leben geht weiter. Die Zeitungen erscheinen. Sarah fischt nach dem iPhone und surft durch die Schlagzeilen von heute Morgen.

»Ihre Toten laufen!«

»Wie Experten sich den Lazarus-Virus erklären.«

»Meine Nacht an der Mauer zum Reich der Toten. Ein Berliner Polizist erzählt.«

Noch scheint alles beherrschbar, unter Kontrolle. Noch kann man analysieren und reden und sich einig sein, dass es bald eine Lösung geben wird. Vielleicht ist der Virus ja ein Zeichen, eine Strafe. Das denkt jedenfalls Sentheim. Wenn er in ihrem Studio sitzt, in weniger als fünf Stunden, wird sie ihn darauf ansprechen.

Sarah hat Angst. Vor dem Virus, aber auch vor den Theorien. Gefährlicher als die Krankheit sind die Menschen.

Robert schläft. Was macht sie hier? Warum ist sie nackt? Sie haben gevögelt, den kurzen Rest der Nacht, ohne Verstand. Genau das hätte nie mehr wieder passieren sollen. Das hatte sie sich geschworen, damals, in diesem Schleier aus Blut, in Warschau. Sie tastet nach ihrer rechten Wange, dahin, wo die Narben sind. Sie streicht ihre schwarzen Locken auf die Seite.

Sarah steht auf, sie wickelt sich ihr Laken um den Körper. Nackt will sie nicht sein, obwohl es niemand sieht. Ihr Fuß stößt Robert an, erst leicht, dann fest. Doch er schläft weiter. Sie beugt sich zu der Fernbedienung hinunter, greift sie mit der rechten Hand.

Sie drückt auf die Volume-Taste, die Stimmen der Nachrichtenleute werden lauter und lauter.

»... erreicht die Zahl der Infizierten nach ersten Schätzungen mittlerweile eine fünfstellige Höhe. Bis heute sind ausschließlich Fälle bekannt, in denen Mitbürger mit Migrationshintergrund betroffen sind. Während mit Hochdruck an einer wissenschaftlichen Erklärung dieses Phänomens gearbeitet wird, sind die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln jenseits des Columbiadamms bis zur Spree und dem Oranienplatz bis nach Treptow weiterhin gesperrt und nicht mehr zugänglich.«

Sarah zappt.

»Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, alle erdenklichen Mittel anzuwenden, um eine Ausweitung des Infekts zu stoppen, und haben vom Krisenstab des Innensenators die Erlaubnis erhalten, im Notfall von Schusswaffen Gebrauch zu machen. Nach dem Ablauf der Frist für die Evakuierung ist das Gebiet zwischen ...«

Sarah zappt.

»... werden seit einer Woche die provisorischen Sicherungsanlagen entlang der sogenannten Kontrollierten Zone durch massive Betonfertigteile verstärkt. Der Bereich innerhalb dieser Grenzanlage wird von fünfunddreißig Wachtürmen aus rund um die Uhr überwacht ...«

Sarah zappt.

»... ein internationales Expertenteam arbeitet in der Charité an der Entschlüsselung des Virus ...«

Sarah zappt.

»... haben die Sicherheitskräfte vom Krisenstab des Innensenators den Schießbefehl erhalten, wie ein Senatssprecher auf Nachfrage der Nachrichtenagentur dapd einräumte ...«

Sarah zappt.

»... erklärte Regierungssprecher Teller ausdrücklich, dass es sich bei der Evakuierung des Regierungsviertels nur um eine Vorsichtsmaßnahme handele. Das operative Geschehen liegt nach wie vor bei den Behörden des Berliner Senats. Die Kanzlerin sagte gegenüber der Deutschen Presseagentur, dass die Vorfälle nach wie vor als regionales Phänomen und nicht als nationale Krise zu bewerten seien.«

Ab wann wird es wohl als nationale Krise bewertet werden? Wenn die Reporter nicht mehr darüber sprechen können, was sie sehen, sondern nur noch das nachplappern, was ihnen die Behörden erzählen? Wenn alle Fernsehstationen die gleichen Bilder senden, die Talkshows die gleichen Gäste haben, wenn da plötzlich Leute sind, die behaupten, sie hätten die Lösung? Eine ganz einfache Lösung?

Olaf Sentheim sagt, er wisse, was zu tun sei. Er hat sich nicht geändert, seit Robert ihn im Januar zu Fall brachte.

Sarah zündet sich eine von Roberts Zigaretten an, obwohl sie nicht raucht. Schaltet den Fernseher aus und sieht sich um. Eine gute Wohnung. Edel, aber nicht protzig. So eine, wie Robert sie immer haben wollte. Robert hat seine Träume wahr gemacht. Einen Moment überlegt sie, nach der Pistole aus Warschau zu suchen. Sie reibt sich die Narbe unter ihrem rechten Ohr. Sie zieht, wie immer. Scheiß Warschau! Scheiß Robert! Scheiß Christian!

Sarah tritt auf die Planken der Holzterrasse. Die Stadt liegt vor ihr.

Im Südwesten ein Schuss. Sarah zieht an der Zigarette. Erstaunlich, wie schnell man sich an das Geräusch von Schüssen gewöhnt. Etwas stirbt, und man hört weg.

Sie wirft die Zigarette über die Brüstung, klaubt ihre Sachen zusammen, streift sich das Kleid über und schlüpft in die Schuhe. Robert schläft immer noch. Sie sieht den roten Bart, den Speichelfaden, aber auch sein Lächeln. Warum lächelt er? Weil er glaubt, dass er unschuldig ist. Dass er alles richtig macht. Das hat er immer geglaubt, und damals hat sie ihm das auch abgenommen – und deswegen hat sie ihn geliebt. Damals.

Sie hätte den Job nicht annehmen sollen.

Zeit heilt keine Wunden. Zeit heilt gar nichts.

Sie geht zur Tür und tippt eine SMS, während sie die Treppe hinuntereilt.

Der nächste Schuss hallt über die Straße, als sie schon unten ist.

Berlin Requiem

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