Читать книгу Blanko - Peter Terrin - Страница 6
ОглавлениеAm Tag nach Allerseelen wurde Helena begraben.
Viele Leute, die angesichts des stürmischen Wetters der vergangenen Feiertage zu Hause geblieben waren, kamen heute mit ihren Töpfen mit gelben und weißen Chrysanthemen. Viktor fühlte sich beobachtet; die Beerdigung auf dem neu eingeebneten Feld in der Nähe des Eingangs wirkte wie eine PR-Aktion der Friedhofsverwaltung: taufrischer Schmerz, damit auch die Nachzügler ihren alljährlichen Besuch stimmungsvoll begehen konnten.
Die vier Männer ließen den Leichnam in die Erde hinab. Sie waren Fachleute, der Eichenholzsarg sank feierlich in die perfekt rechtwinklig ausgehobene Grube.
Seine Schwester Eveline drückte sich ein Taschentuch vors Gesicht.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Viktor bei den Vorübergehenden auf dem Hauptweg ein gewisses Zögern. Ab und zu erreichte ihn ein Frauenduft, intensiv und blumig, ein Geruch, bei dem Kinder sich jahrelang geborgen und sicher wähnen können.
Helenas Eltern fassten sich verstohlen an der Hand, während sie regungslos in der Reihe verharrten, den Blick ins Unendliche gerichtet. Rechts schloss der Pastor die Augen und murmelte vor sich hin. Mit beiden Händen hielt er eine Bibel, genau vor die Schamgegend. Er hatte Wurstfinger mit schwarz behaarten Knöcheln, einer davon steckte obszön im vergoldeten Buchschnitt. Viktor war sich sicher, dass dieses Bild ihn bis zu seinem Tod verfolgen würde. Ein Menschenleben, so erschien es ihm immer, quoll über von Erinnerungen, die einem von Umständen aufgezwungen wurden.
Der Sarg kam auf dem Boden des Grabes auf. Die vier Männer streckten den Rücken und traten demütig beiseite.
Einen Moment blieb es still. Man wartete auf die Worte des Pastors.
Sonntägliches Gestöckel auf dem Asphalt.
Viktor beugte sich vor. Die Grube hatte kerzengerade Wände und war mindestens zwei Meter tief, sie auszuheben war bestimmt kein Zuckerschlecken gewesen. Er ging in die Knie, um sich das Ganze genauer anzusehen. Die Welt wäre um einiges besser, wenn jeder seine beruflichen Pflichten mit Stolz und Hingabe ausüben würde.
Er spürte Evelines Hand auf seiner Schulter. Schräg über seinem Kopf hörte er sie schluchzen, während er es einfach nicht fertigbrachte, den Blick von dem einsamen Sarg in der Grube zu lösen.
Wer konnte ihm garantieren, dass Helena wirklich da unten lag? Drei Tage zuvor hatte er sie in der Aufbahrungshalle gesehen, mit wiederhergestelltem Gesicht, die Hände wie zum Gebet gefaltet, aber nicht heute, nicht hier. Es war ja bekannt, dass Leichen gestohlen und verkauft wurden, aus den verschiedensten Gründen. Man hörte die abartigsten Geschichten.
Viktor wandte sich an den älteren Mann, der die Trauerfeier bisher mit sicherer Hand geleitet hatte. Wie seine Untergebenen trug er eine dunkelgraue Uniformmütze mit schwarz glänzendem Schirm.
»Sind Sie sicher, dass meine Frau in dem Sarg liegt?«
Nur langsam drang die Frage voll und ganz zu dem Mann durch; statt einer Antwort konnte er nur mit offenem Mund dastehen. Seine Arme kamen hinter dem Rücken hervor und schlenkerten hilflos an seinem Körper.
Neben Viktor ging Eveline nun gleichfalls im herbstlichen Laub in die Knie und umschlang seinen Kopf. Sie drückte ihm ihre Lippen auf Schläfe und Ohr. Sie tröstete ihn, als würde er genauso laut schluchzen wie sie.