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Das 11. Abenteuer Flusenflug
ОглавлениеEin weiteres, diesmal größeres Industrieunternehmen mit hoher Wertschöpfung sollte uns im Herbst 1997 Thomas Güntzer antragen, der unser Wirken als Geschäftspartner des East German Investment Trusts (EGIT) bereits bei der TEK Dach und Wand GmbH und dem erfolgreichen Ausgang unseres dortigen Engagements erlebt hatte. Er war es, der den Kontakt zur börsennotierten Kolb & Schüle AG herstellte, einer der ältesten Aktiengesellschaften Deutschlands mit Gründungsdatum 1780. Die beiden Vorstände Herr Mahler46 und Herr Holt47 schienen bei dem ersten Treffen wie aus der Zeit gefallen. Herr Mahler, eine lange, dürre Erscheinung, stets mit Anzug und Weste bekleidet, und Herr Mahler, augenscheinlich ein Gentleman der alten Schule mit Goldknöpfen, verwalteten ein kleines Imperium im Niedergang. Der Konzern hatte sich auf die Textilindustrie fokussiert, eine Branche, deren Betriebe die Bundesrepublik bekanntlich bereits scharenweise verlassen hatten oder ihren Betrieb ganz einstellen mussten.
Im Portfolio der Kolb & Schüle befand sich auch die über einhundertsechzig Jahre alte GG Langheinrich GmbH & Co. KG in Schlitz, die, von DM 60 Mio. Umsatz kommend, inzwischen bei rund DM 28 Mio. angelangt war. Die Gesellschaft war 1832 von Ernst Langheinrich als Leinenweberei geründet worden. 1997 war sie im Grunde ein vollstufiger Textilhersteller für Tisch- und Flachwäsche, ausgestattet mit über einhundert Webstühlen, die im Jacquard-Verfahren weiße Tuche produzierte. Die Firma war zu diesem Zeitpunkt bereits defizitär, jedoch musste der Vorstand von Kolb & Schüle damit rechnen, dass sich die Ertragssituation nochmals verschlechtern und im schlimmsten Falle den ganzen Konzern mit in den Abgrund reißen konnte. Wir trauten uns eine Sanierung der Geschäfte zu, ohne einen wirklichen Sanierungsplan in der Tasche zu haben. Wir einigten uns mit den Herren Holt und Mahler auf einen Kaufpreis von DM 700 000 und schon gehörten uns fünf Produktionsstätten mit ca. 200 Mitarbeitern verteilt auf über 10 000 m2 Betriebsfläche.
Als wir uns beim alten Geschäftsführer als neue Gesellschafter vorstellten, wurde uns als erste Amtshandlung eine Mohrrübe vorgelegt. Diese sei vom Betriebsgärtner in dem Betriebsgarten eigens für die Geschäftsführung vorgesehen. Jeden Morgen würde die Geschäftsführung eine solche Mohrrübe um halb elf auf einem silbernen Tablett mit einer weißen Serviette serviert bekommen. Der arme Gärtner war der Erste, den wir entlassen mussten, obwohl er ja eigentlich gar nichts dafür konnte.
Auch sonst strotzte die Gesellschaft vor personellen Überkapazitäten, was auf eine nicht sehr effiziente Geschäftsführung hinwies. Um die kritische Profitabilität der Gesellschaft und die anhaltend negativen Cashflows in kürzester Zeit zu stoppen, war eine umfassende Restrukturierung unausweichlich. Doch die Widerstände gegen jede Form der Modernisierung waren beträchtlich. Bereits am zweiten Tag ließ ich mir von dem Produktionsleiter die Abläufe in der Produktion erklären. Nachdem die Tuche auf den Jacquard-Webstühlen fertig gewebt waren, wurden sie, soweit sie gefärbt werden mussten, in die Lohnfärberei Winterthur in der Schweiz verbracht, ein der Tatsache geschuldeter Aufwand, dass unsere Textilfabrik, anders als alle unsere größeren Wettbewerber, keine eigene Färberei auf dem Betriebsgelände besaß. Das führte zu der misslichen Situation, dass fertig gewebtes Tuch in einem aufwändigen Transport nach Winterthur versandt werden musste, dort gefärbt wurde, um anschließend wieder per LKW zur Konfektion in die Fabrik zurückgebracht zu werden. Ein extrem zeitaufwändiges Verfahren, das nicht nur sechs Wochen lang zusätzlich Working Capital band, sondern auch bei Qualitätsmängeln in der Färberei zu einer Wiederholung des ganzen Prozesses führte, auch wenn die Lohnfärberei uns dann zumindest die Materialkosten ersetzen musste. Ich fragte also den Produktionsleiter, ob es denn nicht sinnvoller wäre, den Färbevorgang nach vorne zu verlagern, das heißt bereits vorgefärbte Garne in die Webstühle einzuspannen und dadurch den Transport zur Lohnfärberei vollends zu vermeiden.
Und hier setzte ein Lamento ein, das ich bei meinen zukünftigen Akquisitionstätigkeiten in ähnlicher Form immer wieder hören sollte. »Lieber Herr Dr. Löw. Man sieht schon an Ihrer Fragestellung, dass Sie von Textilwirtschaft überhaupt keine Ahnung haben. Wären Sie Textilit und hätten Sie das Lebensgefühl eines Textilarbeiters mit der Muttermilch eingesogen, dann würde sich Ihre Frage doch vollends erübrigen.« Was ich denn glauben würde, weswegen alle Wettbewerber in der Industrie das sogenannte Stückfärbeverfahren anwenden würden, also die Tuche erst nach dem Webvorgang färbten? Die angewendeten Verfahren würden auf jahrelanger, ja, jahrhundertelanger Erfahrung beruhen und da käme jetzt ich, der Dr. Löw, daher. Es gäbe nichts Besseres und dabei solle man es doch belassen, basta. Dass mich diese Antwort nicht im Entferntesten zufriedenstellte, kann man erahnen. Auf mein Nachbohren, was es denn nun im Einzelnen genau sei, das gegen ein Garnfärbeverfahren48 sprechen würde, gab mir der Betriebsleiter, inzwischen sichtlich genervt, folgende Antwort: »Flusenflug«. Er starrte in mein erstauntes Gesicht. »FLUSENFLUG«, brüllte er, jeden einzelnen Buchstaben betonend, als ob er mit einem Idioten sprechen würde. »Was ist Flusenflug?«, flüsterte ich bescheiden. Nun wurde sein Ton väterlicher: »Ich will es Ihnen erklären. Stellen Sie sich zwei Webstühle vor, die nebeneinander ihre Arbeit verrichten. Die Schiffchen sausen von links nach rechts, die Webstühle erhitzen sich, warme Luft steigt auf. Und nun stellen Sie sich folgenden Fall vor: der eine Webstuhl webt vorgefärbtes rotes Garn, der andere Webstuhl daneben weißes Garn. Aufgrund der Thermik, die unweigerlich entsteht, steigen hin und wieder leichte Flusen mit dem Luftsog nach oben und fallen durch Abkühlung wieder nach unten, und dies links und rechts des webenden Webstuhls. Und webt dann der Webstuhl daneben eben weißes Garn, so ist es ein Naturgesetz, dass immer mal wieder eine rote Fluse sich auf das weiße Tuch setzt und durch die Schiffchen eingewebt wird, sodass das weiße Tuch mit gelegentlichen roten Flusen durchzogen ist. Und diese weiße Charge ist dann Ausschuss und kann weggeworfen werden. Das sind die schrecklichen Folgen des Flusenflugs.« Er starrte mich aus großen Augen an, als sei ich von einer anderen Welt. Sichtlich erschüttert nickte ich. Doch was vom Produktionsleiter als Zustimmung gewertet wurde, war nur eine mechanische Bewegung, die die Denkleistung erhöhen sollte. Um den ganzen Prozess abzukürzen: Ich habe daraufhin den Betriebsleiter entlassen, bin in den nächsten Baumarkt gefahren, habe zwischen die Webstühle Plastikfolien von der Rolle gehängt und die Anweisung ausgegeben, ab nächster Woche würden gefälligst nur noch gefärbte Garne in die Webstühle eingespannt.
Der Erfolg dieser Maßnahme war unglaublich. Das Märchen vom Flusenflug erwies sich, jedenfalls dank meiner einfachen Folienbahnen als reines Luftgespinst. Keine Fluse landete jemals dort, wo sie nicht sollte. Die Qualität der Stoffe erhöhte sich dramatisch, denn bei einem stückgefärbten Stoff, also einem Stoff der erst nach dem Webvorgang gefärbt wird, kann die Farbe das Gewebe nicht perfekt und gleichmäßig durchdringen. Insbesondere an den Stellen, wo die Garne übereinanderliegen ist die Farbdurchdringung geringer. Beim Garnfärbeverfahren ist das Garn schon vor dem Webvorgang perfekt durchgefärbt, das heißt, auch das Gewebe nach dem Webvorgang ist bzw. bleibt perfekt gefärbt.
Der Qualitätsvorsprung gegenüber allen Wettbewerbern, die auf die Stückfärbung vertrauten und ihre alten Färbereien nicht abschreiben wollten, war gewaltig. Denn unsere Kunden waren überwiegend Fluggesellschaften, Hotels oder Mietwäscher, die Tischwäsche in hoher Qualität für ihre Kunden benötigten. So war es für sie extrem wichtig, wie viele Wäschen ein Gewebe durchstand, ohne dass es farbliche Veränderungen gab. Aus dieser Betrachtung heraus war für sie der Preis pro Wäsche die ausschlaggebende Größe. Da unsere Gewebe gegenüber denen des Wettbewerbs zwar absolut gesehen etwas teurer waren, jedoch 60 Prozent längere Lebenszeiten hatten, waren unsere Produkte gegenüber denjenigen der Wettbewerber auf dem Markt – gerechnet auf die Lebenszeit – deutlich billiger. Dies war sogar eine so gewaltige Differenz, dass wir anfingen, nunmehr selbst nach Asien zu exportieren. Wir gewannen Tender49 u. a. bei Cathay Pacific, bei den asiatischen Sheraton Hotels und bei der australischen Qantas Fluggesellschaft. Und dies zu Zeiten, da die asiatischen Textilprodukte den deutschen Markt zu überschwemmen begannen.
Dies war aber nicht der einzige positive Effekt. Durch die Reduzierung der Durchlaufzeiten wegen der eingesparten Transportzeiten zum Lohnfärber wurden mit einem Schlag DM 6 Mio. Working Capital frei, ein positiver Cashflow, der, wie das Manna über das auserwählte Volk, über die Firma hereinbrach. Ein Teil konnte als EK 0450 wieder einmal steuerfrei ausgeschüttet werden.
Schließlich gelang es uns damit auch, die Kundenbindung und Kundenzufriedenheit deutlich zu erhöhen. Nicht nur die kürzeren Durchlaufzeiten waren für die Kunden vorteilhaft, sondern durch den Garnfärbungsprozess konnten wir dem Kunden bereits bei Auftragserteilung zeigen, wie sein bestellter Stoff real aussehen würde. Dazu hatten wir einen Miniwebstuhl anfertigen lassen, in den man horizontal und vertikal jeweils zwanzig Fäden einspannen und so in Windeseile ein ca. pfenniggroßes Stoffstück in der gewünschten Farbe produzieren konnte. Damit war der Kunde nicht mehr auf Farbtafeln oder Referenzobjekte angewiesen, sondern hielt seinen Stoff schon bei Auftragserteilung in Händen.
Die Restrukturierung und Modernisierung der altehrwürdigen GG Langheinrich GmbH & Co. KG war ein voller Erfolg. Als neuen Geschäftsführer und weiteren Partner in den nun folgenden Industrietätigkeiten gelang es mir, Dr. Hans Wehrmann, zu dieser Zeit noch Partner bei der Boston Consulting Group51, zu gewinnen, der quasi als Juniorpartner bei uns einstieg und zunächst einen Anteil von 20 Prozent auf alle zukünftigen Akquisitionen inklusive Langheinrich erhalten sollte. Bei zunehmender Anzahl von Akquisitionen war es notwendig geworden, auf operativer Ebene einen weiteren hochintelligenten und durchsetzungsstarken Kopf zu installieren. Diese Herangehensweise sollte auch in der Zukunft weitere Früchte tragen. Hans Wehrmann war zudem ein guter Freund von Martin und mir. Er hatte mit uns gemeinsam das INSEAD absolviert und während ich zu McKinsey gegangen war, hatte er den Weg zur BCG eingeschlagen.
Eine weitere Vorgehensweise wandten wir auch bei Langheinrich wieder an. Da das alte Management für die vorgefundene Krise ja zumindest mitverantwortlich war, wurde es von uns in der Regel auch als Erstes zur Rechenschaft gezogen. Damit hatte dann eine Gesellschaft für einen Moment keine eigene Geschäftsführung mehr, sodass wir selbst in der operativen Geschäftsführung die Verantwortung übernahmen. Erst wenn die ersten Restrukturierungsphasen erfolgreich beendet waren und die Gesellschaft sich dem Tagesgeschäft näherte, sahen wir uns nach neuen Geschäftsführern um, die die Gesellschaft in die Zukunft führen und einen harmonischen Übergang im Falle des Verkaufs an einen Dritten sicherstellen sollten. Bei der Langheinrich hatte Hans Wehrmann so einen, wie wir fanden, jungen, dynamischen und ehrgeizigen Manager, Herrn Gerd Roth52, gefunden, den wir auf einer Betriebsversammlung der versammelten Belegschaft präsentieren wollten.
Als es also so weit war, betrat Herr Roth mit elegantem Schwung die Bühne. Doch bevor er ein einziges Wort herausbekommen hatte, geschah Merkwürdiges. Sein Gesicht lief zunächst rot an, die Augen traten aus dem Kopf heraus, sein Mund öffnete sich, aber statt etwas zu sagen, quollen nur Töne hervor, die an einen schlechten Alienfilm erinnerten. Ein Raunen ging durch den Saal. Seine Arme begannen windmühlengleich zu rudern, die Wiederholfrequenz der Alientöne nahm ständig zu, bis nur noch kurze, schnelle Schnappgeräusche zu hören waren. Dann, wie ein gesprengtes Hochhaus, bewegte er sich, Haltung wahrend, aus der Vertikalen und schlug mit gestrecktem Körper auf der Rednertribüne auf. Dann war es leise. »War’s das? Brauchen wir einen neuen Geschäftsführer?« schoss es mir wenig pietätvoll durch den Kopf. Doch der Betriebssanitäter konnte Entwarnung geben. Hyperventilation aufgrund der Aufregung. »Na, super«, dachte ich.
Um es vorwegzunehmen, die GG Langheinrich entwickelte sich unter der Führung von Hans Wehrmann prächtig. Die Umsätze stiegen von Jahr zu Jahr an und im Jahr 2000 gelang es, die Gesellschaft an den Textilkonzern von Hans Daun zu verkaufen, der die Firma fortführte. Noch heute produziert Langheinrich am Standort Schlitz hochwertige Tisch- und Flachwäsche.
Ich jedenfalls lernte aus dem Fall Langheinrich und dem Flusenflug, dass auch die tollste interne Expertise sich am gesunden Menschenverstand messen lassen muss, und dass lange Zugehörigkeit zu einer Branche häufig nicht förderlich ist, sondern im Gegenteil, zu einem Tunneldenken führen kann, in dem für Neues kein Platz mehr ist. »Flusenflug« wurde bei uns zu einem geflügelten Wort für all die Fälle, in denen uns ein Branchenexperte wieder unsinnige Branchenregeln als letzte Wahrheit verkaufen wollte. Mein ökonomisches Selbstbewusstsein hatte durch diesen Fall enorm zugenommen. Wir hatten uns gegen alle, gegen die ganze Industrie mit unserer Meinung durchgesetzt und recht behalten!
Was ich aber auch lernte, war, dass die schönsten Erfolge dann erzielt werden können, wenn in einer Branche alle Wettbewerber einer unsinnigen Branchenregel anhängen. In einem solchen Umfeld die Karten neu zu mischen, entfesselt disruptive Energien.
46Name geändert.
47Name geändert.
48Garnfärbeverfahren: gefärbte Garne werden zu Stoff gewebt; Stückfärbeverfahren: ungefärbte Garne werden zu Stoff gewebt, erst danach erfolgt die Färbung.
49Tender (engl.): Ausschreibung.
50Eine steuerliche Besonderheit, die die steuerfreie Ausschüttung ermöglichte, wie bei brw in Kassel und Berg in Mannheim.
51Eines der weltweit führenden Beratungsunternehmen.
52Name geändert.