Читать книгу Dornröschen war ein schönes Kind - Petra Nouns - Страница 7
ОглавлениеMECHTHILD LEERT IHR SEKTGLAS, gießt nach und nimmt die zweite Nougatpraline aus einer Packung mit zwölf Stück.
Naomi darf immer so lange ausbleiben, wie sie will, Mandy aber muß spätestens um zehn Uhr zu Hause sein und um elf im Bett. Mechthild achtet darauf, daß sie ihren Schlaf bekommt und daß sie ausreichend ißt, genug Obst und Gemüse. Das ist wichtig für eine Schülerin. Nach den Hausaufgaben zu fragen, hat sie sich schon lange abgewöhnt. Mandy weigert sich ohnehin, sie vorzuzeigen. Aber ihre Noten sind gut. Deshalb zieht Mechthild es vor, sie in Ruhe zu lassen. Gute Noten sind die Hauptsache. Neben Mechthilds ordentlichem Haushalt und den regelmäßigen Mahlzeiten sind es die Noten, die den häuslichen Frieden sichern. Und nur der Noten wegen hält Horst sich zurück, wenn Mandy ihn mit ihrem frechen Mundwerk zur Weißglut treibt. Würden sie abrutschen, dann wäre es vorbei mit seiner Beherrschung. Mechthild mag sich gar nicht ausmalen, was dann geschähe.
Vor lauter Sinnieren hat sie nicht mitbekommen, wieso Dr. Haller Schwester Erika doch nicht heiraten will. Und nun wird Werbung eingeblendet. Das Telefon klingelt. Wenn Mechthilds Mutter abends anruft, dann immer in den Werbepausen der Klinikserien, eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Mutter und Tochter.
« Mechthild, morgen gibt’s Hackfleisch beim Spar im Angebot. Denk dran! »
« Ja, Mama. »
« Und Mechthild, danach mußt du mir unbedingt helfen, die Koffer vom Dachboden zu holen, du weißt, den Papa kann ich mit so etwas nicht mehr belasten. Zu nichts mehr ist er zu gebrauchen – und was gibt es nicht alles zu erledigen vor einer Reise! Und die Kofferschilder müssen wir noch schreiben, du weißt ja, Papas Schrift kann keiner lesen. »
« Natürlich, Mama, nach dem Einkaufen komme ich. »
« Und sonst? Was macht ihr so? »
Knapp die Hälfte der Werbezeit ist abgelaufen. Mutters innere Uhr stimmt.
« Horst wäscht den Wagen. Er hat heute einen Raucher gefahren. Und einen Affen. »
« Was? Gütiger Gott! »
« Dreihundert Mark hat er bekommen. Die Fahrt hat ihm der Himmel geschickt! Und überhaupt, nur gute Fahrten heute. »
« Ach, was ist dein Horst bloß für ein tüchtiger Bursche. Ich habe es immer gewußt! »
Dreiviertel der Werbezeit ist abgelaufen.
« Und sonst? Was macht Mandy? »
« Ist in ihrem Zimmer. »
« Allein? »
« Nein, Naomi ist bei ihr. »
« Naomi, Naomi, immer dieses komische Mädchen. Ich sag dir, die taugt nichts! Das wird noch ein böses Ende nehmen. Mandy läßt sich so leicht beeinflussen. Jetzt hat sie auch schon einen Ring in der Nase. Bald läßt sie sich tätowieren wie dieses Flittchen! »
« Mama! Bitte! Sie sind sechzehn! »
« Alt genug, um auf die schiefe Bahn zu geraten. Das solltest gerade du wissen! »
Gegen diese Art von Mutters Anspielungen ist Mechthild machtlos. Matt wirft sie noch ein: « Immerhin geht Naomi aufs Einstein-Gymnasium! », dann bricht Mutter das Gespräch abrupt ab: « Papperlapapp. Sie wird’s nicht weit bringen dort. » Mechthild kommt nicht mehr dazu, ihr zu erzählen, daß Naomi keineswegs nur schlechten Einfluß ausübt, denn Dr. Haller ist wieder erschienen.
Wenn Naomi da ist, arbeitet Mandy für die Schule, und zwar nur dann. Mechthild weiß, daß die beiden regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche üben. Und sie weiß, daß Mandys Noten deshalb so gut sind – trotz des schwierigen Alters. Mutter glaubt das nicht, und Mandy will es natürlich nicht zugeben. Sie ist ja so stolz. Aber es ist, wie es ist: Dank Naomi wird Mandy im Sommer ihre mittlere Reife haben und dann ihre Ausbildung zur Arzthelferin beginnen! Mechthild gießt sich noch ein Glas ein und greift in die Pralinenschachtel. Sie ist leer. Sie haßt sich und trinkt den Sekt aus, um auch dem ein schnelles Ende zu machen. Das Ende der Klinikfolge verschwimmt. Mechthilds Blick gleitet über die Reihe der fünf pausbäckigen mahagonigerahmten Katzen in der Fernsehecke, Mutters letztes Weihnachtsgeschenk. Dann sinkt ihr Kopf zurück auf die Sofalehne.
« Tschüs, Mandy, meine Süße. Wenn ich dich nicht hätte! Du bist ein Genie! Ach was. Ich kann das halt. » « Und wie du das kannst! Denen haben wir’s gezeigt, was? Diesen Kack-Koordinaten! » Bei « Kack-Koordinaten » steht Horst vor Naomi. Sie will gehen, er kommt herein, fertig mit der Wagenpflege.
« Und tschüs, Herr Hold, schönen Abend noch! » Um ihrem forschen Blick auszuweichen, sieht er herab auf ihre Kaminkehrerjacke, ihre Herrenanzughose und die Stiefel mit den fünf Zentimeter dicken Sohlen. Sie geht an ihm vorbei. Er schließt die Haustür energisch hinter ihr, leise « Kack-freches Aas! » grollend. Mandy schüttelt schweigend den Kopf, wendet sich zur Treppe und verschwindet in ihrem Zimmer. Horst geht, vor Wut kochend, ins Bad und gibt der Tür von innen einen lauten Tritt. Mechthild erwacht und spürt sofort Kopfschmerzen. Sie steht auf, nimmt die Flasche und die Pralinenschachtel und zählt die Kalorien, die bis vor kurzer Zeit in diesen Behältnissen aus Glas und Stanniolpapier geschlummert haben und nun in ihrem bleischweren Magen gären. Sie verachtet sich. Das läßt sich nur durch eiserne Diät wiedergutmachen, gleich ab morgen früh. In der Küche läßt sie die Beweise ihrer Schlamperei schnell im Mülleimer verschwinden. Gleich morgen früh! Und jetzt noch ein Gläschen, bevor es ernst wird. Sie öffnet den Kühlschrank und greift ins Leere. Sie könnte schwören, daß vorhin noch eine Flasche Sekt im Türfach gestanden hat. Zum Trost und zum Neutralisieren des Zuckerzeugs vertilgt sie die Käseecke, die einsam unter ihrer Glocke auf sie gewartet hat.