Читать книгу Blanko - Peter Terrin - Страница 16

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Der zweite Tag im Labor verlief zäher. Kurz vor der Mittagspause mogelte sich Viktor nach draußen und rief ein Taxi.

Nach dem Läuten der Schulklingel kehrte die Stille zurück, als sei der gellende Lärm gänzlich grundlos erfolgt.

Dann aber drang aus dem Innern des Gebäudes ein Rumoren. Wenige Sekunden später war der Schulhof ein einziges heilloses Durcheinander aufgedrehter Kinder mit offenen Jacken und schief sitzenden Mützen. Ein gutes Dutzend Mütter am Tor reckte die Hälse.

Als Viktor endlich allein übrig blieb, hatten sich vor der Kantine lockere Gruppen gebildet, zwischen denen ein paar Jungen sich die letzten Reste aufgestauter Energie aus dem Leib rannten.

Keiner machte Anstalten, das Tor in der Mauer abzuschließen oder auch nur anzulehnen, nicht mal die Lehrkräfte, die außerhalb aßen und für die es doch eine Kleinigkeit gewesen wäre. Sie gingen achtlos an Viktor vorüber, ohne ihn erstaunt oder auch nur fragend anzusehen.

Ein Mädchen kam verträumt angeschlendert. Sie trug seitlich hochgesteckte Zöpfe. Sie schwenkte die Schultasche. Viktor als Einziger sah, wie sie langsam durchs Tor ging, nach draußen. Sie war sieben oder acht.

Während die Kinder im Speisesaal aßen, hätte er in Unterhose quer über den Schulhof laufen können und wieder zurück.

Am dritten Nachmittag überwand Viktor die mentale Hemmschwelle, die trotz fehlendem Wachschutz natürlich da war, physisch aber niemanden abwehren konnte.

Er ging durch die ausgelassene Menge. Als er sich zu dem kleiner werdenden Tor umdrehte, kam es ihm vor, als sei er durch einen ganzen Ozean gewatet.

Die Kinder gingen völlig in ihren Spielen auf, so unbekümmert, dass Viktor einen gewissen Neid verspürte. Für sie war er einfach irgendein Erwachsener auf dem Schulhof, der hatte schon seine Gründe, nichts, um das man sich Sorgen machen musste.

Die Aufmerksamkeit der zwei Lehrer wurde offenbar von einem organisatorischen Problem am Speisesaaleingang in Anspruch genommen; hektisch hantierten sie mit Stift und Papier.

Ungefähr zehn Meter entfernt sah er Igor, über die Schulter eines Kameraden gebeugt, der in der Hocke kauernd etwas auf den Betonboden malte. Zwei Arm in Arm gehende Mädchen beobachteten sie aus einiger Entfernung, das eine hoch aufgeschossen und eher verlegen, das andere klein und schon am Anfang der Pubertät. Viktor wandte sich ab, damit Igor ihn nicht entdeckte, und hastete zum Eingang.

In dem langen, geraden Flur hing ein Geruch nach Bohnerwachs und Topfpflanzen, den er noch von seinem letzten Besuch kannte. Er betrat ein x-beliebiges Klassenzimmer, erwartete halb einen Lehrer, der den Nachmittagsunterricht vorbereitete. Vom Podest vor der Tafel aus schaute er auf die Pulte hinunter; das Holz seiner Schulzeit war bemaltem Metall und braunem, geprägtem Kunststoff gewichen. An den Wänden des weiß gestrichenen Raums verlief ein Streifen Korkpappe wie eine bunte Schleife um ein Geschenk, auf den Zeitungsausschnitte gepinnt waren.

Etwas weiter entfernt rannte jemand durch den Gang, die Schritte kamen schnell näher, ein Junge schoss an der Türöffnung vorbei. Am Ende des Flurs konnte er kaum bremsen, die Tür schlug mit einem Knall zu.

Viktor war wieder allein in seiner eigenen Stille. Vor Nervosität musste er auf einmal dringend pinkeln. Ihm fiel ein, wie seltsam es war, dass Einbrecher in den von ihnen heimgesuchten Häusern niemals pinkelten. Vielleicht taten sie das, aber dann auf der Toilette und nicht einfach so an die Wand im Wohnzimmer. Vielleicht wurden solche Details aber auch nur nie gemeldet.

Unbemerkt erreichte Viktor den ersten Stock. Er hörte, wie sich im Erdgeschoss der Speisesaal füllte. Während er in aller Gemütsruhe auf der Suche nach einem Heft oder einem Buch mit Namensaufkleber die Pulte öffnete, dachte er an seinen ursprünglichen Plan, irgendwo im Gebäude ein Päckchen mit der Aufschrift »Bombe« zu deponieren. Er war froh, dass er den Plan aufgegeben hatte. Sie hätten ihn für verrückt oder kindisch gehalten, und das hätte von seinem eigentlichen Anliegen abgelenkt.

Mit Emma Vercauterens Notizheft unter dem Arm durchsuchte er das Lehrerzimmer im zweiten Stock. Jemand aus dem Kollegium rauchte Pfeife, die Sorte, die einen sanften und edlen Geruch verbreitet, den auch Nichtraucher mögen. Doch in den Schränken und Schubladen fand er weder Pfeifen noch Rauchutensilien. Zu guter Letzt nahm er einen Stapel Kaffeefilter mit.

Die Dame mit dem Pagenkopf, die ihn letzte Woche so freundlich angehört hatte, saß über große Kladden gebeugt. Ihr Büro hatte keine Fenster und war ebenso traurig wie ihr Wollkleid. Links und rechts hinter ihr ragten zwei stählerne Aktenschränke empor, gigantische Aufseher, die ihr offenbar wenig Ruhe gönnten.

»Guten Tag«, sagte Viktor.

Mit einem kleinen Zucken erwachte die Dame aus ihrer Konzentration und blickte ihn wie ertappt an. Sehr schnell fasste sie sich jedoch und grüßte Viktor zurück. Sich ihrer imposanten Kladden bewusst, die über den ganzen Schreibtisch verstreut lagen, legte sie bedeutungsvoll die Hände zusammen.

»Ich würde gern den Direktor sprechen.«

»Der Herr Direktor ist nicht da«, sagte sie mit einem Lächeln, »tut mir leid. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«

Sie zog die Augenbrauen hoch.

Als Viktor nicht sofort mit der Sprache herausrückte, fügte sie hinzu: »Ich kann Ihnen versichern, der Herr Direktor und ich arbeiten seit Jahren eng zusammen, und mehr als einmal habe ich ihn zu aller Zufriedenheit vertreten.«

Viktor trat einen Schritt auf sie zu und präsentierte ihr das Notizheft und die Kaffeefilter. »Diese Schule ist nicht ausreichend gesichert.«

Die Dame hatte Schwierigkeiten, die betreffenden Gegenstände mit seiner Aussage in Verbindung zu bringen, und schüttelte leise den Kopf, was ihre Pagenfrisur sanft hin und her schwingen ließ.

»Das hier habe ich aus dem Pult von Emma Vercauteren genommen. Die Filter stammen aus dem Lehrerzimmer …«

An der Decke über ihnen summten Neonröhren.

»Wenn ich das hier unbemerkt tun kann, so mal schnell in der Mittagspause, dann kann jemand anders das auch. Jemand, der zum Beispiel einen Anschlag plant.«

»Einen Anschlag?« Während sie bestürzt die Schwere von Viktors Ausdruck zu fassen versuchte, nahm sie das Notizheft in die Hand und kontrollierte die Aufschrift. »Warum sollte jemand einen Anschlag auf unsere Schule verüben?«

»Warum? Aus politischen Gründen. Eine Terrororganisation, die politische Gefangene freipressen oder die Weltöffentlichkeit auf irgendein Unrecht hinweisen will. Was weiß ich.«

»Terroristen?«

»Ja, Terroristen – zum Beispiel. Warum nicht?«

Die Dame blickte Viktor argwöhnisch an, unsicher über den Ernst seiner Äußerungen, die dahinterliegenden Motive.

Dann senkte sie verständnisvoll den Blick.

»Einmal, im Jahr 1983, hatten wir im Lagerraum hinter der Küche einen kleinen Brand. Alle Zimmer im Gebäude hatten damals schon Rauchmelder, der Alarm funktionierte, und das Feuer wurde sofort gelöscht. Niemand war je in Gefahr. Nach zwei Stunden konnte der Unterricht wieder aufgenommen werden. Drei Tage später hat Etienne, unser Hausmeister, den Raum gestrichen, und von dem Feuer war nichts mehr zu sehen …« Sie seufzte und sagte: »Ich verstehe Ihre Situation, wirklich, aber ich kann Ihnen schwören: Igor ist hier absolut sicher.«

»Sparen Sie sich Ihr Mitleid. Ich bin hier, um Sie darauf hinzuweisen, dass in dieser Schule jeder x-Beliebige ein und aus gehen kann. Das Tor ist nie abgeschlossen oder bewacht.«

»Das hier ist eine Schule, kein Gefängnis.«

»Aber ich bin unbemerkt ins Gebäude gekommen, in die Klassen, bis ins Lehrerzimmer! Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, dass das auch einmal jemand mit weniger freundlichen Absichten tun könnte?«

»Also jetzt bleiben wir doch bitte vernünftig … Ich meine: Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen.« Sie legte das Notizheft und die Kaffeefilter in ihre Schublade. »Ich arbeite hier seit dreißig Jahren, und das Feuer 1983 war der einzige Vorfall. Außerdem wird hier dreimal pro Jahr alles intensiv evaluiert, von Schulleitung und Elternvertretung, und zwar gemeinsam. Also glauben Sie mir: Die Sicherheit, vor allem die unserer Kinder, hat bei uns oberste Priorität …«

Viktor stand sprachlos vor dem Schreibtisch der Dame, die ihn mitfühlend ansah wie einen kleinen Jungen. Wie konnte er ihr eingefahrenes Denkmuster durchbrechen? Hatte er nicht soeben den Beweis für ihr löchriges Sicherheitskonzept geliefert?

Viktor spürte eine große Wut in sich aufsteigen.

»Ich wette, Sie haben keine Kinder!«

Die Dame war sprachlos. Ihre Verblüffung schlug um in Empörung, ihre blauen Augen wurden kalt wie Stahl.

»Ich habe zwei Kinder«, stieß sie verbissen hervor. »Einen Sohn und eine Tochter.«

Helena liegt mit dem Kopf auf dem Bordstein. Ihr kastanienbraunes Haar ist zu einem eleganten Knoten geschlungen, eine Aura zart gekräuselter Härchen umgibt die glatte Frisur. Schwere Stiefel haben ihr das Gesicht zertreten, und das Genick ist gebrochen. In der reglosen Nachtluft hält sich ein Geruch nach verbranntem Gummi.

Plötzlich steht Helena auf. Mit dem unverletzten Auge sieht sie sich ängstlich um. Nirgends eine Spur von Leben. Die Innenstadt ist ausgestorben, die Fenster sind dunkel und still. Dann aber bemerkt sie eine Gestalt hinter einem unbeleuchteten Erkerfenster, ein Mann im Bademantel, er sieht zu ihr herunter. Er ist alt und stämmig, die wenigen spärlichen Haare streng nach hinten gekämmt. Er hat die Hände auf dem Rücken, als ob er schon eine ganze Weile so dasteht. Sie humpelt zu seinem Haus und pocht verzweifelt an die Tür. Drinnen bleibt es mucksmäuschenstill. Wieder auf der Straße, sieht sie: Der Mann ist verschwunden. Das Haus ist immer noch dunkel. Sie pocht erneut an die Tür, bis sie vor Schmerzen nicht mehr kann. Zu guter Letzt schiebt sie mit dem Daumen die Klappe des Briefschlitzes nach oben. Sie schaut direkt in die glasigen Augen des Mannes. Während sie die Klappe hochhält, zeigt sie auf ihren vollen Mund, den sie nur leicht öffnet, damit der kostbare Inhalt nicht herausfällt. Die Augen verschwinden. Der Mann hat eine dicke, hängende Unterlippe. Sie legt ihr Ohr an den Briefschlitz. »Kein Telefon«, flüstert er langsam.

Blanko

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