Читать книгу Blanko - Peter Terrin - Страница 10

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Nach drei Tagen relativer Ruhe in seinem fünften Stock stand Viktor wie festgenagelt auf dem Bürgersteig. Es war acht Uhr morgens, und die Stadt raste wie eine infernalische Maschine.

Igor brachte ihn wieder in Bewegung und lotste ihn.

Einmal im Strom der Passanten, wurde die Hektik erträglicher, jedenfalls weniger anstrengend für die Augen. Der instinktive Impuls, sich vor dem frenetischen Autoverkehr, der zwischen den hohen Fassaden schrill widerhallte, die Ohren zuzuhalten, blieb.

Die ganze Zeit über liefen sie zwischen denselben Personen. Auf der anderen Straßenseite bewegte die Menge sich in entgegengesetzter Richtung. Ein fantastischer Dokumentarfilm über Verhalten und Eigenschaften großer Gruppen von Lebewesen hatte ihn gelehrt, dass sich so etwas automatisch ergibt, dass sowohl Stare als auch Flamingos, Heringe und Menschen über wundersame Organisationsinstinkte verfügen, sobald die Umstände dies erfordern.

In unmittelbarer Umgebung war Viktor der einzige Erwachsene mit einem Kind an der Hand. Die meisten hasteten zur Arbeit. Auch viele Schüler. Er war verblüfft, wie genau die aktuelle Mode befolgt wurde: überall weite Hosen, Bonbonfarben und strubbelige Gelfrisuren, und obwohl die Jungen und Mädchen sich damit zweifellos höchst individuell vorkamen, wirkte das Ganze auf Viktor wie eine Uniform.

Bei der zweiten Kreuzung bogen sie links ab. Sobald sie den Weg Richtung Zentrum verlassen hatten, ließ das Gedränge auf dem Bürgersteig nach.

In einem Hauseingang las ein zerlumpter Mann Zeitung, während er auf unappetitliche Weise an einem belegten Brötchen knabberte. Er lag auf der Seite, auf den Ellenbogen gestützt, sodass es aussah, als liege er auf dem Sofa und nicht auf kaltem Stein.

Plötzlich zog Igor Viktor am Arm.

»Da!«

Er zeigte auf eine Straßenbahnhaltestelle am Fuß des Kirchturms, rund hundert Meter entfernt.

»Da ist es!«

Viktor spürte, dass Igor sich von ihm losmachen wollte.

Vor seinem inneren Auge blitzte das Bild von Helena auf, wie sie mit traurigem Lächeln in der Tür stand. Sie hatte ihm erzählt, dass Igor sich seit ein paar Tagen zu groß dafür fühlte, an der Hand seiner Mutter zu gehen. Sobald die Leute an der Haltestelle in Sicht kamen, riss er sich los und ging zwei Meter vor ihr.

Viktor umklammerte Igors Hand noch fester.

»Hiergeblieben!«, fuhr er ihn an.

»Ich wollte dir nur zeigen, wo es ist.«

»Das sehe ich schon selbst.«

Neben dem verglasten Unterstand verabschiedeten sie sich. Igor flog seinem Vater um den Hals und küsste ihn auf die Wange. Viktor roch Trinkjoghurt in seinem Atem, was ihn bis ins Mark rührte. Er ließ sich von Igor feierlich versprechen, dass er in der Schule gut aufpassen werde.

Dreimal drehte Viktor sich um und winkte. Die Gesichtszüge des blonden Jungen verblassten, Viktor konnte nur noch die Hand unterscheiden, die aus der Tasche der Daunenjacke herausfuhr und beherzt zurückwinkte.

Ungefähr zwanzig weit Meter musste Viktor sich auf seine Schritte konzentrieren: So gelang es ihm, die in ihm aufwallende Rührung zu unterdrücken.

Die Sonne brach durch die Wolken. Der schwarze Anzug, den er seit der Beerdigung jeden Tag trug, saugte das Licht auf und wärmte ihm Schultern und Rücken.

Vor dem Hauseingang von eben verunzierte fettiges, zusammengeknülltes Papier den Fußweg. Der Obdachlose hatte sein Brötchen verputzt. Mayonnaise klebte ihm an Schnauzer und Kinnbart, und einen Moment musste Viktor an einen Hund denken, einen dummen, aber gefährlichen Hund, der einen lange und scheinbar gleichgültig beobachtete, um plötzlich, wie aus dem Nichts, gemein anzugreifen.

Viktor war am Eingang beinah vorüber, als der Obdachlose mit einem merkwürdigen Grinsen die Zähne bleckte. Erst eine Ecke weiter, zurück im Gedränge, ging Viktor auf, worin das Merkwürdige dieses Grinsens gelegen hatte: Der Mann hatte makellose, strahlend weiße Zähne.

Vielleicht war er erst kürzlich auf der Straße gelandet.

Vielleicht hatte er sich bewusst für die Obdachlosigkeit entschieden, um einer begüterten, aber hektischen Existenz zu entfliehen.

Zu Hause setzte Viktor Kaffee auf. Nachdenklich stand er vor dem Fenster. Der Himmel war tiefgrau verhangen, nur hier und da sah man vereinzelt hellere Partien, die schnell über einen hinwegzogen. Vier verspielte Möwen hingen fast regungslos in der Luft, verfolgten einander in schwindelerregenden Manövern, um dann wieder elegant stehen zu bleiben.

Vielleicht war der Mann überhaupt kein Obdachloser. Vielleicht hatte der Mann üble Absichten und spielte den Obdachlosen nur, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und ungestört seine finsteren Machenschaften zu verfolgen.

Viktor spürte ein Ziehen im Bauch. Warum um Himmels willen hatte der Mann ihn angegrinst? Ausgerechnet ihn …?

Sein Mantel hing immer noch über dem Stuhl.

Der Fahrstuhl war gerade besetzt. Viktor wartete einen Moment.

Er öffnete die Tür zum Treppenhaus und lief, vier, fünf Stufen gleichzeitig nehmend, nach unten.

Im dritten Stock mahnte er sich zur Ruhe. Das Treppengeländer war eiskalt, zwischen den kahlen Wänden hallte seine Anwesenheit wider. Was mache ich hier eigentlich?, dachte er. Warum gehe ich nicht einfach zurück nach oben?

Inzwischen war der Fahrstuhl frei. Seine Fingerspitze hing unschlüssig über der Fünf, drückte dann aber doch auf die Null.

Im Menschenstrom kam Viktor nur mühsam voran, er wechselte auf die Fahrbahn, wich wütenden Radfahrern aus, spurtete ein Stück. Er hatte das Ende der Straße noch nicht erreicht, als er schnaufte wie eine Lokomotive und seine Beine sich anfühlten wie Pudding.

Ein Stück entfernt sah er die Wartenden an der Straßenbahnhaltestelle, aber keinen zehnjährigen Jungen in Daunenjacke.

Der Hauseingang von eben war leer, das dreckige, zerknüllte Papier verschwunden. Hatte der Mann es nach seinem kleinen Auftritt ordentlich weggeräumt? Spuren verwischt?

Während er sich der Haltestelle näherte, musterte er die Wartenden, einen nach dem anderen. Zu seiner Erleichterung kam ihm keiner bekannt vor. Wahrscheinlich war Igor, kurz nachdem sie sich verabschiedet hatten, in die Straßenbahn eingestiegen. Das ist möglich, ging Viktor mit einem Mal durch den Kopf, aber keineswegs sicher.

Neben der schweigsamen Gruppe, dort, wo er sich von Igor getrennt hatte, kam er zu Atem. In seiner Manteltasche spürte er sein Handy, aber es war sinnlos, jetzt schon in der Schule anzurufen.

Er bestellte ein Taxi.

Kaum zwei Minuten später hielt eins direkt vor ihm, abrupt, mit quietschenden Reifen. Die Frau in der Zentrale hatte Wort gehalten und dem Fahrer eingeschärft, dass es dringend sei.

Viktor stieg ein, nannte den Namen der Grundschule und knallte die Tür zu. »Besser über die Schnellstraße ums Zentrum herum«, sagte er, »da ist weniger Verkehr.«

Der Taxifahrer, ein schüchterner Mann, der sich in der Behaglichkeit seines Übergewichts versteckte, brummte zustimmend.

Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten. Sie schossen an Riesenplakaten mit attraktiven Frauen vorbei, fuhren eine Weile gleichauf mit einem Zug voll neuer Autos. Die ganze Zeit über steuerte der Mann mit der Linken, die Rechte auf seinem Oberschenkel. Vom Geruch nach Toilettenspray, der ihm vom Armaturenbrett aus entgegenschlug, wurde Viktor speiübel.

Das schmiedeeiserne Schultor war unbewacht, auch in unmittelbarer Umgebung sah Viktor nur herbeiströmende Eltern und Kinder. Auf der anderen Seite des Schulhofs erkannte er zwei plaudernde Lehrer, gänzlich uninteressiert an dem, was um sie herum passierte. Igor konnte er nirgends entdecken. Viktor beschloss, sich im Sekretariat zu erkundigen, wo eine Dame mit Pagenschnitt ihm mit größtem Mitgefühl zuhörte. Sie dachte kurz nach und schaute dann auf die Uhr über der Tür. In drei Minuten würde die Schulglocke läuten, dann traten die Kinder nach Klassen geordnet an. Sie brauchte nicht nachzusehen, welche Klasse Igor besuchte, durch die jüngsten Ereignisse wusste sie es auswendig: die 4d. Sie bot Viktor einen Stuhl an und Kaffee, doch er lehnte dankend ab und ging wieder nach draußen.

Systematisch durchkämmte sein Blick die Menge der tobenden Kinder.

Igor konnte er nirgends entdecken.

Das strenge Klingelzeichen ertönte, im Handumdrehen war der Schulhof verlassen. Die farbigen Linien markierten Spielfelder. Viktor sah eine Wollmütze, die Bommel war im Netz eines Basketballkorbs hängen geblieben.

Wie eine Nonne führte die Dame ihn durch die langen Flure, stets ein paar Schritte vor ihm. Unter den Fenstern zu den Klassenräumen hingen die Garderoben voller Winterjacken. Fast überall riefen Lehrer Namen auf. Wortlos folgte er ihr eine breite Treppe hinauf. In der 4d war der Lehrer gerade dabei, einen Satz an die Tafel zu schreiben. Die Kinder redeten durcheinander, auf der Suche nach dem richtigen Heft. Viktor konnte die Dame gerade noch vom Anklopfen abhalten: Igor saß in der zweiten Reihe, ruhig, fast heiter. Er hielt seinen Füller im Anschlag. Erst auf das Zeichen des Lehrers kopierte er den Satz, konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen.

Blanko

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