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Die neue Frage, die das Leben stellt

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Damit verlässt die gegenwärtige Entwicklung bereits den Bereich der Krisis, den Bereich der Entscheidung: Sie hat eine Entscheidung getroffen, indem sie ihr aus dem Wege geht und dem Gesetz der Trägheit folgend, einfach den alten Trend in einer weiteren Flucht nach vorne forciert. Damit tritt das Wachstum zum Tode in einen immer schärferen Widerspruch zum Leben. Die große Gefahr liegt dabei in dem Größenwahn, der die Macher der modernen Welt in dieser spätpubertären Phase antreibt in der Einbildung, wir würden uns in einem völlig neuen Zeitalter bewegen, das der Menschheit ungeahnte neue Möglichkeiten zu erschließen vermag. In Wirklichkeit leben wir aber keineswegs in einer „Neuzeit“, sondern am Ende einer alten Zeit. Die Strategen der Globalisierung und der Informationsgesellschaft gehören in ihrer Mentalität noch ganz der alten Zeit an und sind nicht fähig, die neue Frage zu vernehmen, die das Leben heute an uns richtet.

In der Zeit der Kindheit hat das Leben an die Menschen aller Völker die Frage gestellt: „Willst du mit mir spielen, willst du mit mir ringen, mich entdecken und erforschen, willst du deine Kräfte mit mir messen, damit du stark wirst an Körper und Geist?“ Seit urdenklichen Zeiten hat das Leben die Spezies Mensch dazu herausgefordert, die Erde und alles Leben, das sie bevölkert, kennenzulernen, mit ihm zu ringen und an ihm zu wachsen. Heute, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, will uns das Leben mit einer Herausforderung ganz anderer Art begegnen. Auge in Auge schaut es uns an und fragt: „Willst du Freundschaft mit mir schließen?“ Das Leben wünscht sich nichts sehnlicher, als daß wir nun endlich als reife, erwachsene Menschen mit ihm zusammenarbeiten, daß wir die alte Mentalität der Kindheit, die Mentalität des Wettbewerbs, des Kampfes, der Macht, des Wachstums und der Maßlosigkeit hinter uns lassen und daß wir nun unsere Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, sortieren: Daß wir aus Liebe zum Leben aussondern, was ihm schadet, und alles weiter entwickeln, was dem Leben des Menschen und der Schöpfung dient. Das Leben lädt uns nun ein, alle unsere Kräfte und Fähigkeiten einzubringen in das große Hauptthema der Schöpfungssymphonie: Die Einigung, Ergänzung und Gemeinschaft allen Lebens. Die ganze Dynamik der Evolution zielt seit Jahrmillionen auf dieses eine große Werk hin, so wie sich der Sproß einer Pflanze unbeirrt durch den gleichförmigen Rhythmus des Wachstums hindurcharbeitet und sich hinaufschiebt, um schließlich der Blüte zum Durchbruch zu verhelfen, jenem neuen Organ, das imstande ist, Wachstum durch Ergänzung zu überwinden. Am Beginn des Erwachsenenalters der Menschheit müssen wir uns klar darüber werden, daß es nichts und niemanden gibt, der unsere heutigen Streiche, unsere Vergehen gegen das Leben, ausbügeln wird. Unser Lebensraum: Die Erde, ein verlorenes Staubkorn im All. Es gibt keine „unsichtbare Hand“, keine beschützende Autorität, die uns vor dem Risiko bewahren könnte, daß das Leben auf dem Planeten, den wir bewohnen und der uns ganz alleine anvertraut ist, scheitern kann. Die Frage, ob wir diese Erde lieben, können wir auch an keine Instanz unserer gegenwärtigen Zivilisation weitergeben; denn diese Instanzen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stammen aus einer alten Zeit und dienen einer alten Lebensordnung. Wir können von ihnen nicht erwarten, daß sie die neue Frage vernehmen und verstehen, die das Leben heute an uns richtet, und daß sie Maßnahmen ergreifen und Wege eröffnen für das Werden einer neuen Kultur. Die Instanzen der alten Ordnung verwalten das Alte, bis die Zeit kommt, da es erlöschen muß. Nicht mehr Macht und Herrschaft über die Schöpfung, sondern Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung, Freundschaft mit allem, was lebt, darin wird künftig die große, faszinierende neue Aufgabe menschlicher Kultur bestehen.

Die Charakterisierung der gegenwärtigen Lebenskrise als „Pubertätskrise“ in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte weist darauf hin, daß diese Krise nicht mehr durch einen weiteren Fortschritt technischer, ökonomischer und politischer Maßnahmen, Macht und Programmierung des Lebens überwunden werden kann, sondern allein durch die geistig-seelische und ethische Reifung und Gesundung des einzelnen Menschen. Sie besteht darin, daß in ihm die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zum Tragen kommt, die ihn zum Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung fähig macht. Diese Ethik in sich zu entwickeln und in Freiheit zu verwirklichen, wird der einzelne Mensch bis heute dadurch gehindert, daß er sich in seiner Erziehung und Bildung und in seiner Arbeit den herrschenden Überlebensbedingungen unterwerfen muß, deren Inhalte und Ziele von einer technisch und ökonomisch programmierten Fortschritts-, Wachstums- und Wettbewerbsideologie bestimmt sind. So kann er sein Selbstwertgefühl nicht darin finden, an einer Kulturentwicklung mitzuwirken, die dem Leben von Mensch und Schöpfung dient. Um die gegenwärtige „Pubertätskrise“ der Menschheit zu überwinden, bedarf es neuartiger ganzheitlicher Bildungsmöglichkeiten und entsprechender sozialer Lebensformen, in denen Menschen in freiwilligem Zusammenschluß und in eigener Verantwortung ihr Leben und Arbeiten im Geiste der „Ehrfurcht vor dem Leben“ gestalten können.

Dem Leben dienen

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