Читать книгу Blanko - Peter Terrin - Страница 14

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Ein Taxi brachte sie zur Schule. Viktor hatte den Fahrplan der Öffentlichen studiert: Wenn sie nicht viel früher aus dem Haus gingen als gewöhnlich, käme er mit Straßenbahn oder Bus nie rechtzeitig ins Labor.

Wieder stellte Viktor fest, dass am Schultor jeglicher Wachschutz fehlte. Jeder Verrückte konnte hier ein und aus gehen. War eine Schule mit über vierhundert Kindern nicht gesetzlich verpflichtet, einige simple Sicherheitsmaßnahmen zu treffen? Oder sollten die zwei schwatzenden Lehrer am anderen Ende des Schulhofs dafür durchgehen?

»Dir tut also nichts mehr weh?«

»Ich merke nichts«, sagte Igor, sich über den Bauch reibend.

»Wenn du dich nicht gut fühlst, rufst du mich sofort an. Okay? Wo hast du die Nummern?«

»In meiner Hosentasche.«

»Bist du dir sicher?«

Igor kramte ein wenig, nickte und zeigte Viktor das Kärtchen.

Vater und Sohn winkten, bis sie einander nicht mehr sahen.

Das alte Gebäude der Forschungsstelle des Gesundheitsministeriums befand sich am Rand einer grünen Villengegend hinter dem Bahnhof, von dichten Bäumen verborgen. Das ganze Jahr über schienen die dunklen Backsteinmauern zu schwitzen, als sei das Gebäude unausgesetzt schwer erkältet.

Auf dem Parkplatz immer noch dieselben Autos auf denselben Plätzen, nur ihres fehlte.

Viktor hatte den Eindruck, der Kies dort sei schon etwas grüner geworden. Ohne nachzudenken, trat er in das Rechteck. Er postierte sich in der Mitte und begann sich zu drehen. Unwillkürlich schloss er die Augen, und als hätte er damit ein okkultes Ritual ausgeführt, irrte er im nächsten Moment zwischen dicht geparkten deutschen Autos in einer kalten Lagerhalle aus Wellblechplatten umher. Er näherte sich dem Licht und den Geräuschen am Ende der Halle. Ein Transistorradio mit knarzender Musik. Dahinten der schlichte Saab; ein Mann im Holzfällerhemd kniete dort, den Kopf über Kupplung und Gaspedal gebeugt. Viktor sah, dass er abgewetzte Absätze hatte. Er bückte sich zu dem Mann, spürte seine Körperwärme. Er hatte kleine, dicht anliegende Ohren wie ein Kampfhund. Da, auf dem Beifahrersitz: ihr rechter Schuh.

Ein Windstoß jagte durch die kahlen Baumwipfel, ein Hagel niedergehender Zweige. Seine Umgebung drang wieder in Viktors Bewusstsein. Er riss den verwitterten Pfosten mit ihrem Autokennzeichen aus dem Boden und warf ihn ins Gebüsch.

Das blaue Licht scannte seine rechte Hand. Wie sonst auch begann das Türschloss zu summen. Offenbar war er noch immer derselbe.

Eva, die Sekretärin, ein einsames Mädchen von vierundvierzig Jahren, hatte sich heute Morgen die Haare gewaschen. Das tat sie alle zwei Tage, dann steckte sie die feuchten Strähnen ordentlich hoch, wodurch sie schreckliche Muttermale auf Hals und Wange entblößte. Von Weitem sah es aus, als hätte eine Krankheit oder ein Unfall ihr dort Fleisch weggefressen, während ihr Kopf auf wundersame Weise aufrecht geblieben war. Irgendwann, vermutete Viktor, musste ein Mann sie tröstend davon überzeugt haben, dass es nicht an den Flecken lag, dass er sie nicht anziehend fand, dass sie eigentlich sehr hübsch seien, ihr etwas Individuelles, Charakter verliehen und es ihn nicht wundern würde, sollte die Mehrheit der Männer das auch finden.

»Guten Morgen, Viktor«, stammelte sie, während sie ihren Blick auf seine Brust richtete. »Ich … wir alle … wir alle sind froh … ich meine, froh sind wir natürlich nicht, aber froh, dich wiederzusehen. Nicht eigentlich froh, meine ich.«

»Danke«, erwiderte Viktor feierlich.

Die Zeit gefror. Sein schwarzer Anzug hielt ihn wie ein bleischwerer Panzer gefangen, und aus Respekt vor der Verstorbenen wagte Eva nicht, ihre alltägliche Arbeit einfach wieder aufzunehmen.

Ganz anders bei Etcetera, ihrem Chef, der in Wirklichkeit Herman Standaert hieß. Fast aufgekratzt empfing der ihn in seinem Büro. Er drückte ihm kräftig die Hand, bot ihm einen Stuhl an und bestellte Kaffee bei Eva. Als die Tassen auf seinem chaotischen Schreibtisch einen Platz gefunden hatten, lehnte er sich in seinem hohen Lederbürostuhl zurück und sagte: »So!« Er legte die Handflächen zusammen und stützte sein Kinn auf die Fingerspitzen.

Einen Moment lang beschlich Viktor die Furcht, er solle jetzt haarklein berichten, wie es ihm in den vergangenen Wochen ergangen war. Doch der Chef sagte bloß, beinah stirnrunzelnd, wie am Ende einer langweiligen Aufzählung: »Mein herzliches Beileid, et cetera … Aber was kann ich nun für dich tun

Im Labor schüttelten drei Forscherkollegen ihm die Hand, schweigend, mit bedauernd verzogenem Mund.

Andere grüßten ihn nur von Weitem.

So war es Viktor eigentlich auch lieber.

Blanko

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