Читать книгу Berlin Requiem - Peter Huth - Страница 16

9

Оглавление

Nach der zweiten Flasche Corsair findet Sarah den Mut, nach dem Schlüssel zu suchen, eine ganz und gar alberne Angelegenheit, denn natürlich weiß sie, wo er ist: in dem ehemals weißen, jetzt an den Rändern vergilbten Pappkarton von Ikea, begraben unter abgelaufenen Ausweisen, einer kaputten Uhr, ihrem Impfpass, ein paar Briefen, Unterlagen und Zetteln – diesem ganzen Krempel eines vergangenen Lebens, vor allem aber unter den alten Fotos –, und vor genau diesen Fotos hat sie Angst.

Robert und Sarah, das Album. Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Ziemlich saugute Zeiten und dann nur noch ziemlich extrem schlechte Zeiten. Wie immer, wenn sie die Kiste öffnet, versucht Sarah, nicht auf die Fotos zu sehen, aber das geht nicht. Also blättert sie die Bilder auch jetzt durch. Sie im Bikini und Robert in grünen Shorts am Schlachtensee, sie und Robert vor dem Cibo Matto in Mitte, im E-Werk, beide vollgepumpt und außer sich. Die nächsten Fotos hatte Christian gemacht. Sie, Robert und seine Mutter; ihre Mutter und Robert in Spanien, in Altea. Dann: Robert und Sarah auf dem Eiffelturm, in der Metro, das erste gemeinsame Hotelzimmer. Es sind vielleicht hundert Fotos, abgegriffen, so oft hat sie sich die Bilder angesehen in der schlimmen Zeit nach Warschau, den schlimmen Jahren nach Warschau.

Ihre Narbe beginnt zu pochen, sie kratzt sich unwillkürlich fester, weil der Schmerz ihr guttut. Das letzte Bild: Robert und sie in dem gelben Bambuskachelbadezimmer im Hyatt. Aufgenommen am Morgen vor der Nacht, in der Christian ihr fast das Gesicht weggeschossen hätte.

Sarah fischt den Schlüssel heraus, wirft die Fotos zurück in den Karton. Sie zieht sich eine Jacke über, winkt an der Straße ein Taxi heran, gibt dem Fahrer die Adresse im Grunewald und setzt sich die Kopfhörer auf und dreht »My Death« von Scott Walker auf volle Lautstärke. Der Taxifahrer gibt ordentlich Gas, und die Straße und die Lichter verwischen, die Fahrt kann Sarah gar nicht lange genug dauern. Am besten wäre es, immer weiter zu fahren, dieses eine traurige Lied immer und immer wieder zu hören, bis man vergessen hat, wohin man möchte und vor allem, wo man herkommt.

Die beiden größten Fehler ihres Lebens – alle Achtung – trennen nicht mal acht Stunden und verbinden sich auf geradezu gespenstische Weise. Robert, den sie wieder in ihr Leben gelassen hat – noch schlimmer: in ihre Seele –, und das Glas Wasser in Sentheims Schoß, das sie wahrscheinlich die Karriere kosten wird. Christian wird den Teufel tun, ihr den Auftritt von vorhin zu verzeihen, im Gegenteil. Wenn er das von Robert und ihr erfährt, und das wird nicht lange dauern, wird er sie mit eiskaltem Rachelächeln feuern, und sie kann nichts dagegen tun, weil sie ihm den perfekten Vorwand selbst geliefert hat. Diese Gedankenschleife läuft seit Stunden in ihrem Kopf, immer und immer wieder. Andererseits: Wenn sie heute noch fliegt, am besten jetzt gleich, kann sie noch am Abend in Spanien sein.

Also wieder flüchten.

Nein, diesmal ist es anders. Vielleicht ist sie der Lösung ihrer Probleme näher denn je, so bescheuert sich das anhören mag. Es ist das Wort, das Sentheim gesagt hat und wie erleichtert, ja befreit, er war, als er es einmal ausgesprochen hatte, als also die Grenze überschritten war und das Wort jetzt in der Welt war und für immer bleiben würde.

Dieses Wort hatte sie ausrasten lassen.

Türken-Gen.

Was, wenn Sentheim recht hat?

Ihre verfluchte Heißblütigkeit, einerseits. Dieses hektische Gestikulieren, Herumfuchteln, die Finger drohend an der Nase. Letztlich das Glas Wasser. Und, schlimmer, andererseits: ihre Unfähigkeit, mit Männern im Allgemeinen umzugehen, und mit Robert im Speziellen. Wie sie sich unterordnet, immer wieder, wie er mit ihr spielt. Und dass sie es sich gefallen lässt. Wie viel steckt von ihrer Großmutter Ambra, ihren Tanten und Cousinen aus der anderen Welt wirklich in ihr?

Unmöglich, den Gedanken zu stoppen.

»Ist hier okay?«, fragt der Taxifahrer jetzt. Sarah blickt aus dem Fenster und nickt, das Haus kann man von der Straße aus kaum sehen, die Hecken sind zu dicht, vor allem seit niemand mehr hier wohnt. Das Schild mit der Hausnummer hat irgendjemand gestohlen oder heruntergerissen. Sie steigt aus und öffnet das Tor. Der Taxifahrer lässt den Motor laufen. Über die früher immer blitzblank gekärcherten und jetzt komplett vermoosten Kiesplatten geht sie zur Tür. In ihrer Erinnerung ist sie die vier Stufen als Kind immer hochgehüpft, und dann, später, wenn sie und Robert bis in die Morgenstunden in den Clubs waren, geschlichen.

Jedes Haus hat einen Geruch, so unverwechselbar wie ein Fingerabdruck, und er ist nichts anderes als die Summe der Gerüche der Menschen, die in diesem Haus leben, also ein Familiengeruch. Das Haus von Sarahs Großeltern aber riecht und würde immer nur nach ihren Großeltern riechen. Daran hat auch nicht ändern können, dass sie und ihre Mutter so viele Jahre dort gelebt hatten. Der Geruch von Wohlstand, Ehrgeiz, Disziplin, holzig und doch spitz, hängt in dem Haus, auch jetzt noch. Sarahs Großvater war an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Frau war ihm nur elf Monate später gefolgt, es waren vielleicht die schönsten elf Monate ihres Lebens.

Schon allein wegen dieses Geruchs dachte Sarah keinen Moment lang darüber nach, hier einzuziehen, als sie zurück nach Berlin ging. Tatsächlich ist es das erste Mal seit der Beerdigung ihrer Großmutter, dass sie das Haus, in dem sie die zweite und bessere Hälfte ihrer Jugend verbrachte, wieder betritt. Ihrer Mutter kommt einmal im Jahr aus Barcelona, um nach dem Rechten zu sehen, die monatlichen Wartungsarbeiten erledigt eine Hausmeisteragentur.

Sarah geht durch die Räume, die wie einbalsamiert wirken, mit den Plastikbezügen über den Möbeln, den eingerollten Teppichen und zugezogenen Vorhängen vor den bodentiefen Fenstern. Die Tür zum Büro ihres Großvaters steht halb offen, ein kurzer Blick, die Bücher im Regal, unten die, die sie lesen durfte, oben die verbotenen. Sie findet das Cover sofort, blau. Drehn Sie sich um, Frau Lot! von Ephraim Kishon. Sie hatte nie darüber lachen können. Sie sieht die Bernsteinkugel auf dem Schreibtisch und dahinter, im Dunkeln kaum zu erkennen, den Lederstuhl. Dann ist sie wieder draußen, vorbei am Badezimmer der Großeltern, in den hinteren Bereich mit dem zweiten Bad, ihrem ehemaligen Zimmer und dann dem dritten, größten Raum. Das Jugendzimmer ihrer Mutter, in das sie wieder eingezogen war, mit vierunddreißig Jahren und einer halbwüchsigen Tochter. Das war für ihre Mutter vielleicht die größte Demütigung gewesen. Dagegen war die tägliche, selbstzufriedene Rechthaberei ihres Vaters absolut harmlos.

Sarah stößt die Tür auf und kniet sich vor die Biedermeierkommode. In der unteren Schublade muss sein, wonach sie sucht, in einem ungeordneten Haufen aus Papieren wahrscheinlich, denn ihrer Mutter waren finanzielle Dinge nie wichtig. Geld hatte sie immer genug, oder jedenfalls ihre Eltern. Von Sarahs Vater Unterhalt einzufordern war ihre Art, sich an ihrem Ex zu rächen. Sie wusste, dass der Betrag ihm deutlich mehr wehtat, als er ihr nutzte, und weil er das auch wusste, tat sie es überhaupt.

Sarah zieht die Unterlagen heraus und hat Glück. Der Bescheid liegt ganz oben, und er ist aktueller, als sie dachte, vom letzten Jahr. An der Adresse sieht sie, dass ihre Mutter die Papiere tatsächlich aus Spanien bei ihrem jährlichen Besuch mit nach Berlin brachte. Eine gute Methode, das alte Leben konsequent aus dem neuen herauszuhalten, denkt Sarah. Wichtig ist aber nicht, wie der Brief in die Kommode kam, wichtig ist die Adresse ihres Vaters.

Weserstraße 13. Er lebt also noch in der alten Wohnung. Das hätte sie sich denken können. Aber es ist wichtig, dass sie Gewissheit hat. Wenn sie schon in die Kontrollierte Zone geht, dann muss sie absolut sicher sein, dass sie die Leute auch trifft, die diese furchtbare Ahnung, dass Sentheim mit seinem Türken-Gen doch recht habe könnte, in ihrem Kopf zu stoppen vermögen.

Das Taxi wartet, der Fahrer steht an seinen Wagen gelehnt und raucht. Er schmeißt die halb aufgerauchte Zigarette weg, steigt ein. Sarah nennt ihm das Ziel, einen Ort, von dem sie sicher ist, dass er sie in die Kontrollierte Zone führt. Dann ist sie unterwegs, ihre andere Familie zu besuchen.

Berlin Requiem

Подняться наверх