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Die Oranienstraße liegt in totaler Stille. Mike Fegin, der Polizist, den die Toten töteten, erhebt sich aus einem dunklen Teich aus verkrustetem Blut, das aus seinen vielen Wunden auf den Asphalt geflossen ist. Mit einiger Anstrengung und mithilfe der Finger, die ihm an der rechten Hand geblieben sind, gelingt es ihm, Schorf und den Rest seines Lides vom rechten Auge zu schieben, sodass er etwas sehen kann. So wie er es bei der Bundeswehr im 3. Panzergrenadierregiment in Niederschönruppinow gelernt hat, checkt der ehemalige Obergefreite seinen Körper auf Verletzungen ab.

Das Resultat ist niederschmetternd.

Sein linkes Auge ist verloren. An der linken Hand fehlen der kleine und der Ringfinger. Noch im Liegen stellt der Polizist fest, dass sein Oberkörper und der Unterkörper dunkel und blutig sind. Der rechte Oberschenkel ist vom Beckenansatz bis zum Knie abgenagt.

Mit einem Ruck schiebt er den Fuß, den er sich beim Sprung von dem Turm verletzt hatte, zurück in seine ursprüngliche Position.

Er spürt: nichts.

Mike Fegin empfindet keinen Schmerz mehr. Nirgendwo. Auch nicht in den Nieren. Dort, wo die Hiebe seines Vaters in unerbittlicher, jahrelanger Routine eine Wunde geschlagen hatten, die auch dann nicht heilte, nachdem Obrist Fjodor Feginski seinen Sohn an einem kalten Novembertag im Jahr 1990 zum letzten Mal verprügelt hatte.

Als die 6. motorisierte Schützengarde der einst glorreichen Roten Armee frühmorgens an diesem Tag das Kasernengelände in Berlin-Karlshorst verließ, um nie mehr wieder dorthin zurückzukehren, lag Feginski, wie die meiste Zeit, auf einem Sofa, das fast drei Jahrzehnte zuvor bei den VEB Möbelwerken in Waltersdorf hergestellt worden war. Feginski, damals noch an seine Zukunft und die der UdSSR glaubend, hatte es sich vom ersten Jahressold abgespart. Es sollte für ihn und seine Familie das Symbol des Aufstiegs sein. Sogar Fotos des gelben Polstermöbels wurden angefertigt und in die Heimat, ein zugiges Minendorf jenseits des Ural, geschickt. Mittlerweile aber waren nicht nur die UdSSR, sondern auch Feginski und sein Sofa in einem desolaten Zustand. Vom Gelb des Möbels waren nur noch an den inneren Nähten Spuren zu erahnen, den restlichen Stoff bedeckte eine Collage aus Flecken verschiedenster Herkunft: Erbrochenes, Spucke, Sperma, Männerschweiß und Dreck. Sie erzählten eine Geschichte, die Mitleid erregt hätte, wenn ihre Hauptperson nicht so ein Scheusal gewesen wäre.

Die Armeekarriere von Obrist Feginski war bereits beendet, bevor sie richtig begonnen hatte, nachdem er einen jungen Rekruten so zugerichtet hatte, dass der sein Gehör verlor. Selbst in der rauen Ausbildungsrealität der Roten Armee war für einen Mann von solcher Brutalität kein Platz. Lange wussten die Vorgesetzten nicht, was sie mit Feginski anfangen sollten. Einerseits wollten sie ihn schnellstmöglich loswerden, andererseits hätte das eine Unmenge von Papierkram nach sich gezogen und darüber hinaus ein schlechtes Licht auf die Einheit geworfen. In Moskau wollte man sich nicht mit Armee-Versagern beschäftigen, und am Ende wäre wohl nicht nur der Kopf des Prügelnden, sondern auch der seines Vorgesetzten gerollt. Als man herausfand, dass Feginski in der Schulzeit Mitglied eines kleinen Orchesters gewesen war, wo er Tuba gespielt hatte, wurde er zum Mitglied der Regimentskapelle ernannt. Ihm kam das sehr gelegen, brachte es ihm doch gewisse Sonderrechte, denn sein Spiel wurde erträglicher, je mehr er getrunken hatte.

In einer Milchbar in Karlshorst lernte er Doris kennen, eine Berlinerin aus Köpenick, Dispatcherin in der Textilindustrie, deren Ansprüche kaum zu unterbieten waren. Sie heirateten, Feginski verbrachte die Flitterwochen im Dauerrausch statt wie versprochen in St. Petersburg. Im zwölften Jahr ihrer Ehe kam Doris bei einem Busunfall ums Leben, als sie den gemeinsamen Sohn Michail von einem Ferienlager der Jungen Pioniere abholen wollte. Feginski machte das Kind für den Verlust der Ehefrau verantwortlich, den sein Herz weitaus besser verkraftete als sein Verstand, denn er begriff, dass er mit der duldsamen Doris eine kostenlose Putzfrau verloren hatte.

Mit dem Tag der Beerdigung begann für den Sohn ein Martyrium, denn seither verprügelte Feginski ihn täglich, mit harten, gezielten Handkantenschlägen auf die Nieren. Er ging wortlos zu Werke und erwartete von seinem Sohn, dass er die Strafe ebenfalls wortlos ertrug. Michail weinte später in die Kissen, jede Nacht bis in den frühen Morgen, um dann die letzten Stunden bis Schulbeginn damit zu verbringen, sich auszumalen, wie er seinen Vater eines Tages töten würde.

Auch als der Obrist Feginski an jenem Novembernachmittag aus seinem Rausch erwachte, holte er als Erstes seinen Sohn, der in der Küche saß und Hausaufgaben machte, zu sich und verabreichte ihm eine historische Tracht Prügel. Dann legte er sich zurück auf das Sofa und schlief wieder ein.

Michail, zwölf Jahre alt, überlegte lange, was er tun sollte: seine Aufgaben in Mathematik fertig machen und anschließend mit den Freunden am Zaun der Kaserne rauchen oder seinen schlafenden Vater mit Wodka übergießen und anzünden. Gerade, als er sich in seinem Zimmer auf die Suche nach dem Feuerzeug machte, wurde die Tür zur Wohnung eingetreten, sein Vater von zwei russischen Militärpolizisten vom Sofa, dann auf die Straße und schließlich in einen Transporter gezerrt, der ihn zurück in die kalte Heimat bringen würde.

Zurück auf dem riesigen, verlassenen Kasernengelände blieb Michail Feginski mit seinen Mordgedanken und fürchterlichen Schmerzen in der Nierengegend. Beide verließen ihn nie mehr; nicht, als er schon lange bei seinen deutschen Großeltern in Pankow lebte und Mike Fegin hieß, nicht, als er erst bei der Bundeswehr und später bei der Polizei arbeitete und in Seiks einen Vaterersatz fand. Nicht als er Sabine kennenlernte, nicht in den Nächten, als er mit ihr seine beiden wunderbaren Kinder zeugte.

Aber jetzt sind die Schmerzen nicht mehr da, und Mike Fegin weiß, dass das Schicksal ihm etwas Unglaubliches geschenkt hat: die Freiheit. Mike Fegin weiß aber auch, dass aus jedem Geschenk eine Verantwortung erwächst. So hat es ihm seine Großmutter beigebracht. Mike Fegin beschließt, etwas zurückzugeben. Er sieht das Gewehr neben sich, greift danach, schließt es fest in seine Hände und beginnt, seiner Verpflichtung nachzukommen.

Berlin Requiem

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