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Das 6. Abenteuer Auf dem Todesstreifen

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Martin war auch schon wieder voller Tatendrang und hatte inzwischen weitere Firmen zum Kauf ausgemacht. Es war bereits Spätherbst, November 1995. Nach der doch etwas unguten Erfahrung bei der Akquisition der A + L und dem ständigen Terror durch die finanzierenden Banken, die einfach nicht verstehen wollten, wie wir unsere Geschäfte führten und uns stattdessen mit gutgemeinten, operativen Ratschlägen (von Bankern!) versorgten, entschlossen wir uns, unser Geschäftskonzept gründlich zu überarbeiten. Da die Kriegskasse mit einigen Millionen gut gefüllt war und wir mit den Firmen in Kassel, Lemgo, Erfurt und Osnabrück bewiesen hatten, dass wir in der Lage waren, ganze Unternehmen für einen symbolischen Kaufpreis zu akquirieren, kamen Martin und ich überein, dass wir uns nur noch auf solche Akquisitionen konzentrieren sollten. Wir wollten uns also ausschließlich um Gesellschaften kümmern, die wir aus eigenem Cashflow ohne Zutun der Banken finanzieren konnten. Die hatten sich ohnehin als völlig nutzlos erwiesen. Die beteiligten Banker waren ganz nette Kerle, aber nicht im Entferntesten in der Lage, etwas Hilfreiches beizutragen. Darüber hinaus hatten wir schon bei unserer ersten Akquisition feststellen müssen, dass sich der Finanzierungsvorgang entgegen unseren Erwartungen über Monate erstreckt hatte. Schon wegen dieser inhärenten Trägheit der Bankprozesse befürchteten wir, dass uns gute Deals durch die Lappen gehen würden.

Beim Firmenkauf ist es nämlich ein wenig so wie auf einem Flohmarkt. Nicht derjenige erhält bei einer günstigen Gelegenheit den Zuschlag, der den höchsten Kaufpreis zu zahlen verspricht, sondern derjenige, der rechtzeitig an Ort und Stelle ist und einen akzeptablen Kaufpreis in bar auf den Tisch legen kann. Allein der Vorbehalt »nur noch« auf die Entscheidung eines Kreditausschusses warten zu müssen, konnte der Deal-Killer sein. Schon aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht stellte der Vorbehaltspreis für den Verkäufer gegenüber dem Sofortgeld einen deutlich geringeren ökonomischen Wert dar. Der vermeintlich hohe Kaufpreis musste vernünftigerweise mit dem Risiko des Versagens einer Finanzierung abgezinst werden. Damit wurde aus der formal besten Offerte häufig ein unattraktives Angebot. Das funkelnde Sofortgeld, das lernte ich bei vielen der folgenden Transaktionen kennen, war häufig zu verlockend.

Aufgrund der uns selbst auferlegten Beschränkung der Bezahlung aus dem eigenen Cashflow konnten wir uns aber nur noch auf Unternehmen konzentrieren, für die ein geringer oder gar kein Kaufpreis zu bezahlen war. Und diese gab es in den Wirren der Privatisierungen der vormaligen DDR-Unternehmen zuhauf. So fuhren Martin und ich an einem Dienstagabend aus Lübeck kommend in Richtung der neuen Bundesländer zu einem der vielen Firmenbesichtigungstermine. Als wir uns von Westen der ehemaligen Zonengrenze näherten, die bei Selmsdorf ihr nördliches Ende in der Trave fand, erblickten wir inmitten des ehemaligen Todesstreifens, wahrscheinlich just dort, wo einst die Minen eingegraben waren, eine im Rohbau befindliche Halle von, wie sich herausstellen sollte, ca. 10 000 m2 Grundfläche. Das zugehörige Gewerbegrundstück von einigen Hektar war Teil eines voll erschlossenen Industrieparks, schon einige Meter auf dem Gebiet des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern.

Die Vollendung der Halle schien zum Stillstand gekommen zu sein. Die »Halle« bestand eigentlich nur aus Fundamenten, dem Industrieboden und riesigen Stahlträgern, die dem Ganzen das Aussehen eines erlegten Fossils gaben, einer unentdeckten Dinosaurierart von bisher unbekannter Größe. Von den zahlreichen Rippen hingen Plastikfolien herunter und wehten wild knatternd im Wind. Das Ganze machte einen verlassenen, ja sogar verwahrlosten und unheimlichen Eindruck. Würden Zombies den fahlen Gerippen entsteigen, wäre das auch nicht weiter verwunderlich gewesen. Spontan entschlossen wir uns also zu einer Spritztour der besonderen Art. Wir fuhren, inzwischen war es Nacht, mit Martins Wagen in das Industriegebiet und auf das Grundstück, vorbei an den Warnschildern in das leere Hallenskelett hinein, drehten dort die eine oder andere Runde und, nachdem weit und breit nichts von Zombies zu sehen war, entschlossen wir uns herauszufinden, wem diese Ruine wohl gehörte.

Nach der Besichtigung einer Firma in der Nähe von Satow am nächsten Tag – aus dieser Akquisition war letztlich nichts geworden – kehrten wir nach Selmsdorf zurück. Der dortige Bürgermeister Detlef Hitzigrath, ein sehr redseliger und kumpelhafter Typ, der gleichzeitig das einzige Gasthaus »Zum Detlef« betrieb, konnte uns sofort und bereitwillig Auskunft erteilen. Ein westdeutscher Unternehmer, Herr Arndt, habe hier eine Produktionshalle errichten wollen. Dies hätte für ihn enorme steuerliche Vorteile gehabt, da er seine Haupttätigkeit in Lübeck hatte, die Halle sich aber bereits auf dem Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern befand. Denn so hätte er die Infrastruktur von Lübeck und Schleswig-Holstein nutzen können, aber nur die sehr viel niedrigeren Steuern des Landes Mecklenburg-Vorpommern zahlen müssen. Daher wollte er damals seinen Betrieb, eine Pappkartonfertigung, hierher verlegen.

Aus ähnlichen monetären Gründen, also genauer der Gewerbesteuer wegen, habe er, der Bürgermeister, dann ohne jede Genehmigung auf dem geräumten Todesstreifen ein Gewerbegebiet anlegen lassen. Dies sei in der Tat ein wenig schwierig gewesen, denn dort an der Trave befand und befindet sich bis heute noch ein sehr wichtiges Biotop mit allen möglichen Arten von geschützten Vögeln, aber das Gemeinwohl, sprich die der Kommune zustehende Gewerbesteuer, sei eben vorgegangen und so sei der ganze Schwarzbau des Gewerbegebietes ja doch im Nachgang genehmigt worden.

In diesem Gewerbepark habe nun Herr Arndt seine Halle errichten lassen. Da er sich zu dieser Zeit unglücklicherweise in Verteilungskämpfen mit seiner geschiedenen Ehefrau befand, hatte er nun die Befürchtung, dass seine »Ex« diese Halle und das Grundstück im Rahmen eines Güterausgleichs – jedenfalls zu Teilen – bekommen könnte. Deshalb hatte er die Halle bzw. die Grundstücksgesellschaft auf seine neue Ehefrau, Frau Arndt II sozusagen, – rein formal natürlich nur – übertragen und diese habe nun, nachdem sie die Ehe kurz darauf beendete, der Einfachheit halber alles behalten. Da die Halle wohl das wesentliche Vermögen des Herrn Arndt gewesen war, sei der ehemalige Eigentümer daraufhin dem Wahnsinn verfallen und der Bürgermeister warnte uns eindringlich, wir mögen uns in Acht nehmen, wenn wir uns in der Gegend der Halle befänden, denn es wäre jederzeit mit schweren Gewalttaten durch den Geprellten zu rechnen. Also doch Zombies!

Frau Arndt II habe allerdings kein weiteres Geld erlangen können, auch nicht, um den Bau fortzusetzen, und somit sei die Halle nunmehr in diesem ruinösen Zustand. Der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern Dr. Berndt Seite (CDU) habe ihn bereits persönlich auf diese abstoßende Bauruine angesprochen. Denn ein jeder Westler, der über Lübeck nach Mecklenburg-Vorpommern reise, müsse jetzt zwangsläufig an diesem plastiktütenbehangenen Skelett vorbeifahren und würde seine Vorurteile bestätigt finden, dass die ganzen schönen Fördergelder der Wiedervereinigung in sinnlosen Projekten vergeudet würden. Die Halle sei das Eintrittstor in das Bundesland und habe daher hohen repräsentativen Charakter. Ein Erwerber würde schon aus diesem Grund, so habe es ihm auch der Wirtschaftsminister Harald Ringstorff (SPD) versprochen, eine großzügige und unbürokratische Förderung erhalten, wenn er nur bitte dem Gebäude zu seinem geplanten Glanz verhelfen würde.

Das roch nach einem Fall für uns. Eine etwas verworrene Ausgangslage, ein Bauvorhaben, in das offensichtlich bereits viel Geld geflossen war, das jedoch in seiner jetzigen Form keinen hohen Wert darstellen konnte, eine Verkäuferin, der keine Lösungen mehr einfielen, und ein Wirtschaftsminister, der ganz offen mit Fördermitteln winkte. Bereits am nächsten Tag trafen wir Frau Arndt II, die inzwischen wieder Opitz hieß, unter doch sehr konspirativen Umständen. Wir mussten uns mehrere Hundert Meter entfernt von der Halle hinter einer Scheune versammeln. Die Dame wurde von einem etwas dubiosen Berater begleitet, der mehrfach auf die hohe Gefahr durch ihren Ex-Mann hinwies. Einige Attentatsversuche sollte er schon verübt haben und es sei pures Glück, dass Frau Opitz/Arndt II überhaupt noch unter uns weile.

Die Dame selbst berichtete, dass bereits ein paar Millionen in dieses Bauvorhaben geflossen seien, alles noch von ihrem Ex-Mann bezahlt. Sie müsse jetzt aber noch einige laufende Kosten tragen und dafür fehle ihr einfach das Geld. Die Halle bzw. das gesamte Grundstück seien Teil einer Gesellschaft, der Arndt Verpackung & Display GmbH, und sie könne die Gesellschaft nur als Ganzes verkaufen, sei aber zu einem Schnäppchenpreis bereit. Falls sie nur das Asset zu einem niedrigen Kaufpreis isoliert verkaufen würde, müsse sie aufgrund von Zahlungsrückständen gegenüber den Baufirmen sofort Insolvenz anmelden, und das wolle sie sich nicht zumuten. Das war ein Fall für uns! Wir einigten uns auf einen Kaufpreis von DM 300 000 und verpflichteten uns, die Schulden der Gesellschaft, für die Frau Opitz persönlich haftete, in Höhe von ca. DM 2,5 Mio. abzulösen.

Ein paar Tage später wurde der Vertrag unterzeichnet und das Eigentum sollte mit Eingang der Kaufpreiszahlung bei Frau Opitz auf uns übergehen. Doch so einfach war es nicht. Wir hatten die Zahlung der geschuldeten DM 300 000 an Frau Opitz ordnungsgemäß und per Blitzüberweisung bei der Stadtsparkasse Saarlouis in Auftrag gegeben. Der Betrag war dann auch sofort von unserem Konto abgebucht worden, kam aber nicht an. Zwar hatte uns noch ein Mitarbeiter der Deutschen Bank Lübeck den Eingang abends telefonisch bestätigt, am nächsten Tag wusste aber dort keiner mehr davon und der Mitarbeiter war im Urlaub. Das Geld war verschwunden. Die Stadtsparkasse teilte uns nur mit, sie habe das Geld an die angegebene Korrespondenzbank, die Deutsche Bank, überwiesen und diese müsse es schließlich auf das Konto der Frau Opitz weiterleiten, für sie sei der Fall erledigt. Die Deutsche Bank teilte uns andererseits mit, sie habe gar kein Geld von der Stadtsparkasse erhalten und deshalb könne sie auch nichts weiterleiten, der Fall sei für sie ebenfalls erledigt.

Die Vorzüge eines Interbanken-Clearingverfahrens hatten sich offenbar noch nicht so weit herumgesprochen. Sämtliche Beschwerden blieben ungehört, selbst der Hinweis auf die Dringlichkeit der Angelegenheit brachte keinerlei Vorteil, im Gegenteil. Beide Banken verharrten in Untätigkeit. Erst unsere anwaltliche Drohung, die Bankenaufsicht ob dieses Verhaltens einzuschalten, führte zu etwas mehr Engagement der beteiligten Banker. Schließlich wurde nach zwei weiteren Tagen (!) das per Blitz überwiesene Geld doch noch gefunden. Es war tatsächlich bei der Deutschen Bank in Frankfurt angekommen, diese hatte es nur nicht an die korrespondierende Deutsche Bank in Lübeck überwiesen, sondern es einfach liegen lassen, ein lohnendes Geschäft, denn die Tageszinsen hatte Frankfurt einfach einbehalten. Weitere Entschuldigungen gab es natürlich auch nicht. Die waren aber auch nicht mehr nötig, denn wir hatten sowieso beschlossen, für den Rest unseres Lebens keine wichtigen Geschäfte mehr mit der Deutschen Bank und deren Personal zu tätigen.

Nachdem das Geld endlich eingegangen war, galt es erst einmal, die fälligen Forderungen zu befriedigen bzw. mit den Gläubigern in Verhandlung zu treten. Wegen der seit geraumer Zeit drohenden Insolvenz von Frau Opitz waren diese schon etwas weichgekocht. Sie waren ersichtlich froh, jetzt endlich wieder jemanden vor sich zu haben, der wenigstens irgendetwas zahlte. So einigten wir uns auf eine Vergleichszahlung von DM 500 000, die wir auch prompt beglichen, auf die restlichen DM 2 Mio. wurde verzichtet. Damit dachten wir, sei die Liquidität der Gesellschaft wiederhergestellt.

Da hatten wir aber nicht mit dem Finanzamt Grevesmühlen gerechnet. Denn, so die Herren Steuerbeamten, durch diesen Vergleich hätte die Gesellschaft ja jetzt DM 2 Mio. Gewinn gemacht und der müsste besteuert werden und zwar jetzt und sofort! Zwar besaß unsere Gesellschaft hohe Verlustvorträge31, die damals noch steuerwirksam mit übergegangen waren und die diese Sanierungsgewinne leicht hätten ausgleichen können. Doch die Ostbeamten, nach der Wende mit den westdeutschen Steuergesetzen offensichtlich noch nicht so richtig vertraut, schickten uns erst einmal einen Steuerbescheid über ca. DM 0,8 Mio. wegen genau dieser Sanierungsgewinne und mit einer kurzen Zahlungsfrist von vier Wochen. Dies hätte unsere Gesellschaft aus eigener Kraft nicht stemmen können. Unsere schriftlichen Einwände, insbesondere die Hinweise auf die Rechtslage, blieben unbeantwortet und die Zahlungsfrist lief. So entschloss sich Martin zu einem persönlichen Gespräch. Im Wesentlichen brüllte er dann die verdutzten Finanzbeamten etwa fünf Minuten lang an, drohte mit dem Ministerpräsidenten und seinem Wirtschaftsminister und schließlich sogar mit Detlef, dem Bürgermeister, und dann wurde die Sache einfach fallen gelassen. Geht doch!

Nun ging es darum, auch die versprochenen Fördergelder zu erhalten. Wir fuhren also zum Wirtschaftsminister Harald Ringstorff, dem späteren Ministerpräsidenten des gleichen Bundeslandes, und wurden in Schwerin auf das Freundlichste von ihm empfangen. Er stellte uns verschiedene EU Programme vor, darunter die Investitionszuschüsse der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur«, wo es für KMU (Kleine und mittlere Unternehmen) verlorene Investitionszuschüsse32 von 50 Prozent gab. Er sicherte uns außerdem zu, er werde alles tun, damit diese Investitionszuschüsse auch wirklich flössen. Dies hörte sich doch verlockend an.

Das Problem war nur, dass wir auch auf die bereits gezahlten Millionen des Herrn Arndt gerne Investitionszuschüsse erhalten wollten. Das Gesetz sah eigentlich ausdrücklich vor, dass Investitionszuschüsse nur für Maßnahmen gezahlt werden konnten, die erst nach dem Erlass des Investitionsbescheids realisiert wurden. Hier war jedoch ein großer Teil der Investitionen bereits vorher erfolgt, durch Herrn Arndt.

Da hatte unser erfahrener Bürgermeister die zündende Idee. Er erklärte die gesamte Hallenkonstruktion aus Stahl zu einem beweglichen Wirtschaftsgut, das, genau betrachtet, auf der Bodenplatte noch nicht so richtig befestigt sei. Sie ruhe ja mehr auf ihrem eigenen Gewicht, wie Waren in einem Lager. Er zeigte uns dazu noch ein paar Fotos unserer Stahlträger und einigen danebenliegenden Schrauben und stellte triumphierend fest: »Da seht ihr’s, nicht festgeschraubt!« Wenn wir also, fuhr er fort, diese Stahlkonstruktion, die der wesentliche Teil der bisher geleisteten Investitionskosten war, an eine neue Gesellschaft verkaufen und sie dann dort befestigen würden, dann könnten wir sämtliche Kosten dafür abrechnen. Denn das war dann ja eine neue Investition der neuen Gesellschaft. Dies war in der Tat eine etwas weite Auslegung der Förderrichtlinien, doch wenn dies nun einmal zum Wohle der Allgemeinheit so erfolgen sollte und dadurch für Mecklenburg-Vorpommern ein etwas repräsentativeres Entree geschaffen werden konnte, dann wollten wir dieser guten Sache nicht im Wege stehen.

So gründeten wir die Certina Modulproduktion GmbH mit dem Geschäftszweck einer irgendwie gearteten Modulfabrikation, da nach den Förderrichtlinien eine industrielle Verwendung angestrebt werden musste. Die Certina erwarb dann die »beweglichen« Hallenteile für die ursprünglichen Investitionskosten. Und so reichten wir die kompletten Errichtungskosten für den Fertigbau sowie den beweglichen Teil der bereits erbrachten Leistungen mit dem Förderantrag zur Förderung ein. Tatsächlich erhielten wir einen Förderbescheid, der alle diese Maßnahmen guthieß, die Kosten der bisher vorgenommenen Arbeiten zu 50 Prozent erstattete und für die zukünftigen Kosten eine weitere 50-prozentige Erstattung vorsah. Die Mittel wurden unverzüglich ausgezahlt und so konnten wir aus diesen Mitteln mit der Fertigstellung der Halle beginnen. Dass diese Förderungen doch irgendwie dem Gemeinschaftsrecht entsprachen, bestätigte ein Jahr später eine Prüfungskommission der EU, die uns in Selmsdorf unangemeldet aufsuchte. »Alles bestens dokumentiert und regelkonform ausgeführt«, lautete das Urteil nach intensiver Prüfung. Dann hatten wir ja alles richtig gemacht.

Nun waren wir also wirklich unter die Immobilienentwickler gegangen. Ich wurde Geschäftsführer der Certina Modulproduktion GmbH und baute als erste Maßnahme im Bürotrakt der Halle ein großzügiges Apartment für mich ein, damit ich dort während der Bauarbeiten nächtigen konnte und nicht jedes Mal ein Hotel anmieten musste. Alle Ausschreibungen und bauaufsichtlichen Tätigkeiten wurden von mir persönlich durchgeführt. Doch wer sollte unsere Halle später kaufen? Ich hatte dazu ein Konzept entwickelt. Angedacht war, dass das Gebäude als Schwerlasthalle für sämtliche denkbaren Anwendungen fertiggestellt werden sollte, der Bürotrakt jedoch entgegen dem für Produktionshallen üblichen Standard einen hochrepräsentativen Charakter erhalten sollte. Die Idee dahinter war, den Manager eines Konzerns durch Schnickschnack dazu zu bewegen, diese Halle unter mehreren anderen Optionen auszuwählen. Er sollte die Halle also kaufen, weil sein zukünftiges Büro besonders schön war. Dazu wurde im Eingangsbereich des Bürohauses eine über zwei Stockwerke reichende Freitreppe errichtet, der gesamte Empfang mit schwarzem Marmor verkleidet, alle Türen mit schwarzem Klavierlack gestrichen und, aus dem ersten Stock kommend, ein fast sechs Meter hoher Wasserfall installiert. Jeder, der diese Empfangshalle betrat, sollte zuerst einmal überrascht und dann schwer beeindruckt sein. Das war das Ziel.

Die Bauarbeiten gingen zügig voran, da tauchten auch schon die nächsten Probleme auf. Wir wurden gleich mit mehreren Restitutionsklagen konfrontiert. Zunächst erhoben jüdische Erben Ansprüche auf das Firmengelände. Bereits unter den Nazis war es in dieser Gegend zu diversen Enteignungen gekommen. In unserem Fall war es jedoch so, dass eine jüdische Eigentümerin Deutschland 1935 aus Furcht vor den Nazis verlassen hatte und das Land faktisch, ohne formale Enteignung, anderweitig genutzt wurde. Nach Gründung der DDR wurde sie dann auch formell enteignet. Es sollten unter dem Motto »Junkerland in Bauernhand« sogenannte Neubauern angesiedelt werden. Diese Enteignungen betrafen sogenannte Großgrundbesitzer33 und unter diese Kategorie fiel sie offenbar. Herr Arndt, der Zombie, hatte dann das Ganze auf Grundlage des Investitionsvorranggesetzes nach dem Mauerfall erworben. Und aufgrund dieses letzten Umstands wurde die Klage gegen uns durch Gerichtsentscheid, Gott sei Dank, abgewiesen. Die Begründung war: Investitionen aufgrund des Investitionsvoranggesetzes führten nicht zur Restitution, sondern nur zur Entschädigung durch den Staat.

Doch das war noch nicht alles. Denn jetzt ereilte uns eine weitere Klage der Familie der Neubauern. Denn diese war ihrerseits auch wieder enteignet worden, nämlich als die Mauer gebaut wurde. Das Land wurde nun zur Errichtung der Grenzbefestigungen benötigt. Die Geschichte des gesamten Anwesens wurde also immer verwickelter. Die Familie bzw. deren Erben verlangten von uns ebenfalls die Restitution. Auch hier wurde jedoch letztlich gerichtlich entschieden, dass derartige Enteignungen wegen des Investitionsvorranggesetzes gleichermaßen nicht restitutionsfähig waren. Damit war unser Anspruch auf das Land nun endgültig juristisch bestätigt.

Eine weitere Skurrilität ergab sich aus der wirren Grundbuchsituation im Bereich des ehemaligen Grenzstreifens. Die MITROPA AG, die nach der Privatisierung aus der ehemaligen DDR-MITROPA (»MITteleuROPäische Schlaf- und Speisewagen Aktiengesellschaft«) hervorgegangen war, nahm Kontakt zu uns auf. Die verantwortlichen Herren teilten uns mit, dass sich die strategisch wichtige MITROPA-Tankstelle in Selmsdorf auf einem Grundstück befinde, das unserer Hallengesellschaft gehöre. Dies habe ihre Recherche ergeben. Das war uns zwar neu, aber als Schnelldenker teilten wir der MITROPA ein wenig empört mit, dass uns das auch schon aufgefallen sei und wir uns nur gewundert hätten, warum immer noch keine Nutzungsentgelte gezahlt worden seien. Aus unseren Unterlagen ergab sich eigentlich kein einziger Hinweis auf einen derartigen Anspruch, aber das mussten wir denen ja nicht zu erkennen geben. So traten wir mit breiter Brust in Verhandlungen mit der MITROPA ein. Für ein paar Hunderttausend DM kaufte uns die MITROPA schließlich den uns bis dahin unbekannten Anspruch ab. Auch kein schlechtes Geschäft!

Nach circa einem Jahr Bauzeit konnten wir endlich den gesamten Bau abschließen. Der Wasserfall plätscherte, der Marmor glänzte und zur Steigerung der allgemeinen Attraktivität des Anwesens hatte ich mich für ein Wochenende in die Büroräume zurückgezogen und mich mit ausreichend Acrylfarbe, Leinwand und Rotweinflaschen versorgt. In 48 Stunden fabrizierte ich ungefähr 20 moderne Kunstwerke, wobei ich peinlich darauf achtete, dass die Gemälde unterschiedlichen Stilrichtungen angehörten, sodass es nicht so aussah, als ob ein einziger Maler die gesamten Bilder gemalt hätte. Mit diesem Gesamtpaket gingen wir in die Verkaufsverhandlungen. Wir hatten in die Fertigstellung der Halle wirtschaftlich ca. DM 4 Mio. investiert, von denen wir über die Investitionsförderung DM 3 Mio. wieder zurückerhalten hatten. Weitere DM 300 000 waren als Kaufpreis geflossen, noch einmal DM 500 000 als Gläubigerabfindung, DM 200 000 steuerte die MITROPA bei, sodass unser Einsatz bei circa DM 1,6 Mio. und einem Jahr Lebenszeit lag.

Der Verkauf gestaltete sich nicht so einfach wie zunächst angenommen. Erst nach Einschaltung eines Maklers der Firma Angermann gelang es uns schließlich, den gesamten Komplex im Wege eines Asset Deals34 an die Firma RGB, einen hochinnovativen Maschinenbauer mit Lasertechnologie, zu verkaufen. Die Strategie, einen repräsentativen Eingangsbereich mit zahlreichen Werken »hochwertiger« moderner Kunst zu verkaufen, ging dann doch noch auf. Der Manager des Käufers verliebte sich in die Halle und so konnten wir einen Kaufpreis von etwas über DM 4 Mio. aushandeln. Dies war nach den Erfahrungen der ersten Akquisitionen sicher nicht die Summe, die wir, die wir inzwischen ja etwas verwöhnt waren, uns versprochen hatten. Es war ein gutes Geschäft für den Käufer und ein nur halbwegs gutes für uns. Martin und ich waren dennoch um zahlreiche Erfahrungen aus dem Bereich der Bauabwicklung und um circa DM 2,4 Mio. an Finanzmitteln reicher35. Die Erfahrungen stellten sich in der Zukunft als das für uns Wertvollere heraus.

Dieser Fall war jedenfalls abgeschlossen. Alle waren glücklich, Frau Arndt II bzw. jetzt Opitz, dass sie die alte Halle und die Probleme mit ihrem inzwischen verstorbenen Ex-Mann los war, die Gemeinde, dass sie jetzt einen ertragsstarken Gewerbesteuerzahler bekam, das Land Mecklenburg-Vorpommern, da das Tor zu diesem Land in repräsentativem Aluminium und blau leuchtete und zuletzt natürlich wir, da wir das Projekt nunmehr in guten Händen wussten und dabei doch eine nicht unerhebliche Menge an Geld verdient hatten. Aber Bauentwickler, das beschloss ich für mich, wollte ich auf keinen Fall werden. Sich nur mit toten Steinen und ansonsten mit diversen Behörden herumzuschlagen, das war nicht meine Welt.

Noch heute grüßt die stolze Halle in zeppelinfarbenem Aluminium auf der Fahrt von Lübeck nach Osten. Martin war vor kurzem da. Nach wie vor arbeitet die RGB an diesem schönen Standort. Die Bildnisse großer, unbekannter Meister der zeitgenössischen Kunst schmücken immer noch die repräsentativen Räume. Der Brunnen lief zwar wegen einer Wartung nicht, doch unser altes Certina-Logo prangt scheinbar zeitlos über dem Eingangsbereich. Gute Werke überdauern eben die Zeiten.

31Ein Verlustvortrag (engl. loss carryforward) ist die Summe der noch nicht mit Gewinnen verrechneten kumulierten Verluste der Vorjahre, die steuermindernd mit laufenden Gewinnen verrechnet werden können.

32Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen.

33Ab 100 ha.

34Beim Asset Deal wird nicht wie beim Share Deal der Betrieb als juristische Person übertragen, also die Anteile verkauft, sondern es werden lediglich die Vermögensgegenstände und ggf. die Verbindlichkeiten übertragen. Die (leeren) Anteile verbleiben beim Verkäufer.

35Verkaufserlös DM 4 Mio. + Investitionsförderung DM 3 Mio. + MITROPA 0,2 Mio. abzüglich Kaufpreis DM 0,3 Mio. abzüglich Gläubigerabfindung DM 0,5 Mio. abzüglich echte Investitionen DM 4 Mio.

Flusenflug

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