Читать книгу Dornröschen war ein schönes Kind - Petra Nouns - Страница 8
ОглавлениеMECHTHILD LÄSST DAS FRÜHSTÜCK ausfallen. Morgens nichts zu essen fällt ihr leicht. Ihre Hände reiben im wohlig warmen Naß über glatte Oberflächen aus Porzellan und Glas. Von Hand zu spülen ist die einzige Hausarbeit, die sie richtig gern tut. Ihre Körpersäfte beginnen dann, Fett und Zucker von ihren Magen- und Darmwänden zu lösen wie das Spülwasser die Speisereste, und die morgendliche Entleerung wird ausgelöst.
Die sündigen Substanzen vom Vorabend werden abtransportiert. Mechthild massiert ihren Bauch und drückt sich aus wie eine Tube. Der Moment danach ist der leichteste des Tages. Nun hat sie wieder Gelegenheit, bei Null zu beginnen. Das Leben liegt vor ihr. Nackt stellt sie sich auf die Waage, schaut der Wahrheit ins Gesicht, und nichts steht mehr der Diät im Weg.
Seit dem letzten Wiegen vor ein paar Monaten sind noch zwei Kilo dazugekommen. Immer, wenn sie so lange nicht hinschaut, sind es ungefähr zwei Kilo.
Sie zieht sich schnell an. Die leidige Pflicht ruft. Sie gehört nicht zu den Frauen, denen die Pflege ihrer Behausung leichtfällt. Manchen scheint solche Arbeit geradezu Freude zu machen, Mutter und wahrscheinlich die meisten ihrer Nachbarinnen sind so veranlagt, aber nicht sie. Wie immer mit einem leichten Widerwillen, aber nichtsdestotrotz sorgfältig und gewissenhaft wird sie also bis Mittag emsig über alle Flächen des Hauses huschen. Ob sie nun will oder nicht, die Fliesen müssen mit dem Mopp blank poliert, die Millionen Härchen des Veloursbodens mit dem Staubsauger aufgerichtet, Schränke und Regale staubgewischt, die Emaille- und Edelstahlzonen der Feuchtbereiche desinfiziert und anschließend sorgfältig trocken gerieben werden. Die Buchführung des Taxiunternehmens muß fortgeschrieben, die Belege müssen nummeriert und abgeheftet und die Aushilfen eingeteilt werden. Nach dem Einkaufen, noch vor dem Kochen, muß sie zu Mutter fahren, der Koffer wegen. Morgen früh wird sie die Eltern zum Bahnhof bringen. Vielleicht sollte sie die Eltern doch mit dem Wagen nach Bad Oeynhausen fahren? Mutter ist vollkommen aufgelöst vor lauter Aufregung. Allein der Gedanke an das Umsteigen in Bielefeld! Sie sind nie gern verreist. Von jeher machten sie am liebsten Urlaub in ihrem schönen, gepflegten Garten. 1978 hatten sie einmal zehn Tage in Oberbayern verbracht in einem Gasthof, in dem das Essen zwar sehr üppig ausfiel, die Getränke aber viel zu teuer waren. Zehn Jahre später versuchten sie es mit einem Winterurlaub im Sauerland, aber da waren die Bettdecken nicht warm genug und außerdem nicht ganz sauber. Also blieben sie fortan lieber zu Hause.
Im Sommer legen sie sich in ihre geblümten Liegestühle, die zum Sonnenschirm, zur Tischdecke und zu der Komfortsitzgruppe auf der Terrasse passen. Der Rasen ist moosfrei und auf exakt acht Zentimeter getrimmt, die im Laufe der Jahre meterhoch gewachsenen, dicht an dicht gesetzten Koniferen, die den Garten säumen, schützen vor allzu greller Sonne und vor neugierigen Blicken. Gibt es ein schöneres Fleckchen auf dieser Welt? Wozu sein Geld zum Fenster hinauswerfen, wenn man’s so schön hat! Das ist Vaters und Mutters Devise. Nein, freiwillig verreisen sie nicht mehr. « Nun muß er auch noch in die Rehaklinik! Sagt der Doktor! » hat Mutter sich besorgt ereifert, als Vater drei Wochen nach seinem Herzinfarkt aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Aber wenigstens zahlt die Krankenkasse die Kur, jedenfalls für Vater. « Zu Hause ist er doch am besten aufgehoben! Seine Ruhe braucht er, sein gewohntes Essen, seinen Fernsehsessel und überhaupt – jetzt, mitten im Winter. » Der Arzt war jedoch nicht umzustimmen. « Aber eins kann ich Ihnen sagen, Herr Doktor, ohne mich fährt mein Mann nicht in Kur. Niemals. » Mutter läßt Vater nicht im Stich. Im Krankenhaus hat sie ihn zweimal täglich besucht, und es wäre ganz undenkbar, daß sie ihn einfach einer Schar Krankenschwestern überließe, die keine Ahnung haben, was er wirklich braucht. So ist Mutter eben, und eigentlich ist das ja auch ganz normal so, denkt Mechthild, während der Staubsauger tosend seine Arbeit tut, aber irgendwie sticht sie der Gedanke daran, daß Mutter sich so rührend um Vater kümmert. Nicht daß sie etwas dagegen hätte, nicht, daß es ihr lieber wäre, Vater führe allein in die Rehaklinik, nein, eigentlich ist sie froh, sechs Wochen lang keine allmorgendlichen Besuche bei der Mutter abstatten zu müssen, keine allabendlichen Anrufe in den Werbepausen, keine Jagd nach Sonderangeboten, einfach nur ihre Ruhe zu haben. Aber weshalb nur verspürt sie diesen leichten Trotzdem, dieser kleine, bittere Beigeschmack bei dem Gedanken an Mutters Fürsorglichkeit.
Von fern hört Mechthild das Telefon klingeln. Sie stellt den Staubsauger aus.
Es ist Frau Niederath, die in der Parallelstraße wohnt. Ihr achtjähriger Sohn Markus möchte einhundertunderster Dalmatiner werden. Mechthild zögert. Sie hat eigentlich keine Zeit, noch einen Auftrag anzunehmen. Ein Dinosaurier, eine Elfe, zwei Prinzessinnen, eine Mülltonne und ein Gänseblümchen sind bereits in Arbeit.
Ihre Nähecke im Schlafzimmer quillt über. Dort hortet Mechthild Kisten mit Stoffen, Knöpfen, Perlen, Bordüren, Schaumgummiteilen und Hunderten von Kleinigkeiten, die irgendwann einmal an irgend etwas genäht werden können und dann bezaubernd aussehen werden.
Mit vierzehn fing Mechthild an. Sie lernte im Handarbeitsunterricht Nähen und Zuschneiden. Die Nähmaschine und die Schneiderpuppe, die heute in ihrem Schlafzimmer stehen, hatte sie sich damals zu Weihnachten gewünscht. Horst kann das Rattern der Nähmaschine nicht ausstehen, und die Anwesenheit der kopf- und unterleibslosen Puppe ist ihm irgendwie unheimlich. Ähnliches mochte Mutter damals empfunden haben. Von dem Moment an, als Mechthilds Zimmer sich unaufhaltsam in eine Schneiderwerkstatt verwandelte, verlor sie für eine Weile den Überblick über das Leben ihrer Tochter. Das war schlimm. Mechthild aber war glücklich. In ihrem Refugium regierte sie. Sie begann zu träumen, zu entwerfen und zu sammeln. Die ältesten Stücke ihrer Materialiensammlung stammen aus dieser Zeit. Sie schuf Unordnung, Kuriositäten und Kleider, die man nirgendwo kaufen konnte.
Später, als Ehefrau eines Unternehmers, Eigenheimbewohnerin und Mutter, kreierte sie kaum noch für sich selbst. Nur für ihr Püppchen Mandy schneiderte sie die süßesten Modelle.
Unübertrefflich aber waren immer schon die Kunstwerke, die sie für die Karnevalsfeste schuf. Zuerst für Mandy, dann kamen bald die ersten Aufträge aus der Nachbarschaft. Meerjungfrau, Schmetterling, Waldfee – Mechthild erfüllte viele Kinderträume.
In diesem Jahr wünscht sich Mandy wallende venezianische Pracht. Naomi hat sie auf die Idee gebracht. Mandy mag morbide Schönheit und spielt gern die geheimnisvolle Unbekannte. Seit Oktober bereits ist Mechthild mit Mandys Kostüm beschäftigt. Einen schweren Vorhangstoff, Moiré in Dunkelrot, der noch aus ihrem Jungmädchenfundus stammt, verarbeitet sie zu einem barocken Kleid mit Mieder, Hüftbügeln, Unterkleidern, raffinierten Schnürungen, Brokatquasten und Spitzenjabots. Dazu ein verschwenderisch weiter Umhang aus schwarzem Samt, gefüttert mit dem roten Moiré. Eine zierliche Maske für die obere Gesichtshälfte hat Mandy aus Pappmaché gebastelt, golden bronziert und mit Federn und Perlen verziert. Die Krönung der Inszenierung wird ein Turban anstelle einer Barockperücke sein. Aus Moiré, Samt und Tüll hoch aufgetürmt, gestützt von unsichtbaren Drähten und Pölsterchen, geschmückt mit orientalisch anmutenden Perlenschnüren, Medaillons und Edelsteinen.
Es mißfällt Horst, daß Mechthild auf die ausschweifenden Ideen der ohnehin schon reichlich abgehobenen Tochter eingeht. Und damit nicht genug. Sie nährt und kultiviert diese Wünsche mit ihrer eigenen Begeisterung für solchen Firlefanz. Er ärgert sich über Mechthilds Hingabe, mit der sie diese nerven- und zeitraubende Flickschneiderei betreibt. Aber er will ihr den Spaß nicht verderben. Und jedes Kostüm bringt schließlich ein paar Mäuse.
Es gibt verdammt viel zu tun, einige Nachtschichten wird allein Mandys Turban kosten, überlegt Mechthild. Ein kleiner Dalmatiner hat mir gerade noch gefehlt! Sie muß lächeln. « Also gut, Frau Niederath. Den Welpen schieben wir einfach dazwischen! Schicken Sie Markus heute nachmittag vorbei, dann nehme ich Maß. »
« O danke! Wunderbar, Frau Hold! »
Alle Kostüme werden pünktlich zur Weiberfastnacht fertig sein. Und sie wird keine ihrer Pflichten als Hausfrau und Mutter vernachlässigen, wird jede ihrer zwei Schichten pro Woche Taxi fahren und die Buchführung mit der üblichen Sorgfalt erledigen. Und sie wird abnehmen. Mechthild gönnt sich eine Tasse entschlackenden Matetee und einen Apfel, bevor sie fortfährt im Pflichtprogramm. Bis zum Mittagessen schlägt Mechthild nie über die Stränge. Erst mit dem Dessert wird die erste Gefahr drohen. Beim Einkaufen vergißt sie nichts. Nicht das Hackfleisch, nicht das frische Gemüse, nicht den Sekt, falls unverhofft Besuch ins Haus schneit, und nicht die Süßigkeiten für Mandy. Alles läuft glatt heute morgen. Nur eines irritiert sie auf dem Weg zum Supermarkt. Sie hat außer zwei leeren Apfelsaft- und einer Ölflasche zwei Sektflaschen in den Altglascontainer geworfen. Waren es also doch zwei Flaschen gestern abend? Die Selbstverachtung erwacht wieder und frißt sich ein Stück weiter in ihre Gedärme. Ihr Magen beginnt ärgerlich zu knurren. Auf dem Rückweg nach Hause macht Mechthild ihren Abstecher zu Mutter und Vater. Sie wohnen in der Parallelstraße, gleich neben Niederaths.
Hier ist Mechthild groß geworden. Ein braves Kind war sie hier, bevor aus ihr die Jugendliche mit der Nähmaschine und der Schneiderpuppe wurde. Dann kam die Zeit, die ihr im nachhinein vorkommt wie ein schwarzes Loch. Sie denkt nicht gern an diesen Lebensabschnitt, der so vielversprechend begann, voller Kreativität und Abenteuer, und der doch so elend endete. Aber glücklicherweise war ja noch einmal alles gutgegangen.
Als sie Horst heiratete, war sie gerade mal achtzehn und dank Mutters und Vaters Erspartem hatte Horst einen schicken Mercedes mitsamt Taxikonzessionund einem zuteilungsreifen Bausparvertrag für das gemachte Nest, in das Mandy kurz darauf geboren wurde. Gerade zum richtigen Zeitpunkt stand das Reihenhaus, dessen Garten an den der Eltern grenzt, zum Verkauf. Mutters Geschenk zum Einzug der jungen Familie war die Fortsetzung der Gartenumrandung aus pflegeleichten und schattenspendenden Koniferen.
Mechthild erledigte schnell die Sache mit den Koffern. Mutter hat Verständnis für ihre Eile.
« Ja, ja, du mußt weiter! Wie willst du sonst das Mittagessen pünktlich auf dem Tisch haben? Und hier: Das mußt du mitnehmen! »
Mutter hat eine halbe Melone eingepackt. « Wie sollen wir zwei eine ganze schaffen? » Und ein Plastiktöpfchen mit Patentdeckel voll Tomatensoße. « Die kannst du schön fürs Hackfleisch nehmen! » Und zwei Tafeln Milchschokolade. « Für Mandy! » Sie packt immer etwas ein. Manchmal gibt es einen Satz neuer Geschirrhandtücher, einen Badezimmerteppich, ein Pfund Möhren oder Unterhosen für Mandy.
« Und sei pünktlich morgen früh! Daß wir bloß nicht den Zug verpassen! »
« Natürlich, Mama. Mach dir doch nicht so viele Gedanken. Es wird alles klappen. »
« Mit Umsteigen! Ich darf gar nicht daran denken ... »
« Ihr habt reservierte Plätze, und ihr müßt nicht einmal den Bahnsteig wechseln. Es kann gar nichts schiefgehen. »
« Ja, ja, es wird schon gehen. » Mutter wendet sich schnell ab.
« Mama, soll ich Horst nicht doch fragen, ob er morgen auf den Wagen verzichten kann? »
« Nein, nein, kommt überhaupt nicht in Frage! So viel Verdienstausfall, das ist nicht gut fürs Geschäft. Es wird schon alles gutgehen. »
« Ein halber Tag. Das kann das Geschäft schon vertragen. »
« Nein und nochmals nein. »
Noch eine Weile rangeln sie hin und her, doch es bleibt dabei. Die Eltern werden mit dem Zug fahren.
Zum Mittag essen Mechthild, Horst und Mandy die Hackfleischsoße und die halbe Melone, ergänzt durch Nudeln und Salat. Horst verschwindet schnell wieder. Sein Taxi darf heute nicht lange ruhen, denn es regnet Schneematsch, und das bringt Umsatz. Mandy ist mit Naomi verabredet und läßt sich auch nicht von Omas Milchschokolade zu einer längeren Verschnaufpause am heimischen Herd verlocken.
Der erste Gefahrenmoment des Tages ist gekommen, und Mechthild versagt kläglich. Noch bevor sie den Tisch abräumt, scheitert sie an der Milchschokolade. Am Abend wird sie dann dem Sekt erliegen und den Süßigkeiten, die sie morgens im Supermarkt gekauft hat.
Wieder hat sie ihre Chance verschenkt, ihr Glück verhöhnt.