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Patriotisches Gefühl

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Es gibt noch einen zweiten Grund dafür, warum die Renaissance im Norden zu einer anderen Bewertung des Mittelalters kam als in Italien. Das Aufkommen territorialer Staaten und das damit verbundene Aufkommen eines ersten patriotischen Bewusstseins nördlich der Alpen warf nämlich ganz andere Fragen und Probleme auf, sowohl politischer als auch kultureller Art.36 Das 16. und 17. Jahrhundert waren die Zeit, in der die Fürsten versuchten, die Unabhängigkeit des Adels, der Kirche und der Städte zu beschneiden, um mächtige, zentral regierte Staaten zu etablieren, beispielsweise in England unter Führung der Tudors und Stuarts, oder in Frankreich unter den Valois und Bourbonen. Dies führte nicht nur zu Gewaltexzessen und Krieg, sondern auch zu heftigen Debatten über die Legitimität dieser Veränderungen in der Regierungsstruktur. Adel, Kirche und Städte beriefen sich auf alte, ihnen verliehene Privilegien, die Fürsten auf den heiligen Charakter ihres Amtes, das sie verpflichtete, die für alle Untertanen bestmögliche Regierungsform zu schaffen. Alle Parteien verteidigten ihren Standpunkt dadurch, dass sie ihn mit endlosen Stapeln historischer Dokumente untermauerten. Und diese Dokumente stammten alle aus dem Mittelalter, als Fürsten, Adel, Kirche und Bürgertum genau die politische und gesellschaftliche Stellung erworben hatten, die sie nun zu verteidigen oder eben zu vergrößern versuchten.37

Für solche Aufgaben brauchte man Historiker einer ganz neuen Art, nämlich den Forscher und Sammler, der sich in die Archive vergrub, um anhand von Originalquellen zu belegen, wo das historische Recht lag und wo man dafür Präzedenzfälle finden konnte. Diese Generation gelehrter Forscher, darunter Etienne Pasquier in Frankreich sowie Henry Spelman und Edward Coke in England, hat sehr viel Material aus dem Mittelalter gerettet, erhalten und publiziert. Dennoch muss man betonen, dass diese Forscher zwar ihr Bestes getan haben, die mittelalterlichen Quellen zu erschließen, dies jedoch keineswegs in der Absicht taten, sie zu benutzen, um eine Geschichte des Mittelalters zu erzählen. Sie waren keine Historiker, sondern Juristen, die sich bemühten, eine möglichst zuverlässige Dokumentation zusammenzustellen, um zu verhindern, dass öffentliche Institutionen und Gerichtshöfe aufgrund mangelhafter Unterlagen Fehler begingen. Die Dokumente, die sie zusammentrugen, waren für sie keine historischen Objekte, sondern Teile des gültigen Rechtssystems, das bis zur Französischen Revolution, und in England sogar bis heute, in Kraft blieb. Ihre Veröffentlichungen verfolgten das Ziel, die Stellung des Königs, die Vorrechte des Parlaments oder die Privilegien der Kirche zu verteidigen. Hier erkennen wir also denselben Umgang mit dem Mittelalter wie bei den Bollandisten oder den Benediktinern von Saint-Germaindes-Prés, die mittelalterliche Quellen ja nur publiziert hatten, um die Wahrheit des Glaubens zu verteidigen.

Die Zentralisierung der Regierungsgewalt besaß auch eine emotionalere Seite. Die zentralisierenden Staaten stützten sich nicht nur auf politische Macht und auf Rechtsansprüche, sondern auch auf ein erwachendes patriotisches Gefühl. Was hier zuerst kam, Zentralisierung oder patriotisches Bewusstsein, ist kaum noch nachzuvollziehen. Tatsache ist, dass die Loyalität vieler Menschen seit dem späten Mittelalter nicht mehr nur der eigenen Stadt, dem eigenen Dorf oder dem eigenen Kloster galt, auch nicht mehr nur der universellen Christenheit, selbst wenn beide wichtig blieben, sondern einer dazwischen liegenden Ebene, die man am besten als die des Territorialstaates umschreiben kann. Die Humanisten haben das patriotische Gefühl stark angefacht, für sie war der Stolz auf das eigene Vaterland mindestens ebenso wichtig wie die Bewunderung der klassischen Antike.

Auch in diesem Punkt traten im Norden größere Probleme auf als in Italien. Italienische Humanisten konnten in einem Atemzug sowohl die Antike als auch das Vaterland rühmen. Die Antike war zugleich Italiens glorreiche Zeit, und sie zurückzuholen würde Italien wieder den ersten Platz unter den Völkern einräumen. Hier hatte Petrarca den Italienern den Weg gewiesen. Das Mittelalter hatte Italiens Ruhm nicht gemehrt, ihm eher geschadet, zumindest sahen die Italiener des 16. Jahrhunderts das so. Dagegen waren die Länder des Nordens in der Antike völlig unbedeutend. In den Schriften der antiken Autoren tauchten die nördlichen Länder und Völker kaum auf, es sei denn als Barbaren, die Rom Beute und Sklaven lieferten. So gut es irgend ging, bemühten sich die Humanisten aus dem Norden, die Geschichte der Antike auch für ihre Länder relevant zu machen, was eine Reihe recht komischer Rekonstruktionen der Vergangenheit ergab.

Die Entdeckung des Mittelalters

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