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Einleitung Der Tod der Kathedralen

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Im Sommer 1904 fasste die französische Regierung nach langem Zaudern den Beschluss, eine Trennung von Kirche und Staat durchzuführen. Im Vorfeld dieser Entscheidung war es zu diversen Zwischenfällen gekommen. Als Präsident Émile Loubet im April auf Staatsbesuch beim italienischen König in Rom weilte, hatte Papst Pius X. ihn nicht zur Audienz empfangen.2∗ Im Juli hatte die Regierung ohne Rücksprache mit der Kurie alle diplomatischen Beziehungen zum Vatikan abgebrochen und ihren Botschafter am päpstlichen Hof nach Paris zurückbeordert. Anschließend war die totale Säkularisierung des französischen Staates nur noch eine Zeitfrage.

Am 16. August 1904 reagierte Marcel Proust in der Zeitung Le Figaro auf den Regierungsbeschluss. Als echter Freidenker vertrat Proust keine radikalen Ansichten zur Säkularisierung. Seiner Meinung nach übertrieben die Antiklerikalen fürchterlich, und ein bisschen Toleranz von beiden Seiten könnte eine Menge Ärger verhindern. Allerdings machte er sich in seinem Artikel Sorgen wegen der möglichen Folgen dieser Säkularisierung für die französischen Kirchen, und zwar vor allem für die Kathedralen: „dem höchsten und ursprünglichsten Ausdruck von Frankreichs Genius“. Proust rechnete damit, dass die Kathedralen in Staatsbesitz übergehen und damit dem Gottesdienst entzogen würden. Ersteres geschah tatsächlich, Letzteres nicht. Er sah eine kulturelle Katastrophe kommen, wenn die französischen Kathedralen nicht länger als Gotteshäuser dienten. Sie würden sich dann rasch in Sehenswürdigkeiten verwandeln, von denen bald niemand mehr wüsste, welchen Zweck sie früher erfüllt hatten: „unverständlich gewordene Überreste eines vergessenen Glaubens“.

Was würde dann weiter mit den Kathedralen geschehen? Proust dachte, dass vielleicht Gelehrte in einigen hundert Jahren untersuchen würden, welche Rituale man eigentlich früher darin abgehalten hatte und welche Gesänge dabei angestimmt wurden, um herauszufinden, was diese verlassenen Gebäude früher so lebendig gemacht hatte. Und anhand dieser Rekonstruktionen würden Künstler vielleicht Theaterstücke und Musikdramen schreiben und in den Ruinen aufführen, um die schweigenden Gebäude wieder zum Sprechen zu bringen. Wir denken dabei sofort an etwas wie living history oder son et lumière, doch Proust meinte, dass solche Aufführungen des katholischen Gottesdienstes so herrlich und prächtig sein könnten, dass sie leicht Wagners Parsival übertreffen, eine Oper, die, wie er hämisch hinzufügte, nichts weiter sei als ein Abklatsch des katholischen Rituals.

Doch zu solchen Rekonstruktionen musste es in der Zukunft gar nicht erst kommen, weil es solche perfekten Aufführungen, wie Proust sagte, schon jetzt im heutigen Frankreich gab, in jeder Stadt, in der eine Kathedrale stand. Die katholische Kirche sei nicht tot, sondern quicklebendig. Und das bedeutete, dass diese herrlichen Aufführungen täglich stattfanden. Ihre Darsteller waren die Priester, die in den Kathedralen Messen hielten und das Brevier beteten, die Kirchenchöre und Organisten, die der Liturgie Glanz verliehen, sowie die Küster und andere Statisten, die alles vorbereiteten und bereitlegten. Sie könnten das Schauspiel der katholischen Liturgie weitaus besser aufführen als die besten Schauspieler, weil ihr Auftritt keinem ästhetischen Gefühl entsprang, sondern einem aufrechten Glauben, der garantierte, dass ihre Darbietungen viel ästhetischer und authentischer waren, als ein perfekt inszeniertes Theaterstück.

Proust versuchte seinen Landsleuten bewusst zu machen, dass sie mit den Kathedralen etwas völlig Einzigartiges besitzen. In Frankreich seien sie die einzigen historischen Baudenkmäler, die noch für den Zweck genutzt werden, für den sie ursprünglich errichtet wurden, und in denen die Vergangenheit noch intakt weiterlebte. Sollte die französische Regierung tatsächlich beschließen, mit Rom zu brechen, so dass die Kathedralen geschlossen beziehungsweise zu Museen, Konferenzzentren oder Kasinos umgebaut würden, würde Frankreich zugleich die letzte Verbindung zu seiner ruhmreichen Vergangenheit unterbrechen. Die Kathedralen seien nämlich die einzigen Orte in Frankreich, wo die Vergangenheit noch lebendige Gegenwart sei.3 Kathedralen, die in Museen verwandelt würden, seien lediglich leere Muscheln, in denen man nur das „vage Rauschen früherer Zeiten“ vernimmt, wenn man sie ans Ohr hält. Wer das Ewige Licht im Chor lösche, rieche nur noch den Gräbergeruch des Museums.4

Die Entdeckung des Mittelalters

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