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Das Café Dreistein, eine mit fast verdächtiger Detailliebe originalgetreu renovierte ehemalige Nazivilla in Schöneberg – die erste Adresse für informelle Geschäftsessen von Politikern und Politikern, Politikern und Journalisten, Politikern und Lobbyisten sowie Journalisten und Lobbyisten –, ist fast menschenleer.

»Alle weg«, sagt Paulo, der Kellner, nimmt Robert den Mantel ab und hängt ihn in einen Eichenschrank. »Alle zurück in ihrem Bonn.« Er spricht es »Bönn« aus, was noch verächtlicher klingt.

»Die kommen schon wieder, Paulo«, sagt Robert, aber er will den Mann nur trösten.

Hennig Sterb sitzt bereits an seinem Platz, vor ihm eine Platte mit elf Austern, die zwölfte hält der Innensenator von Berlin in seinen fleischigen Händen und führt sie in dem Moment an den Mund, als sich Robert ihm gegenüber auf den Stuhl setzt.

»Auch eine?«

»Nein. Mir ist der Appetit vorläufig vergangen.«

»Frau Samir hatte eine Auseinandersetzung mit unserem speziellen Freund, habe ich gehört.«

»Sie sind wie immer gut informiert. Und ziemlich schnell, das muss man schon sagen.«

Sterb zuckt mit den Schultern und nimmt sich eine weitere Auster aus dem Eis.

»Ach, lieber Truhs, Sie wissen doch, wie das ist. Diese Stadt ist eine große Familie, so sehe ich das wenigstens. Und ich bin der Onkel, zu dem man mit seinen Sorgen kommt.«

Robert nickt. Sterb – Jurist, Unternehmer, Mäzen, seit vierzig Jahren in der Landespolitik, seit dreißig Jahren der starke Mann hinter einer Reihe von schwachen Bürgermeistern – ist der mächtigste Strippenzieher der Stadt. Und er ist Roberts bester Informant. Oder Robert ist Sterbs bester Journalist. So genau will er darüber nicht nachdenken. Er war es, der ihm die entscheidenden Hinweise auf die dubiosen Geldgeschäfte des Innensenators gab und einen ganzen Haufen interessanter Papiere zuspielte. Material, das Gold wert war. Vor allem für Sterb, der sich so eines lästigen Konkurrenten entledigen konnte.

»Wie geht es dem Bürgermeister? Behält er die Nerven?«

»Was denken Sie denn?«

Jetzt fixiert er Robert mit seinen blauen Augen. Sterb ist kein schöner Mann, aber diesen Augen, da ist sich Robert sicher, hat er einiges zu verdanken.

»Er wird die Nerven verlieren.«

Der Senator macht eine Geste, winkt Paulo heran, der die übrigen Austern wegträgt.

»Sie haben recht, die Dinger schmecken nicht in diesen Zeiten.«

Mit der Serviette, die er sich vom Schoß zieht, wischt sich Sterb über den Mund. Er wirft sie auf den freien Stuhl zu seiner Linken und sieht sein Gegenüber wieder fest an. Solchen Augen folgt man in die Hölle, denkt Robert.

»Truhs, der Mann ist überfordert, klar. In ruhigen Zeiten, mit dem üblichen Koalitionsgeplänkel, ein paar Flugroutendebatten und einem kleinen Berlinale-Skandal vielleicht, kann man ihn gut gebrauchen. Aber das, was wir jetzt erleben ... Meine Güte, was ist nur aus dieser Stadt geworden?«

»Mir macht eher Sorgen, was aus dieser Stadt noch wird, wenn es so weitergeht. Die Bundespolitiker sind nach Bonn geflüchtet, und der Bürgermeister ist viel zu schwach, um mit so einer Situation fertigzuwerden, da sind wir uns einig. Und Sentheim wird stärker ...«

»Gerade nach der Sendung heute Morgen.«

»Wir wissen beide, wie die Menschen sind. Der Hass, den Sentheim in ihre Köpfe gepflanzt hat, bekommt jetzt plötzlich einen realen Hintergrund.«

»Richtig, mein Freund! Lassen Sie uns einen Espresso nehmen, und dann zeige ich Ihnen etwas, was Sie interessieren wird.«

Nachdem Paulo den Kaffee gebracht hat, holt der Senator ein iPad hervor und schaltet es mit einer Selbstverständlichkeit ein, die Robert bei ihm überrascht.

»Den kurzen Film, den ich Ihnen jetzt zeige, Truhs, kann ich Ihnen nicht überlassen. Insgesamt kennen nicht mehr als acht Menschen überhaupt dieses Material, und wenn es irgendwo auftauchen würde, wäre es nicht sonderlich schwer, die undichte Stelle herauszufinden.«

»Okay, das verstehe ich. Aber warum wollen Sie mir das zeigen, wenn ich es nicht verwenden kann?«

»Weil ich denke, dass Sie die Wahrheit kennen sollten.«

Diese Augen adeln jede Lüge, denkt Robert.

»Ich danke Ihnen für das Vertrauen, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass ich schon ganz gut im Bilde bin, was los ist. Glauben Sie mir, ich hätte niemals gedacht, dass ich so einen Satz bei klarem Verstand sagen würde, aber es ist ja wohl so, dass die Toten auferstehen und ...«

Der Senator tippt auf die Videofunktion des iPad. Der Film startet, aufgenommen offensichtlich von einer stationären Überwachungskamera in einem pathologischen Labor. Die Wände sind weiß gekachelt, in der Mitte des Raums stehen zwei Tische aus gebürstetem Metall, darauf zwei menschliche Körper, bedeckt mit einem weißen Laken. Der Timecode zeigt das Datum: 01/10, und die Uhrzeit: 05:34.

»Das, Truhs, sind die beiden Charité-Mitarbeiter, die dort angegriffen worden sind.«

Robert ist irritiert.

»Ja. Und die dann gestorben sind.«

Sterb sagt nichts.

»Die Geschichte ist bekannt. Jeder, der in den letzten Tagen auch nur zehn Minuten ferngesehen hat, weiß darüber Bescheid. Was wollen Sie mir zeigen?«

»Warten Sie ab, junger Freund.«

Sterb wischt über das Gerät, der Film wird vorgespult, dann verlangsamt. Jetzt stehen dort die Zahlen 01/10 und 13:33.

»Sehen Sie genau hin. Jetzt... «

Zunächst denkt Robert, es sei ein Fehler im digitalen Bild, dann aber erkennt er, wie der rechte Arm der ersten Leiche und ein Bein der zweiten sich bewegen. Anfangs ist es nur ein Zucken, wie von einem elektrischen Schlag. Bei der zweiten Leiche rutscht das Laken vom Gesicht. Der Tote ist etwa fünfunddreißig Jahre alt, er hat blonde Haare und trägt den weißen Kittel eines Arztes oder Sanitäters. Nein, eher ein Arzt; in seiner Brusttasche sieht Robert die übliche Ansammlung von Kugelschreibern. Die zweite Leiche ist eine Frau. Rotblonde Haare, Schwesterntracht.

»Sie kommen zurück? Wie die in der Kontrollierten Zone?«

»Ja.«

»Aber das kann nicht sein.« Robert stockt. »Die beiden sind doch gar keine ...«

»Nein. Sind sie nicht. Sie sehen Dr. Heinrich Badwasser, geboren in Spandau, und eine gewisse Lena Stricker, Krankenschwester. Sie kommt aus Moers, das ist am Niederrhein. In denen fließt so viel arabisches Blut wie Trinkwasser in der Spree.«

Die Leichen erheben sich. Der Arzt streckt seine Arme aus, weit vor sich, greift nach etwas, das nicht da ist. In diesem Moment öffnet sich eine Tür im Hintergrund, und ein Polizist in schwerem Kampfanzug betritt den Raum, hinter ihm ein Arzt. Der Polizist legt an, schaut über die Schulter zu dem Mediziner, der nickt. Dann feuert der Beamte beiden Toten aus nächster Nähe in die Schädel.

Rote Muster an den Kachelwänden. Graue Masse auf dem Boden.

Zwei Leichen, die endgültig tot sind.

Der Senator steckt das iPad weg.

»Das bedeutet ... « Robert hat Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Das bedeutet, dass die Toten neue Tote schaffen, die neue Tote schaffen. Nun, das wussten wir schon. Aber sie dachten, die Sache wäre begrenzt, auf Türken, Syrer, Libanesen, Araber, was weiß ich. Aber dieses Video beweist, dass es keinen Zusammenhang mit der ethnischen Abstammung gibt. Absolut keinen. Jeder, der von einer dieser Kreaturen angegriffen und gebissen wird, verwandelt sich. Nach der Transformationsphase fallen sie in eine Art kurze Ohnmacht, und dann kommen sie zurück. Alle.«

»Aber ...«

Sterb nickt.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Truhs. Und jetzt wissen Sie auch, warum wir die Stadtteile hermetisch abriegeln müssen. Keine infizierte Person darf die Kontrollierte Zone verlassen. Nach unseren Berechnungen würde Berlin durch die Kettenreaktion innerhalb von weniger als einer Woche zu einem wandelnden Friedhof werden.«

»Wie viele Leute sind ... Wie viele konnten Sie noch herausholen?«

Sterb macht eine verzweifelte Geste.

»Keine zweitausend ...«

Dann, fast entschuldigend: »Einige wollten auch gar nicht gehen.« Der Senator holt tief Luft. »Das Auffanglager Urban-Krankenhaus wurde geschlossen, alle VRP ...«

»VRP?«

»Virusresistente Personen. So wurden die Leute genannt, von denen wir gedacht hatten, dass sie nicht direkt gefährdet seien.«

»Aber jetzt wissen wir es besser.«

Sterb nickt. »Bis gestern hatten wir noch Kontakt zu den Ärzten dort. Aber nachdem, was Sie gesehen haben, ahnen Sie vielleicht, was dort inzwischen wohl geschehen ist.«

Robert greift die Perrier-Flasche. Seine Hand zittert zu sehr, und er schüttet die Hälfte daneben. Das Wasser versickert im weißen Stoff der Tischdecke.

»Das bedeutet, dass der Senat, dem Sie angehören, mehr als zweihunderttausend Bürger dieser Stadt aufgegeben hat? Und dass er zulässt, dass die Migranten zum Sündenbock gemacht werden? Und Sentheim als Volksheld dasteht? Das wissen Sie alles und sitzen hier und bestellen sich Austern?«

Sterb greift wieder zu der Serviette, jetzt aber tupft er sich die Schweißperlen von der Stirn.

»Glauben Sie mir, Truhs, ich habe getan, was ich tun konnte. Die anderen hatten ziemlich überzeugende Argumente, das dürfen Sie nicht vergessen. Bedenken Sie, was passieren würde, wenn dieser Film öffentlich wird, also wenn alle erfahren würden, wie schlimm es wirklich um uns steht. So argumentiert jedenfalls der Bürgermeister ...«

»Der Bürgermeister! Der Mann war immer Ihre Marionette.«

»Die Dinge haben sich verändert, Truhs. Nicht zum Guten, vor allem nicht für mich. Sie haben gefragt, ob er die Nerven verlieren würde. Er hat sie schon verloren. Und er hört nicht mehr auf mich. Der Bürgermeister hat einen neuen Berater.«

»Sentheim.«

»Genau.«

Robert hustet trocken, dann lacht er. Bitter.

»Wie sich die Geschichte wiederholt.«

»Sie sagen es. Aber diesmal kriegen wir ihn nicht so leicht.«

Robert ist seit fast neunzehn Jahren Reporter. Wenn er etwas gelernt hat, dann dies: Es kommt immer schlimmer, als man denkt. Immer.

»Herr Senator, ich muss Sie noch mal fragen: Warum tun Sie das? Warum haben Sie mir diesen Film wirklich gezeigt?«

Sterb atmet schwer aus, er beugt sich ganz nah zu Robert. Die blauen Augen sind wässrig. Das kann er nicht spielen.

»Weil ich Sie zum Freund haben möchte, Robert. Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann, einen, der mich beschützt, falls mein alter Weggefährte Sentheim wieder Oberwasser haben sollte und sich dann an die weniger schönen Momente unserer Zusammenarbeit erinnert. Für diesen Fall brauche ich einen Verbündeten, der etwas besitzt, das für unseren gemeinsamen Freund sehr unangenehm werden könnte. Das verstehen Sie doch?«

Robert sagt nichts. Er hat Angst vor diesem Mann, der ihm jetzt die Hand entgegenstreckt. Zittert sie tatsächlich?

Gerade will er einschlagen, weil er sich nicht traut, diesem Mann etwas zu verweigern, da klingelt ein Handy. Wagner, die Ouvertüre zu Parsifal.

Sterb greift in die Innentaschen seines Jacketts. Er meldet sich, hört dann zu, sagt schließlich: »Ich komme sofort!«

Roberts Blick ist eine Frage und Sterb gibt ihm die Antwort: »Oranienplatz. Truhs, es ist etwas am Oranienplatz passiert.«

Robert nickt. Im Herausgehen vibriert auch sein iPhone. Es ist Ben Lieving, sein Kameramann. Robert sagt: »Ja, ich bin schon unterwegs.« Dann, zu Sterb: »Teilen wir uns ein Taxi?«

Der Senator schüttelt den Kopf: »Besser nicht.«

Berlin Requiem

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