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PROLOG

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Das Wasser war schwarz vor lauter Ölschlieren. Hier lebten keine Fische, das hatten sie schon vor Jahren festgestellt.

Der kleinere der beiden Jungen nahm einen Kiesel und warf ihn im flachen Winkel, doch der Stein versank sofort.

»War ja klar«, sagte der andere Junge und lachte. Er wandte sich ab und setzte sich auf einen alten Autoreifen.

»Blödmann«, sagte der Werfer, suchte eine Handvoll geeignete Steine und machte sich erneut an die Arbeit. Als es ihm schließlich gelang, einen gleich viermal springen zu lassen, zog er zufrieden Rotz in der Nase hoch und spuckte ins Wasser.

»Wir machen ein Spiel«, bestimmte der Junge auf dem Autoreifen. Er nahm seine Brille von der Nase, zog ein sauberes Taschentuch aus der Hosentasche und begann, das rechte Brillenglas zu putzen. Das linke war mit einem braunen Pflaster verklebt, um die Sehstärke im rechten Auge zu trainieren.

Das gibt sich, hatte der Augenarzt gesagt.

Einauge, schrien die Kinder auf dem Schulhof.

»Okay«, sagte der Steinewerfer. »Wie geht das Spiel?«

»Ich stelle dir Fragen. Es gibt immer zwei Antworten.«

»Wie ein Quiz?«

»Nein. Keine Antwort ist falsch, es ist ein Entscheidungsspiel.«

Der Kleinere setzte sich ebenfalls auf einen Autoreifen und sah den Jungen mit der Brille an. Der stellte seine erste Frage:

»Was willst du lieber: drei Tage nichts essen oder drei Tage nichts trinken?«

Der Kleinere nickte, er hatte das Spiel verstanden.

»Ach so. Okay, nicht essen oder trinken ...«

»Genau.«

»Essen«, sagte der Steinewerfer. »Lieber nichts essen. Weil nach drei Tagen ohne Trinken bist du fast schon tot. Ich meine, viele Leute in Afrika essen wochenlang nichts, weil sie gar nichts haben.«

»Gut.«

»Und du?«

»Ich auch: lieber nichts essen.«

»Jetzt ich«, sagte der Kleinere. »Was willst du lieber: sitzen bleiben oder dass du dir das Bein brichst und humpelst?«

»Moment. Wie lange muss ich humpeln?«

»Für immer. Für dein ganzes Leben.«

»Trotzdem: lieber humpeln als sitzen bleiben. Auf gar keinen Fall will ich sitzen bleiben.«

»Echt? Lieber ein Krüppel als ein Jahr länger auf der Schule?«

»Damit hat das nichts zu tun.«

»Sondern?«

»Dann müsste ich dich ja auch noch jeden Tag in der Schule ertragen.«

Der Kleinere grinste und warf noch einen Stein ins Wasser. Doch der Brillenjunge lachte nicht mit. Vielleicht, weil er es ernst meinte, vielleicht auch, weil er sich eine neue Frage überlegte. Dann sagte er:

»Und: Willst du lieber verbrennen oder ertrinken?«

»Das ist schwer.«

»Sag jetzt.«

»Okay. Ich glaube, ich will lieber ertrinken. Verbrennen ist fürchterlich. Wenn du da stehst und die Flammen kommen ... Erst an den Füßen, dann an den Beinen ... Ertrinken geht schneller. Zwei Minuten ... vorbei.«

»Falsch. Beim Verbrennen wirst du total schnell ohnmächtig. Vom Rauch. Du bekommst nichts mit.«

»Aha. Sagst du. Aber du hast doch keine Ahnung. Oder bist du mal verbrannt?«

»Habe ich gelesen.«

»Aha. Erschossen oder aufgehängt werden?«

»Hmmm«, machte der Junge mit der Brille.

»Auch nicht schlecht, oder?«

»Mal gucken. Wie denn erschossen? So eine Hinrichtung oder überraschend, wenn einer eine Bank überfällt und ausflippt.«

»Ist doch egal.«

»Ist überhaupt nicht egal. Wenn du zufällig erschossen wirst, geht das total schnell. Aber bei einer Hinrichtung weißt du ja schon die ganze Zeit vorher, was passiert. Das ist noch mal schlimmer.«

»Okay, ich hab’s schon verstanden.« Der kleinere Junge wurde ungeduldig.

»Also: Hinrichtung.«

»Dann trotzdem erschießen. Denn wenn beim Erhängen das Genick nicht bricht, dann baumelst du eine halbe Stunde, und die Augen quellen dir aus dem Kopf, und meistens gucken da Leute zu. Und außerdem ...«

»Ja?«

»Außerdem weiß ich zufällig, dass du dir in dem Moment, wenn du beim Aufhängen stirbst, in die Hose machst. Und kotzt.«

»Ekelhaft.«

Die Jungen lachten beide. Der kleinere dachte jetzt nicht mehr an seine Steine und der andere nicht mehr an seine Brille.

Köpfen oder Vierteilen?

Vom Hochhaus fallen oder vom Laster überfahren werden?

Von einem Löwen zerfleischt oder vom Zug mitgeschleift werden?

Lepra oder Pest?

»Wer soll eher sterben? Du oder ich?«

Der Kleinere nickte langsam. Er überlegte eine Minute und streckte dann seine Hand aus, mit der Unterseite nach oben.

»Komm, lass uns nach Hause gehen. Es fängt an zu regnen.«

Berlin Requiem

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