Читать книгу Berlin Requiem - Peter Huth - Страница 15

8

Оглавление

Roberts Taxe erreicht den Oranienplatz nur wenige Sekunden nach dem Dienstwagen des Senators. Er wirft dem Fahrer einen 20-Euro-Schein zu, sagt: »Stimmt so«, und steigt aus dem Auto, ohne die Frage des Mannes nach einer Quittung zu beantworten.

Robert sieht sich um. Blaulicht und Sirenen, Polizei-Hundertschaften in Mannschaftswagen, »Wannen« genannt, dazwischen Notärzte, Sanitäter und natürlich die Kollegen. Robert wirft Schneider von der Post und Tölper vom Abend einen Gruß zu, die alten Haudegen rauchen erst mal eine: Zeitungsjournalisten. Ihre Fotografen sind vorn im Getümmel, skrupellose Burschen, die sich gegenseitig ein Bein stellen und sich schubsen, um zu verhindern, dass der Kollege das bessere Bild bekommt. Später gehen sie alle zusammen in die Kneipe. Solche Tage sind wie Klassentreffen für die härtesten Hunde. Menschen sind zu Tode gekommen. Nichts ist echter als ein Ort, an dem gestorben wird.

»Da feuerte ein Bulle wie blöd auf die Dinger, und dann haben sie ihn erwischt«, hatte Ben ins Handy geschrien, den Robert jetzt entdeckt, nur ein paar Meter vom Senator entfernt. Sterb hat seinerseits einen verantwortlichen Polizeiführer gefunden, einen grauhaarigen Mann in tadelloser Uniform, der dem Senator Bericht erstattet. Robert hastet zu Ben, der – nicht ganz unpassend – ein Metallica-T-Shirt mit der Aufschrift »Kill 'em all!« trägt. Er redet sofort los, und Robert hat Mühe, ihm zu folgen, weil er gleichzeitig dem Senator-Informanten lauscht.

Ben: »... ist es ja so, dass ich praktisch rund um die Uhr den Bullenfunk scanne, im Auto, zu Hause, im Büro, weißt du ja, und erst hat’s sich nur angehört wie so eine kleine Sache, Zwischenfall am Oranienplatz, kennst du ja, wie die immer alles so runterspielen im Funk, aber ich dachte, Oranienplatz, hallo, das ist doch an der Mauer, und dann ...«

Der Polizist berichtet dem Senator: » ...wurden wir in Kenntnis gesetzt über eine Schussfolge am Kontrollposten 2a, offensichtlich nicht autorisiert. Außerdem wurde der Code für ›Polizeibeamter in ungesichertem Gebiet‹ gefunkt. Sofort wurden nach Anweisung des Krisenstabs sämtliche Einheiten des Abschnitts KJ in Mannschaftstransportern hierhin verlegt, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Schon kurz nach Eintreffen ...«

Ben: » ... habe ich natürlich sofort gesehen, dass hier die Hölle los ist, verdammte Scheiße. So viel Grün und Blau auf einem Haufen habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen, aber die waren voll unorganisiert, rannten durcheinander, wussten gar nicht ...«

Polizist: »... was geschehen war, ließ sich in den ersten Minuten schwer rekapitulieren. Aber offensichtlich war es auf der jenseitigen Seite der Sicherungsanlage zu einer ungewöhnlich großen, man könnte fast sagen versammlungsähnlichen Formation der, äh, Subjekte gekommen. Wir ...«

Ben: »... haben gesehen, also ich und Renner, der alte Arsch, dass da diese Lücke ist und sind sofort hin. Aber mit dem Renner hatte ich ja noch was offen, und plötzlich liegt der flach, die Kamera in tausend Stücke, weiß auch nicht, ob da mein Bein ganz zufällig vor seinem gewesen ist. Jedenfalls seh ich die Leiter, so ein Polizeiding, was die immer bei den Demos haben, stell sie an, und hoch. Auf der anderen Seite, unglaublich. Mehr als ...«

Polizist: »... zweihundert Subjekte aus Richtung Skalitzer Tor in Richtung des Wachturms marschiert sind, anfangs, allerdings wurden es immer mehr, eine regelrechte Zusammenrottung, ausgelöst wahrscheinlich ...«

Ben: »... von diesen durchgeknallten Polizisten, diesem jungen Typen und einem alten Sack. Die sind wohl durchgedreht und haben von dem Wachturm da oben aus einfach rumgeballert, auf die Dinger ...«

Polizist: »... während es leider nicht verhindert werden konnte, dass Vertreter der Medien, mithilfe von Steighilfen sich ein Bild der Lage vom Geschehen auf der anderen Seite machten. Sie haben ...«

Ben: »... Bilder gemacht, wie du sie noch nie gesehen hast, das kannste mir glauben, nur ich, das ist ganz exklusives Supermaterial. Aber das Beste kommt noch. Kaum hatten die Bullen uns von den Leitern geholt, krabbelte auch ...«

Polizist: »... PHW Fegin nach Zeugenbericht unter Missachtung sämtlicher Dienstanweisungen von seinem Posten auf dem Wachturm, während sein Vorgesetzter, PHM Seiks ihm von oben Feuerschutz geben wollte. Diese Kollegen schienen ...«

Ben: »... vollkommen durchgeknallt, mega stoned, total am Ende. So was habe ich noch nie gesehen. Du glaubst nicht, was hier hinten los war. Die ganzen Chefbullen brüllten in ihre Funkgeräte, in die Megafone, aber natürlich traute sich keiner hinterher. Ich ...«

Polizist: »... durchbrach ebenfalls den noch ungesicherten, schmalen Teil der Befestigungsanlage M unterhalb von Turm 2 a und begann, wiederum Filmaufnahmen zu tätigen. Erst mit einer gewissen Zeitverzögerung gelang es einer Gruppe von Kollegen, den Kameramann ...«

Ben: »... mit Schlagstöcken und Reizgas von der Leiter herunterzudreschen, jetzt weißt du auch, warum meine Augen aussehen, als hätte ich drei Sissi-Filme hintereinander weggeguckt und dabei schlechtes Gras geraucht. Aber das Zeug, was ich gedreht habe: Unfassbar. Auf der anderen Seite ...«

Polizist: »... erhöhte sich die Zahl der Subjekte ständig und überstieg jede bislang gesehene Anhäufung um ein Vielfaches. Nach ersten Schätzungen waren bis zu achthundert von ihnen aus den Nebenstraßen auf den Bereich vor dem Turm gekommen und je ...«

Ben: »... mehr diese Durchgeknallten auf sie feuerten, umso mehr wurden es. Das war ein scheiß Krieg, den die da angezettelt hatten. Und wenn du mir nicht jedes verdammte Wort glaubst, dann kannst du dir das gerne später ansehen, das Material ist schon in der Redaktion und läuft wahrscheinlich jetzt, in diesem Moment im Fernsehen und macht mich zum berühmtesten Scheißkameramann des Landes. Die Bilder, Robert, die kann Christian mit Geld eigentlich gar nicht bezahlen. Also mir egal, wie ich aussehe und die ganzen Schmerzen, aber das war ...«

Polizist: »... eine Lage, die uns an den äußersten Rand der Belastung gebracht hat, anders kann ich es nicht ausdrücken. Auf der anderen Seite sieht es ...«

Ben: »... aus wie nach dem Vietnamkrieg, da steht das Blut in knöcheltiefen Pfützen. Hinter dieser Mauer da, Alter, da liegt jetzt die Hölle ...«

Robert denkt: Ich stehe hier, im Zentrum der deutschen Hauptstadt. Blaulicht, Sirenen, Polizei, so weit das Auge reicht. Sie haben wieder eine Mauer gebaut, das ist doch Irrsinn, und hinter dieser Mauer liegt die Hölle, sagt Ben. Es sollte mich wirklich anfixen, denn das ist ohne Zweifel die größte, gigantischste Geschichte aller Zeiten. Das erste Schlachtfeld von Armageddon. Es sollte mich wirklich interessieren.

Ben hört endlich auf zu sprechen, japst nach Luft, wischt sich mit dem T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Dann schaut er Robert an, stolz, voller Erwartungen. Glücklich.

Adrenalin sollte durch Roberts Adern pumpen, sein Herz im News-Takt hämmern, die Knie müssten weich werden. Was hätte er früher dafür gegeben, so etwas miterleben zu dürfen! Vor einem Jahr, noch vor sechs Monaten. Jetzt steht er auf dem Oranienplatz und macht die falschen Dinge. Er sollte sich sofort an Sterb wenden und ihn interviewen, ein Statement einholen, es dann in sein Handy brüllen, damit die Redaktion eine Agenturmeldung daraus machen kann. Er sollte der Erste sein wollen. Stattdessen zündet er sich eine Zigarette an und betrachtet die Szenerie wie ein Zuschauer, der jederzeit wieder gehen kann und damit nichts mehr zu tun hat.

In diesem Moment begreift Robert, dass er kein Reporter mehr ist.

»... in den Sender fahren, ob du nun mitkommst oder nicht«, hört er Ben sagen, spürt, wie sein Kollege an seinem Mantel zerrt. Er trottet ihm hinterher, an Sterb vorbei, der jetzt bei den Zeitungskollegen steht und mit seinen Händen Statements in die Luft diktiert. Robert nickt zu dem Mann, der ihn als Freund gewinnen wollte. Der Senator hebt den Zeigefinger zum Mund, es ist eine irrsinnig schnelle Geste, eine Erneuerung des Schweigegelöbnisses aus dem Dreistein. Erst jetzt realisiert Robert, dass die anderen hier, die Polizisten und die Kollegen und auch Ben die Wahrheit noch nicht kennen, die von dem Video. Sie wissen nicht, wie schlimm es wirklich ist. Sie denken immer noch, dass es nur die bekommen können, dass das alles ein »lokal begrenztes Phänomen« ist, dem man mit »geeigneten Maßnahmen« »innerhalb eines überschaubaren Zeitraums« Herr werden könne. All diese Phrasen, die Sterb mit Sicherheit gerade wiederholt, in seinem immer gleichen Redeschwall.

Robert sieht in die Gesichter seiner Kollegen.

Er kennt jeden einzelnen von ihnen, ihre Storys und ihre Geschichten. Es ist immer schwieriger geworden in den letzten Jahren. Weniger Auflage heißt mehr Arbeit und weniger Zeit, nachzudenken. Kitter, der Mann, der '89 die Maueröffnung auf Agentur gegeben hat. Geitenhaupt, mit dem er mal die Leiche eines Mädchens in einer Jauchegrube fand. Von Schertzen macht normalerweise Promis, aber bei so einem Ding wie heute ist er mit von der Partie.

Sie sind froh, dass da wieder eine Mauer steht. Weil sie die Toten abhält, über sie herzufallen. Und sie selbst, über die Toten herzufallen.

»Ich fahre!« Ben holt ihn zurück aus seinen Gedanken.

»Klar.«

Kameramänner und Fotografen wollen immer fahren. Es sind nur ein paar Schritte bis zu Bens Wagen. Robert lässt sich auf den Beifahrersitz sinken, stößt mit den Füßen die Starbucks-Becher zur Seite und beginnt im Kopf, die ersten Sätze seines Beitrags zu formulieren. Nutzt ja alles nichts.

Berlin Requiem

Подняться наверх