Читать книгу Dornröschen war ein schönes Kind - Petra Nouns - Страница 14

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ALS DER KRANKENPFLEGER SIE zu Mutter führt, versucht sie noch einmal ihren Verstand zu zwingen, sich auf diesen verdammten Moment der Begegnung zu konzentrieren. Sie fühlt weder Dramatik noch Tragik. Auch in letzter Minute, wenige Schritte vor dem Betreten des Zimmers, gelingt es Mechthild nicht, diesem Moment seine Größe zu gewähren. Statt dessen horcht sie auf das Knirschen der Schuhsohlen des Krankenpflegers, der einen halben Schritt vorausläuft. Sein Eau de toilette weht hinter ihm her. Der Duft hat eine sakrale Note, eine Nuance Weihrauch und Amber. Wenigstens einer, der weiß, was sich gehört.

Das Knirschen seiner Schuhe hört auf. Er klopft sachte an die Tür, wartet einen Augenblick, öffnet sie und tritt zur Seite. Ein Blick genügt, und Mechthild sieht, Mutter ist gebrochen. Sie liegt auf dem Bett, hebt jetzt den Kopf und schaut Mechthild mit hohlen Augen an. Mechthild tritt an das Bett heran, Mutter bemüht sich, den Oberkörper zu heben. Mutter und Tochter umarmen sich. Jetzt ist der Moment gekommen.

Weinen schüttelt die Mutter. Mechthild packt ihren Oberkörper an wie eine rüttelnde, bebende Küchenmaschine, die man festhalten muß, damit sie nicht von der Arbeitsplatte hüpft. Ihre Finger krallen sich in Mutters Oberarme, ihr Kinn gräbt sich in Mutters Schultermuskulatur, ihre Augen starren auf die weiße Bettdecke.

Noch ist nichts gesagt. Sie weiß, es ist an ihr, diese ersten Worte zu finden. Mechthild verkörpert ab sofort die regierende Generation. Zu einer bisher nicht erreichten Größe muß sie nun emporwachsen, um der Mutter eine Stütze zu sein. Sie hält die Mutter fest und bewegt sich nicht. Erst wenn sie den Ruck in sich spürt, der der Beginn des Wachsens ist, wird sie ihre Position verändern. Immerhin ist der Tod im Zimmer. Er wird für den gewaltigen Ruck sorgen. Der Tod wird gleich die Feste erschüttern, die Fundamente erzittern lassen, und dann wird sie wissen, wie sie sich zu bewegen hat und was sie sagen muß. Aber es ist Mutter, die sich zuerst bewegt und als erste spricht. Nun bekommt Mechthild die Quittung dafür, daß sie bei der Vorbereitung dieser Begegnung so kläglich versagt hat.

« Gib mir doch mal ein frisches Taschentuch. » Mutter löst sich aus der Umarmung und wischt sich mit den Händen durch ihr verquollenes Gesicht. Mechthild beginnt, aufgeregt in ihrer Handtasche zu kramen. Weiter spricht Mutter, Mechthild hat aufgegeben.

« Da, in der Tasche sind noch welche. Die Tasche habe ich heute morgen noch gepackt, als wir zum Bahnhof sind. Alles habe ich eingepackt, habe nichts vergessen. Auch noch Obst, das hat er doch immer so gern, für zwischendurch. » Mechthild reicht ihr Taschentücher. « Kurz vor Bielefeld hat er noch eine Banane gegessen. Einen Apfel habe ich noch aufgehoben. Bleib du beim Gepäck stehen, habe ich noch zu ihm gesagt. Ich wollte nur schnell den Schaffner fragen, ob unser Zug auch wirklich auf dem Gleis ankommt, und kaum drehe ich mich um, da klappt er mir zusammen. Es war nicht mal mehr eine Stunde bis Bad Oeynhausen! Der Krankenwagen kam sofort. »

Mutter sinkt langsam in die Kissen zurück. « Aber es war alles zu spät. Er wird verbrannt. Bestimmt hätte er das so gewollt. Das ist am praktischsten. Dann wird nur die Urne überführt. Er war immer fürs Praktische. »

Mutters Redeschwall ergießt sich über Mechthild.

« Sie haben gefragt, ob du ihn noch einmal sehen willst. Das willst du doch bestimmt nicht. Er hätte das auch nicht gewollt, bestimmt nicht. Du weißt doch, wie er ... Ach, ich glaube, ich brauche jetzt einen Kognak. Mechthild, hast ... »

Die Beruhigungsmittel wirken wieder. Mitten im Satz ist Mutter eingeschlafen.

Mechthild geht zum Fenster und schaut hinaus. Sie fühlt nach wie vor nichts. « Ali Baba » steht in bunten Lettern auf der üppig um einen Imbißwagen drapierten Sperrholzkulisse aus Minaretten, Palästen und Schleiertänzerinnen. Mechthild vertieft sich in das Szenario. Die Tänzerinnen haben zu große Köpfe und zu kurze Arme und Beine, aber der Faltenwurf der märchenhaften Kleider ist recht gelungen, sogar die Transparenz der Schleier ist gut umgesetzt. Mechthilds Gedanken wandern zurück, zehn, zwölf Jahre, Mandy war vier oder fünf. Sie liebte das Kostüm heiß und innig. Eine hellblaue Pumphose, ein jadegrüner Kaftan als Unterkleid, darüber ein rosafarbener transparenter als Überkleid, alle Konturen des Gewandes mit silberner Bordüre gesäumt, dazu ein Gürtel aus schwerem Brokat mit echten Silberfäden – ein Glanzstück aus Mechthilds Fundus. Mit hauchdünnen pastellfarbenen Tüchern und Schleiern hatte sie das Kostümchen perfekt vollendet. Mandy spielte darin Scheherazade so lange, bis ihr dieses Kostüm endgültig zu klein war. Während mehrerer Karnevalssaisons und immer an langen Nachmittagen, wenn sie mit Naomi Tausendundeine Nacht spielte. Damals wohnte Naomi noch als Einzelkind mit ihrer Mutter und ihrem Vater in der Reihenhaussiedlung. Morgens gingen die Mädchen zusammen in den Kindergarten, und nachmittags spielten sie Prinzessin und Dienerin. Dabei vergaben sie die Rollen immer schön abwechselnd.

Auch Mechthild liebte als Kind Rollenspiele. Dornröschen war ein schönes Kind, schönes Kind, schönes Kind ... Dornröschen saß in der Mitte, die anderen Kinder liefen im Kreis um es herum. Laut hatte die kleine Mechthild mitgesungen: Da kam die böse Fee herein, Fee herein, Fee herein ... Und mitgeklatscht und mitgemimt. Er schlug sich durch die Hecke durch, Hecke durch, Hecke durch ... Da sausten die Kanten ihrer Kinderhändchen kreuz und quer durch die Luft. Sie feierten ein Hochzeitsfest, Hochzeitsfest, Hochzeitsfest ... Da war sie aufgesprungen und hatte ausgelassen getanzt. Es war schwer, eine Rolle zu bekommen, die Kindergärten waren überfüllt in den sechziger Jahren. Nie war es ihr gelungen, Dornröschen zu sein. Diese Rolle war den schönen und den reichen Kindern vorbehalten und den frechen, die sich vordrängeln konnten.

Mechthild spielte mehrmals die böse, einmal die gute Fee und einmal den Königssohn, wegen Mangels an couragierten Jungen oder aber, weil die Jungen das Dornröschen des Tages unattraktiv fanden. Er gab Dornröschen einen Kuß, einen Kuß, einen Kuß ... Es war ihr ausgesprochen peinlich. In dem Moment, als sie küssen mußte, schwor sie sich, nie wieder im Leben eine Rolle anzunehmen, nur um überhaupt eine abzubekommen. Entweder Dornröschen oder gar keine Rolle. Dann lieber im Hintergrund im Kreise der Gewöhnlichen, die den Rahmen für die Außergewöhnlichen bilden. Sie küßte das häßliche und dennoch beneidenswerte Dornröschen auf die Haare hinter dem linken Ohr, und die dumme Gans wischte sich trotzdem angewidert die Wange ab.

« Das nächste Mal bin ich Dornröschen, du blöde Pute, du! » Wenn Mechthild ihr das damals lauthals an den Kopf geworfen hätte, wäre sie es vielleicht geworden. Sie aber war fest überzeugt, daß ein anderer Weg zu ihrer Traumrolle führte: Einmal, nur ein einziges Mal hätte ihr Mutter ihr erlauben müssen, ihr geliebtes rosafarbenes Sonn- und Festtagskleid im Kindergarten tragen zu dürfen. Sie bettelte und bettelte. Das Kleid aus Tüll und Spitze mit Rüschen am Saum und an den Schultern und mit Petticoat! Sie wußte es genau: Der Tag, an dem sie in diesem Kleid im Kindergarten erscheinen würde, wäre der Tag, an dem sie Dornröschen sein dürfte. Aber Mutter ließ das nicht zu. Mutter glaubte schon immer um die Spielregeln des Lebens zu kennen und hielt sich eisern an sie. Also keine Sonntagskleider im Alltag und schon gar nicht im Kindergarten!

Dornröschen war ein schönes Kind

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