Читать книгу Blanko - Peter Terrin - Страница 15

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Seit gut acht Jahren arbeitete Viktor als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kategorie A, beim Gesundheitsministerium. Kurz nach Ende des Studiums war er für eine der wenigen Stellen auserwählt worden. Er wurde in einem Dauerprojekt zu den Folgen der Umweltverschmutzung auf Mikroniveau eingesetzt. Als Zellbiologe sichtete und untersuchte er zahllose tierische Proben aus Industriegebieten, Städten sowie von landwirtschaftlichen Flächen.

Seine Aufgabe bestand darin, die Zellmembranen zu kontrollieren, insbesondere die endozytären Invaginationen, kleine Einstülpungen oder Höhlen, die sich mit Nahrungsbestandteilen füllen, aber auch mit giftigen Stoffen und inerten Substanzen, um sich dann tiefer einzustülpen, abzuschnüren und ein Phagosom zu bilden, ein Bläschen, das sich von der Membran löst und durchs Zytoplasma schwebt. Bei Störungen der Phagozytose, dem zellulären Verdauungsprozess, konnten Giftstoffe aus dem Fresskörperchen freikommen, ins Zytoplasma gelangen, wo sie eine ernsthafte Bedrohung für den Nukleus, den Zellkern, darstellten.

Am Anfang hatte Viktor sich für eine Art Hercule Poirot der Zellwissenschaft gehalten. Bis ihm eines Tages eine mutierte Zelle unter das Mikroskop kam. Er war total aus dem Häuschen, aber der damalige Chef, ein Mann mit grauem Ringbart auf violett geäderten Wangen, zitierte trocken Paragraf 23 und 25 des Einstellungsvertrags, den Viktor mit dem staatlichen Arbeitgeber geschlossen hatte. Danach erhielten wissenschaftliche Mitarbeiter der Kategorie A unter keinerlei Umständen Informationen über die Herkunft der Proben. Kategorie A wurde prinzipiell auch nie an der weiteren Untersuchung beteiligt. Dies war Aufgabe der Sektion B, einer kleinen Gruppe von Auserkorenen, die in Brüssel arbeitete. Der Chef versäumte ebenfalls nicht, Viktor auf Paragraf 1 hinzuweisen, der festlegte, dass ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kategorie A, zur beruflichen Verschwiegenheit verpflichtet sei und dass bei Zuwiderhandlungen Gefängnisstrafe drohe.

Seither wusste Viktor, dass er kein wissenschaftlicher Detektiv war, höchstens ein qualifizierter Beobachter. Er stellte fest. Wie ein Schalterbeamter beim Einwohneramt feststellt, dass ein wichtiger Stempel fehlt, und den betreffenden Bürger an eine andere Stelle verweist.

Auf die Frage nach seinem Beruf antwortete er immer häufiger: »Wissenschaftlicher Beamter«.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen in anderen Ministerien hatte Viktor auch nach achtjähriger Dienstzeit kaum Aussicht auf eine Beförderung: Es kamen noch zwei Kategorie-A-Kollegen vor ihm, und beide erfreuten sich bester Gesundheit. Außerdem war allgemein bekannt, dass Sektion B in Sachen Stellenbesetzungen nur teilweise an die staatliche Laufbahnverordnung gebunden war.

Heute Morgen jedoch war ihm das alles herzlich egal.

Nach zwölf Tagen richtete Viktor den Blick endlich wieder durchs Mikroskop. Fast mit einem Gefühl des Nachhausekommens erkannte er einen Cluster von fünf Zellen. Seine Mundwinkel zuckten beim Wiedereintauchen in diese übersichtliche Welt, die ihm so durch und durch vertraut war.

Meine Arbeit mag ja vor allem aus Routine bestehen, dachte Viktor gelegentlich in einer versöhnlichen Anwandlung, aber ist es kein Vorrecht, sich Tag für Tag mit den Grundbestandteilen des Lebens befassen zu dürfen? Und dieses Leben gegen Angriffe von außen zu schützen, ist das keine bedeutende Aufgabe?

Darüber hinaus bezog er ein beachtliches Gehalt, nie würde es Igor an irgendetwas mangeln.

Gott sei Dank plagten ihn keine himmelstürmenden Ambitionen, denen er manche Kollegen kopflos hinterherstürzen sah. Das schien ihm ein Graus. Hatten diese Leute noch eine einzige ruhige Minute?

Blanko

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