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Hinter der Glasscheibe steht Olaf Sentheim allein im Studio und sortiert seine Papiere, legt sie in eine braune Aktentasche aus augenscheinlich sehr teurem Leder, die nicht zu seinem billigen Anzug passt. Olaf Sentheim hat offensichtlich gute Laune.

Auf der anderen Seite, im Technikraum, trifft Robert auf Zacko, der, mit einer glimmenden Zigarette in der Hand, in seinem Stuhl hinter dem Mischpult alle viere von sich streckt.

»Alter, ich weiß ja nicht, was oben bei Christian los war. Aber hier unten hast du echt was verpasst.«

Robert sieht sofort, dass etwas schiefgelaufen ist. Und zwar gründlich.

»Warum seid ihr schon fertig? Die Sendung müsste doch noch mindestens zehn Minuten laufen ...«

»Die Show hat gerade mal zehn Minuten gedauert, Alter.«

»Zeig mir das Band!«

»Genau, Mann, das solltest du dir angucken. Sarah hat’s echt gebracht, aber dieser Sentheim ist einfach ein Oberdreifachnaziarsch.«

Der Oberdreifachnaziarsch hat sich unterdessen seine Tasche unter den Arm geklemmt, schaut sich noch einmal im Studio um und verlässt es jetzt durch die schwere Tür, über der immer noch der Hinweis »Achtung Aufnahme« rot leuchtet. Im Herausgehen winkt er in Richtung Scheibe.

Ganz großer Abgang.

Zacko drückt auf ein paar Knöpfe und zeigt auf einen kleinen Monitor. Robert erkennt am Timecode, dass die Talkshow seit 4 Minuten, 53 Sekunden und 31 Millisekunden läuft. Dann startet Zacko die Aufnahme.

Schadeck, der Experte spricht.

»... der Virus ist höchst ansteckend, das steht ganz außer Frage, wir wissen, dass die Übertragung durch direkten Körperkontakt erfolgt.«

Sarah fragt: »Was bedeutet das: direkter Körperkontakt?«

Schadeck wiegt den Kopf. Er quält sich.

»Nun, äh, durch ... durch Bisse. Die Infizierten greifen ihre Opfer an, und, nun ja, sie beißen sie.«

»Also, wie ... wie Vampire?« Sarahs Stimme klingt spöttisch, obwohl Robert weiß, dass es nicht so gemeint ist.

»Nein, natürlich nicht. Es gibt keine Vampire ...«

»Aber wie soll man sich das dann vorstellen?«

»Es ist, ich würde sagen, eher eine Form von extrem aggressivem Kannibalismus.«

»An lebenden Menschen?«

»Ja. Das ist korrekt.«

»Sie wollen sagen, die Infizierten essen ihre Opfer?«

Schadeck nimmt seine Brille ab und dreht sie in der Hand.

»Nach allem, was wir wissen, und sie müssen bedenken, dass es so gut wie keine Augenzeugen gibt, ist es so, dass den Opfern fürchterliche Verletzungen zugefügt werden, normalerweise sogar tödliche Verletzungen. Aber sie werden nicht, nun ...«

Die Schweißperlen auf Schadecks Stirn laufen zusammen, werden zu einem kleinen Rinnsal.

»... sie werden nicht aufgefressen. So ist es nicht, nein. Irgendwann ... Irgendwann lassen ...«

»Ja?«

»... lassen sie von ihren Opfern ab, alle gemeinsam. Es ist fast wie ein archaisches Ritual, so könnte man es vielleicht beschreiben.«

Sentheim schüttelt energisch den Kopf, er geht dazwischen. »Ja, wie bei den Wilden. Wie bei den verfluchten Wilden!«

Schadeck blickt zu Sentheim, setzt seine Brille auf, sagt dann schnell: »Aber ich bin kein Anthropologe, Frau Samir. Ich kann Ihnen nur zu der medizinischen Seite Auskunft geben.«

»Gut, das verstehe ich. Spekulationen bringen uns nicht weiter. Was also genau richtet der Virus im Körper an?«

»Wenn er in das Blutsystem des Opfers gelangt, also durch die Bisse, dann, nun ...«

»Ja?«

»... beginnt ein Prozess, den wir die Transformationsphase nennen. Die Körperfunktionen setzen aus.«

»Erklären Sie uns das, bitte.«

»Nun, bei den insgesamt, äh, drei Patienten, die wir behandelt haben, konnten wir nach der Infizierung weder Puls noch Atmung feststellen. Die Personen waren aber ansprechbar, also wach. Wir konnten mit ihnen, also, sie mit uns ... Sie konnten ... reden. Ja .«

Sarah runzelt die Stirn.

»Sie können sprechen? Und sie wussten, was mit ihnen geschehen ist?«

»Ja, in dieser Phase ganz bestimmt. Also in zwei Fällen war das so. Die dritte Person war zu sehr ... verletzt. Ihr Hals war einfach viel zu beschädigt, um ...«

Sarah schüttelt den Kopf. »Sie waren bei Verstand, obwohl es keine Atmung und keinen Puls gab, sie waren also ...«

Sentheim unterbricht: »Tot. Absolut tot!«

»Und was geschieht dann später, nach der Transformationsphase, wie Sie das nennen?«

»Nach einem gewissen Zeitraum, der unterschiedlich lang sein kann, fallen die Infizierten in eine kurze Phase, die man sich wie ein, nun, Koma vorstellen kann.«

»Nach einem gewissen Zeitraum?«

»Nach unseren Beobachtungen und denen der Einsatzkräfte an der Kontrollierten Zone zwischen acht und zwölf Stunden. Vielleicht auch länger. Das hängt offensichtlich davon ab, wie schwer die Verletzungen sind.«

Wieder fällt ihm Sentheim ins Wort.

»Und dann kommen sie zurück.«

Sarah schüttelt den Kopf, kneift die Augen zusammen. Zu Schadeck: »Aber sie sind nicht mehr so wie vorher, oder?«

»Nein, nein. In dieser finalen Phase ist es ihnen nicht mehr möglich zu kommunizieren. Ihre Motorik ist – je nach Verletzung – funktionsfähig. Aber alles andere ...«

»Und dann fallen sie über Menschen her! Sagen Sie es doch! So ist es! Es hat Todesfälle gegeben!« Sentheim brüllt jetzt fast.

»Ja, das ist korrekt. Die Infizierten haben Personal in der Charité angegriffen. Sie – erwachten, und ihre Körper, anders kann man das wohl kaum mehr nennen, gingen auf ...«

Sentheim fällt ihm ins Wort: »Sie sind auf einen Arzt und eine Krankenschwester losgegangen!«

Schadeck, mit einem irritierten Blick zu Sarah: »Ja.«

»Und haben sie regelrecht zerfleischt!«

»Ja.«

Sarah bleibt ruhig. Alle Achtung, denkt Robert.

»Was genau geschah mit den Patienten nach diesen Vorfällen?«

Sentheim, noch lauter: »Ich tue mich äußerst schwer, wirklich äußerst schwer, in diesem Fall von Patienten zu sprechen. Sollten wir nicht endlich Ross und Reiter nennen? Also: Täter und Opfer?«

»Bitte, fahren Sie fort, Professor Schadeck. Was geschah mit den Personen, die Ihr Personal angegriffen haben?«

»Der Sicherheitsdienst hat sie, nun, erschossen.«

Sarah, leise: »Die Toten wurden – erschossen?«

»Ja, es wurden gezielte Schüsse abgegeben, in den Zerebralbereich, um genau zu sein.«

Schadeck weiß offenbar nicht, wie sehr er ins Detail gehen soll, und Sarah schweigt, eine Sekunde zu lang. Sentheim nutzt die Gelegenheit. Die kurze Stille wirkt wie eine Kunstpause, bevor er herausplatzt: »Kopfschüsse heißt das auf Deutsch.«

Sarah sieht zu Sentheim. Dann wieder zu Schadeck.

»Und was geschah mit dem Arzt und der Schwester?«

Schadeck wirft Sentheim einen flüchtigen Blick zu, den Sarah nicht bemerkt. Aber Robert ist für eine Sekunde irritiert.

»Nun, sie waren ... Sie, äh, erlagen ihren multiplen Verletzungen.«

Robert wendet sich vom Monitor ab. Sagt zu Zacko: »Okay, das weiß ich alles schon. Spul vor. Was ist dann passiert?«

Der Techniker zuckt mit den Schultern, legt seine Finger auf ein kleines, joystickartiges Rad auf der Tafel und spult so vor. Die Bewegungen der Teilnehmer sind im Schnelldurchlauf slapstickhaft verzerrt. Aber eins erkennt Robert sofort: Sentheim hat viel mehr Redeanteile.

Zacko verlangsamt das Tempo.

»Und hier, jetzt, das müsste es sein.«

Der Timecode steht bei 9:12:34. Schadeck hat das Wort.

»... die Patienten in der Klinik waren drei Männer mit arabischer und türkischer Herkunft, ja, das kann ich bestätigen.«

Sentheim, jetzt erstaunlich ruhig: »Und aus der Kontrollierten Zone, was berichten die Sicherheitskräfte da?«

»Auch dort scheinen ausschließlich Personen aus diesem Bevölkerungsbereich betroffen zu sein.«

Jetzt hakt Sarah ein, völlig gefasst: »Ich muss da noch einmal nachfragen. Sie sagen also, dass der Virus nur Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund befallen hat?«

»So ist es.«

Sentheim geht dazwischen.

»Der Ursprung dieser Seuche lässt sich demnach ganz klar festlegen, das heißt ethnisch verorten. Das Phänomen, mit dem wir es hier zu tun haben, scheint mir ein biologisches Problem zu sein. Da ja bekannt ist, dass diese Menschen bestimmte Gene teilen ...«

Sarah stutzt für einen Moment. Sie legt den Kopf schief. Das ist die Story, über die morgen alle reden.

»Wie meinen Sie das?«

»Ganz genau so, wie ich es sage: Türken und Araber teilen ein bestimmtes Gen, das sie von anderen unterscheidet. Und nur Türken und Araber werden infiziert. Ergo: Es muss an diesem Gen liegen.«

»Am Türken-Gen, oder wie verstehe ich das?«

Robert schlägt die Faust in die flache Hand.

Achtung! Jetzt hat sie ihn. Jetzt darf sie es nicht vermasseln. Er sieht Sentheim an, wie es in ihm arbeitet. Er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Er ist zu weit gegangen. In Deutschland spielt man nicht mit Genen.

»Noch mal, Herr Sentheim, liegt es am Türken-Gen?«

Er kommt nicht mehr zurück. Er sitzt in der Falle.

»Wenn Sie so wollen: Ja, am Türken-Gen.«

Cool bleiben, Mädchen. Lass ihn reden, und er ist so gut wie erledigt. Einfach laufen lassen!

Aber Sarah verliert die Fassung.

Ihre Locken fallen zur Seite.

Die Narben unter ihrem rechten Ohr pochen.

Ihre Stimme wird schrill.

Wer schreit, hat verloren. Immer, überall.

»Das ist ungeheuerlich, was Sie hier behaupten, das ist Ihnen doch wohl klar?«

Sie hat recht, aber so läuft das nicht. In ihrem Zorn wirkt sie selbstgefällig. Ganz schlecht.

»Nein, das ist durchaus nicht ungeheuerlich. Aber vielleicht unbequem für ...«

Sarah gerät außer Kontrolle: »Für wen soll das unbequem sein?«

»Mein Gott, Frau Samir, dann muss ich es eben aussprechen: Für Leute wie Sie! Türkische Leute, arabische Leute. Und Ihre Freunde, die nicht einsehen wollen, wem wir diese Seuche zu verdanken haben, die sie alle immer noch verniedlichend Lazarus-Virus nennen. Soll ich Ihnen sagen, wie ich diesen Virus nennen würde? Ich würde sagen, wir sollten es den Mohammed-Virus nennen.«

Das wollte er nicht sagen, das war nicht geplant, das hat jeder gesehen. Aber sie hat ihn provoziert mit ihrem schrillen Geschrei. Für die Zuschauer war er eine Sekunde lang ihr Opfer. Und dann ist etwas aus ihm herausgeplatzt. Er hat nur ausgesprochen, was alle denken.

Für Sentheim ist es perfekt gelaufen. Sarah hat es vermasselt. Big Time.

Aber es kommt noch schlimmer.

Jetzt steht sie auf und kippt Sentheim ein Glas Wasser in den Schoß und verlässt das Studio.

Zacko stoppt die Aufzeichnung.

Robert fragt: »Wann war das?«

»Vor ziemlich genau fünfundzwanzig Minuten.«

Robert blickt auf sein iPhone.

Eine SMS.

»Es tut mir leid. Such mich nicht

Du mich auch, denkt Robert. Du mich auch, blöde Kuh. Aber es brennt wieder. Das Spiel hat von Neuern begonnen. Ein Grund mehr, zu gehen. Und zu bleiben.

Berlin Requiem

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