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Teil 1 Das 1. Abenteuer Im Niemandsland (Ostwestfalen)

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Inzwischen waren mehr als sechs Monate vergangen. Martin hatte tatsächlich bei seiner Firma gekündigt und streifte seitdem wie ein einsamer Wolf durch die Lande, immer auf der Suche nach Beute. Natürlich ging er dabei nicht planlos vor, sondern hatte jene kleine, feine und geheime Liste aus seiner alten Firma mitgenommen, eine Liste von Unternehmen, die möglicherweise zum Verkauf standen. Diese hatte er in seiner Zeit als Akquisiteur bei der IMM für sich erstellt, mit Firmen, die nicht unbedingt in das Beuteschema der IMM fielen, jedoch uns als kleine Einsteiger durchaus interessant erschienen. Und natürlich waren alle diese Unternehmen Büromaschinenhändler, denn mit nichts anderem hatte Martin sich im vergangenen Jahr beschäftigt. Seine Frau war natürlich ob dieser Entwicklung nicht sehr glücklich. Bereits seit einigen Monaten schwanger12 war es für sie alles andere als eine Traumvorstellung, dass ihr Mann den wohldotierten und langfristig garantierten Job verließ, um ohne konkrete Aussicht auf ein gesichertes Einkommen und ohne festen Arbeitsplatz rastlos umherzuziehen, bei wildfremden Firmen anzuklopfen und nur noch selten zu Hause zu sein. Doch derart kleinkrämerische Gedanken ließen wir nicht gelten.

Ich zahlte Martin, wie vereinbart, die Hälfte meines McKinsey-Gehalts und Martin fuhr mit dem klapprigen und ausrangierten Mercedes seines Vaters, der bestimmt seine fünfzehn, zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte, in die Welt hinaus. Ich selbst hatte dabei zugegebenermaßen den weitaus angenehmeren Job. Ich blieb auf meiner tollen Position bei McKinsey, genoss weiterhin die Erste-Klasse-Flüge und die 5-Sterne-Hotels. Zweimal umkreiste ich auf diese kommode Art den gesamten Erdball, von München nach Boston, über Denver nach Los Angeles, von Hawaii (natürlich) nach Japan, nach Hongkong und nach München zurück, um als doch reichlich unerfahrener Berater den großen, internationalen Consultant zu mimen.


Ende 1992 war es dann so weit. Nach vielen Absagen durch potentielle Verkäufer, aber auch nach vielen Absagen durch uns nach Analyse der Firmenzahlen, hatte Martin scheinbar das ideale Unternehmen gefunden. Geld hatten wir ja keines und so war ich doch ein wenig überrascht, als Martin mir mit strahlenden Augen unseren ersten Deal präsentierte. Ein kleiner Büromaschinenhändler in Espelkamp mit gerade einmal DM 7,9 Mio. Umsatz sollte es sein. Er werde von zwei älteren Herren geführt, die aus Altersgründen die Firma verkaufen wollten, sich aber bereit erklärt hätten für ein, zwei weitere Jahre als Geschäftsführer in der Firma zu verbleiben. Der Kaufpreis sollte »nur« DM 7 Mio. betragen und entsprach damit fast einmal dem Umsatz. Einen in Relation zum Umsatz derart hohen Kaufpreis würden wir in der Zukunft übrigens nie mehr zahlen, aber noch waren wir die Unerfahrenen. Martin schwärmte von den Vorzügen dieser Firma. Die A + L Bürocenter GmbH13 sei der Platzhirsch und habe mit Minolta einen zuverlässigen Lieferanten. Allerlei stille Reserven hatte Martin außerdem in den Jahresabschlüssen ausgemacht, die nach seiner Meinung innerhalb kürzester Zeit gehoben werden könnten und damit unweigerlich zu einer raschen Rückführung des gesamten Kaufpreises führen müssten. Das hörte sich doch ganz gut an.

Die A + L Bürocenter GmbH war ein Büromaschinenhändler, der auf mehreren Geschäftsfeldern aktiv war. Die Gesellschaft verkaufte mit 27 Mitarbeitern nicht nur Kopiergeräte und andere Büromaschinen, sie unterhielt auch einen eigenen Leasingdienst, der Kopiergeräte an Endkunden, meist gewerbliche oder industrielle, verleaste, außerdem einen Wartungs- und Reparaturdienst. Alleine in der Werkstatt arbeiteten circa 11 Mann und nicht zuletzt gab es auch noch eine Abteilung für Büromöbel. Die Gesellschaft hatte ihren Sitz in Espelkamp, einem Städtchen oder besser einem ehemaligen Munitionslager der Nazis, das nach dem Krieg mit Aussiedlern aus dem Osten erst zu einem Städtchen aufgepäppelt worden war. Nördlich des Wiehengebirges gelegen, also dort wo jede Zivilisation aufhört, umgaben das große Torfmoor, das Niedermoor und das Freimoor das Stadtgebiet. Alle schienen dort lutheranisch oder so was zu sein, jedenfalls waren sie nicht sehr redselig und meistens schlecht gelaunt. Die nächste größere Stadt war ca. 40 Kilometer entfernt und das war dann ausgerechnet auch noch Bielefeld!

Der Markt war wegen relativ geringer Eintrittsbarrieren und einer weit gestreuten Lieferantenschar, die fast identische Artikel zu fast identischen Preisen lieferte, heiß umkämpft. Es gab nur eine geringe Markentreue unter den Abnehmern. Ob ein Kopiergerät von Canon, Ricoh oder Minolta kam, war letztlich relativ egal. Was dem Kunden jedoch nicht gleichgültig war, waren die Reaktionszeiten, falls es einmal zu einem Papierstau bei einem Kopiergerät gekommen war. Im schlimmsten Fall konnte so ein ganzer Geschäftsbetrieb lahmgelegt werden. Daher definierten gerade diese Reaktionszeiten, nämlich die Entfernung und damit die Fahrzeiten der Reparaturteams vom Firmenstandort zum Kunden, in welchem Umkreis Kunden bedient werden konnten. Und tatsächlich besaß die A + L, ähnlich einem militärischen Gefechtsstand, eine operative Einsatzzentrale, die die verschiedenen Reparaturfahrzeuge zentral steuerte und so die kürzesten Reaktionszeiten erzielte.

Am 31. Dezember, also am Silvesterabend des Jahres 1992, unterzeichneten wir mit den Verkäufern Herrn Landmeier14 und Herrn Althaus15 den Kaufvertrag. Der Kaufpreis sollte mit Fertigstellung der geprüften Jahresabschlüsse geleistet werden. Dann wären wir stolze Eigentümer unserer ersten Firma, hafteten aber auch persönlich für die gesamte Finanzierung. Mit circa DM 7 Mio. belastet, aber um ein Unternehmen reicher, begannen wir nunmehr unsere Karriere als Firmenkäufer.

An diesem denkwürdigen Silvesterabend kehrten wir in Martins alter Kutsche erschöpft, aber doch befriedigt und ehrlicherweise auch ein wenig besorgt nach München zurück. Wir hatten alles auf eine Karte gesetzt. Die im Haus von Martin Vorderwülbecke angesetzte Silvesterfeier war bei unserer Ankunft gegen zwei Uhr so gut wie vorbei, die Stimmung bei ihm zu Hause natürlich aufgrund der zu späten Stunde und der uns dämmernden Haftungslage ein wenig angespannt. So endete dieser Abend bzw. begann dieser Neujahrsmorgen doch etwas lautstärker, nicht wegen der noch vereinzelten Böller, sondern wegen des offenbar aussichtslosen Versuchs von Martin, seiner lieben Frau die Situation zu schildern. Irgendwann ging eine Tür zu Bruch. Da beschloss ich, doch besser zu gehen. Wie schwer fällt es manchmal, die großen Taten waghalsiger Männer angemessen zu würdigen im Angesicht des täglichen, hochkomplexen Mikrokosmos eines Haushalts.

Nun waren wir ja von Hause aus nicht mit unbegrenzten Geldmengen gesegnet. Eigentlich hatte ich mir durch meine Arbeit bei McKinsey lediglich ein Polster von rund DM 150 00016 zurücklegen können. Ähnlich war es bei Martin. Der Kaufpreis sollte jedoch ebendie geforderten DM 7 Mio. betragen. Es bestand also noch eine gewisse Differenz. Fröhlich und naiv wie ich damals war, ging ich als Erstes zu meiner Hausbank in München und fragte an, ob diese nicht einfach die fehlenden DM 3,35 Mio. auf meinen hälftigen Anteil finanzieren könnte. Ich pries die zu kaufende Firma in den höchsten Tönen, konnte positive Bilanzen der letzten Jahre vorweisen, es gelang mir sogar, den Bankbetreuer auf meine Seite zu ziehen, der natürlich zunächst nur seine Provision im Auge hatte. Jedoch kamen aus dem Kreditausschuss ernüchternde Nachrichten. Man wolle aus München heraus nicht eine Firma im entfernten Espelkamp – Wo liegt das eigentlich? Gibt es das überhaupt? – finanzieren. Die Firma sei im Übrigen viel zu klein und damit unterkritisch17 für ein solches Investment. Schließlich hätte ich keinerlei Track Record18 und könnte auch sonst nicht nachweisen, dass ich überhaupt in der Lage sei, eine solche Firma operativ zu managen. Aber weil sie ja einen so guten Eindruck von mir hätten und ich schließlich ja bei McKinsey arbeiten würde, hätten sie sich im Gremium dafür entschieden, mir doch in gewisser Weise unter die Arme zu greifen. Unter Verpfändung meines McKinsey-Einkommens bis ans Lebensende wären sie gerne bereit, mir DM 200 000 zu leihen.

Das waren andererseits auch keine völlig schlechten Nachrichten. Immerhin hatte ich jetzt erkannt, dass meine Position bei McKinsey anscheinend einen gewissen monetären Wert besaß. Daher bedankte ich mich freundlich für die Zusage, strich die DM 200 000 ein und setzte, ausgestattet mit jetzt insgesamt DM 350 000, meine Finanzierungsreise fort. Bei der nächsten Bank erging es mir ähnlich, nur dass ich meine Geschichte in der Zwischenzeit ein wenig adaptiert hatte. Nunmehr konnte ich auf DM 350 000 »Eigenmittel« zurückgreifen. Mir fehlte also nur noch die kleine Differenz von DM 3,15 Mio. und wieder bekam ich eine Zusage über einige Hunderttausend DM »wegen McKinsey«, sodass sich die Finanzierungslücke langsam zu schließen begann. So zog ich munter weiter durch die Finanzwelt und ergatterte hier und da noch einige Mittel, um schließlich mit fast einer Million im Säckel bei der örtlichen Sparkasse in Rahden vorzusprechen, die seit Jahren die Hausbank der A + L gewesen war. Auch Martin war ähnlich weit gekommen.

Jetzt standen wir also gemeinsam vor Herrn Direktor Gollup. Herr Gollup, inzwischen an die sechzig, war das, was man sich unter dem Direktor einer ländlichen Sparkasse vorstellte. Mit einem kleinen Wohlstandsbauch ausgestattet, stets in grauem Anzug mit Weste und einer eigenwilligen Krawatte, die ich nie in Erwägung ziehen würde, strahlte er die Würde und Bedeutung seines Amtes aus. Mit der Bitte uns, als wichtige Investoren, eine gewisse Brückenfinanzierung für die Akquisition der für den Landkreis so bedeutenden Firma A + L zur Verfügung zu stellen, stießen wir endlich auf offene Ohren. Der Bankdirektor, von unserer offensichtlichen Finanzkraft und unserem bestimmenden Auftreten beeindruckt, erklärte sich bereit, unter Verpfändung der Anteile der Gesellschaft und nach Abgabe jeweils einer gesamt- und selbstschuldnerischen, persönlichen Bürgschaft unter Verzicht auf jedwede Einrede (übrigens wie bei allen anderen Banken vorher auch) das fehlende Quäntchen zu finanzieren.

Dass eine solche »Kaskadenfinanzierung« natürlich nicht den üblichen Standards einer soliden und seriösen Finanzierung entsprach, dass insbesondere mein McKinsey-Gehalt durch die Mehrfachverpfändungen deutlich strapaziert war, dass dies alles heute natürlich gar nicht mehr möglich wäre, das war mir damals nur ansatzweise bewusst. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

Zwei Monate später lagen die Jahresabschlüsse vor und wurden beim Notar hinterlegt. Die Fälligkeitsvoraussetzungen für die Auszahlung der Bankdarlehen waren damit eingetreten. Die tatsächliche Abwicklung des Kaufvertrages sollte jedoch bereits in dieser frühen Phase einen leichten Schatten auf unser erstes gemeinsames Projekt werfen. Über den Kaufpreis hinaus hatten wir nämlich mit der Bank vereinbart, dass diese uns einen weiteren Working Capital19-Kredit20 über DM 200 000 zur Verfügung stellte. Die Idee war, mögliche Schwankungen im Cashflow der A + L, die man nicht voraussehen konnte, auszugleichen. Wir hatten also auf unserem Konto nach Auszahlung aller Darlehensvaluta DM 7,2 Mio.

Im Rahmen einer kleinen Übergabezeremonie hatten wir uns alle in den Räumen der Gesellschaft versammelt. Anwesend waren die Herren Landhaus und Altmeier, der Herr Bankdirektor aus Rahden, Martin Vorderwülbecke und ich. Mit feierlicher Geste nahm Martin ein Scheckformular zur Hand und im Beisein aller füllte er dieses Scheckformular mit dem Kaufpreis aus und übergab es ebenso feierlich den beiden Verkäufern. Was Martin jedoch in der Aufregung dieses Augenblicks übersehen hatte, er hatte anstatt des Kaufpreises von DM 7 Mio. einen Betrag von DM 7,2 Mio., also den gesamten Valutabetrag des Darlehens, eingetragen. Dies bemerkten wir erst wenige Tage später, als die Valuta von unserem Konto in dieser überkompletten Höhe von den beiden Verkäufern abgebucht worden war. Natürlich stand im Kaufvertrag eine andere Summe und natürlich hatten die Herren auch keinerlei Anspruch auf den erhöhten Betrag. Wir fragten also an, ob sie den Betrag erhalten hätten und wenn ja, wann sie uns den versehentlich zu viel geleisteten Teil wieder zurücküberweisen würden. Die Antwort war kurz und bündig. Ein ostwestfälisches »Nö« schallte uns entgegen. Es sei eine alte Regel, dass das, was gezahlt worden sei, bezahlt sei und immer so verbliebe. Das sei hier so! Wir waren nun in einem gewissen Dilemma, denn einerseits sollten besagte Herren die Firma unter unserer Ägide ja weiterführen, und wir wollten es uns nicht gleich am Anfang mit ihnen verderben, andererseits handelte es sich nicht gerade um einen geringen Betrag, jedenfalls nicht für uns, die sich den gesamten Kaufpreis überhaupt erst hatten leihen müssen.

Um einem Streit gleich zu Beginn der Beziehung aus dem Wege zu gehen, schalteten wir den Bankdirektor aus Rahden ein, der die beiden Herren ja aus der Vergangenheit gut kannte. Da lernten wir den ruhigen und souveränen Herrn Gollup dann von einer ganz anderen Seite kennen. Mit einer diesem Körper kaum zuzutrauenden Lautstärke machte er den beiden Herren in klaren ostwestfälischen Worten deutlich, dass, wenn sie diesen Betrag nicht unverzüglich zurückzahlen würden, er sie nicht nur pfänden werde, sondern darüber hinaus auch ein strafrechtliches Verfahren bei dem mit ihm befreundeten Staatsanwalt mit allen daraus entstehenden Konsequenzen einleiten würde. Ich lernte hier, dass Höflichkeit und Freundlichkeit nicht immer der beste Weg sind, denn diese Ansage schien wohl deutlich mehr Eindruck zu hinterlassen als unsere nett vorgetragene Bitte. Bereits am Nachmittag desselben Tages waren die überschüssigen DM 200 000 wieder unserem Konto gutgeschrieben, ostwestfälisches Landrecht hin oder her.

Mich jedenfalls hatte dieses Geschäftsgebaren bei meinem ersten Deal doch ein wenig nachdenklich gestimmt. Aber nun schienen ja alle Hindernisse aus dem Weg geräumt und endlich konnte unser Expeditionsboot Fahrt aufnehmen – hinaus auf den blauen Ozean der unbegrenzten Möglichkeiten.

12Im Oktober kam dann Sebastian zur Welt.

13Firmenname geändert.

14Name geändert.

15Name geändert.

16Ausweislich des notariell beglaubigten Status über mein Vermögen vom 3. März 1993. Die Beglaubigung erfolgte übrigens durch einen mit Martin befreundeten Notar, der uns »der Einfachheit halber« den Notarstempel für ein paar Stunden zum freien Stempeln überließ.

17Unterkritisch bezeichnet eigentlich den Zustand in einem Kernreaktor, wenn dessen Neutronenvermehrungsrate unter dem Wert von 1 liegt und dadurch keine Kernspaltungs-Kettenreaktion mehr aufrechterhalten werden kann; hier (Branchenjagon): der Zustand, wenn eine Gesellschaft derart wenig Umsatz erzielt, dass sie selbst bei starken Kostenreduktionen nicht langfristig profitabel wirtschaften kann.

18Track record (engl.): Erfolgs- und Erfahrungsgeschichte einer Person, einer Beteiligungsgesellschaft bzw. eines Unternehmens und dessen Managements (Wikipedia).

19Working capital (engl.): Umlaufvermögen abzüglich kurzfristiger Verbindlichkeiten.

20Synonym für Betriebsmittelkredit.

Flusenflug

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