Читать книгу Heiliger Krieg - Philippe Buc - Страница 11

Der Jüdische Krieg

Оглавление

Der früheste geschichtliche Augenblick, dem dieser Essay sich zuwendet, ist der jüdische Aufstand gegen die römische Besatzung, 66 bis 73 n. Chr. Nach Flavius Josephus, der hauptsächlichen historischen Quelle, die von ihm berichtet, wird er der „Jüdische Krieg“ genannt. Zwar wurde der Aufstand durch römische Besteuerung, durch Streit über die Verwaltung in den ethnisch gemischten Städten von Syrien und Ägypten und durch die harte, ihre jüdischen Glaubensgenossen nicht verschonende Hand einer illegitimen herodianischen Dynastie angeheizt, war aber seinem Wesen nach religiös.84 Flavius Josephus schrieb seinen Ausbruch einer neuen Philosophie oder Lehre zu, die von Judas dem Galiläer stammte. Seine Anhänger hatten, Josephus zufolge, eine unüberwindliche „Freiheitsliebe“ (eleutherou erōs), verknüpft mit der Überzeugung, dass ihnen „Gott allein Herrscher und Herr“ (monos hegemon kai despotes o theos) sei. In ihrem Freiheitsdurst, fügte Josephus hinzu, fürchteten sie auch schmerzhaften Tod nicht.85 Diese Freiheit war jedoch keine bloße politische Freiheit; vielmehr handelte es sich, einem modernen Forscher zufolge, um eine „endzeitliche Erlösung Israels durch Gottes wunderbares Eingreifen“, um die Fähigkeit, in einer vollständig reinen, auf Jerusalem konzentrierten Verehrung „Gottes Willen in absoluter Reinheit und Vollkommenheit zu erfüllen“.86 Der Auslöser für den Aufstand war religiöser Natur: Ein großer Teil der Bevölkerung war zum Aufstand bereit, weil der römische Prokurator Florus die im Tempel verwahrten Heiligtümer missachtete. Hinzu kamen noch andere Vorfälle von Missbrauch. Das Startsignal zum Aufstand gegen Rom war die Weigerung des Tempelhauptmanns, von Nichtjuden Opfergaben für den Tempel anzunehmen; er wies nämlich das für die Römer und den Kaiser dargebrachte Opfer zurück.87 Und auch der geschichtliche Augenblick wurde religiös aufgefasst. Einige Rebellen glaubten, das Zeitenende sei gekommen und ein Kampf werde beginnen, den der Messias beenden werde.88

Eine derartige apokalyptisch-millenaristische Atmosphäre hat in allen Jahrhunderten bis in unsere Gegenwart massenhafte religiöse Gewalt in sich geborgen. Ein Zeugnis dafür ist eine der Schriftrollen vom Toten Meer, die der schwer fassbaren Qumran-Gemeinschaft zugeschrieben wird. Diese „Kriegsrolle“ beschreibt detailliert, wie die „Söhne des Lichtes“ eine Reihe von Schlachten – manche davon siegreich, andere nicht – gegen die „Söhne der Finsternis“ schlagen. Letztere werden von einer Nation namens Kittim angeführt – möglicherweise ein Hinweis auf Rom – im Bündnis mit vom Glauben abgefallenen Juden und unterstützt von Belial und seinen teuflischen Günstlingen. Die Söhne des Lichtes werden bis zum endgültigen Sieg kämpfen, den sie dank Gottes Eingreifen erlangen.89 In anderen Schriftrollen heißt es, dass die Sektierer sich auf den „Tag der Rache“ vorbereiten, ihre Genossen lieben und ihre Feinde hassen sollten – doch diese letztere Gefühl müsse aufgeschoben werden, bis die Zeit dafür reif sei.90 Am Beispiel dieser Gemeinschaft sieht man deutlich die erstaunliche Korrelation zwischen dem Rückzug einer kleinen asketischen Avantgarde-Sekte aus der Welt und der Utopie einer gewaltsamen Reinigung der Welt am eschatologischen Horizont. Diese Korrelation trifft man in der westlichen Geschichte häufig an, bis zum heutigen US-amerikanischen evangelikalen Fundamentalismus und anderen Fundamentalismen.91 Zudem heißt es in der Kriegsrolle – was bedeutsam ist für die Diskussionen über Handlungsmotive in der vormodernen Welt –, dass die himmlischen Heerscharen und Jahwe selbst am eschatologischen Kampf teilnehmen, während die Auserwählten für Ihn kämpfen: „So wird das Königtum dem Gott Israels gehören, und durch die Heiligen Seines Volkes wird Er machtvoll handeln.“ Gott mache sich die Menschen zunutze. An die Bösen gewandt, heißt es weiter: „Möge der Gott des Schreckens euch unversöhnlichen Gegnern ausliefern.“92

Die Dokumente von Qumran verteufeln im wahrsten Sinne des Wortes den inneren Feind in Israel selbst und stellen die schlechten Juden den Heiden zur Seite: Beide sind dem Untergang geweiht. Faktisch war der Jüdische Krieg gegen die römischen Besatzer ein Bürgerkrieg, in dem Rebellen gegen Gemäßigte standen und Rebellen gegen Rebellen. Wie in Kapitel II erläutert wird, bildet das Miteinander von Krieg und Bürgerkrieg ein weiteres Merkmal der heiligen Kriege in der Geschichte des Westens. Während des Jüdischen Kriegs kämpften bewaffnete Fraktionen in Jerusalem selbst um die Vorherrschaft, wobei die radikaleren den Plan verfolgten, die Stadt von (ihrer Meinung nach) weniger frommen jüdischen Mitbürgern zu reinigen. Wahrscheinlich waren derart laue Glaubensgenossen für sie das, was den Gläubigen von Qumran diejenigen waren, die „den Bund missachteten“ und deshalb zu Belials Heerscharen gehörten. Die heiligen Schriften boten Beispiele für den säubernden Umgang mit Abtrünnigen: Moses tötete all diejenigen, die das goldene Kalb anbeteten (2 Mose 32, 25–29), und Pinehas erstach mit dem Speer einen Juden mitsamt der heidnischen Frau, mit der er intimen Umgang pflegte (4 Mose 25, 1–15).93

Der Bürgerkrieg machte den Widerstand gegen die Belagerung Jerusalems nicht eben einfacher. Der Oberbefehlshaber der Römer, Vespasian, wurde während des Konflikts zum Kandidaten für die Kaiserwürde ernannt und begab sich vom Kriegsschauplatz nach Westen und nach Rom, um dort gegen andere ehrgeizige Befehlshaber anzutreten. So blieb es seinem Sohn Titus überlassen, 70 n. Chr. Jerusalem zu erstürmen. Der Tempel, das Kultzentrum Israels, ging in Flammen auf. Die Juden wurden massakriert oder in die Sklaverei verkauft, oder sie dienten als Opfer in den Zirkusspielen, die der junge imperator auf seinem Triumphzug zurück nach Rom in den mittelmeerischen Städten veranstalten ließ. Aber der jüdische Kampfeswille war noch nicht gebrochen. Eine der militanten Gruppen, die sicarii („Dolchmänner“), hatte sich schon frühzeitig in die Festung Masada zurückgezogen. Dort trotzten sie der römischen Belagerung und begingen schließlich gemeinsam Suizid (73 oder 74 n. Chr.). Einige sicarii sorgten in Ägypten für Unruhe, wurden aber von gemäßigten Juden den Römern ausgeliefert. Diese wollten die Revolutionäre mitsamt ihren Kindern zwingen, die Autorität des Kaisers öffentlich anzuerkennen. In einer paradigmatischen Beschreibung des Märtyrertums der Rebellen gibt Flavius Josephus widerwillig seiner Bewunderung für ihre Unbeugsamkeit Ausdruck:

„Es gab niemanden, der nicht in Erstaunen gesetzt worden wäre über die Standhaftigkeit der Gefangenen, sei sie nun Tollkühnheit oder auch unverbrüchliche Entschlossenheit zu nennen. Denn obschon man gegen sie Folterung und Verstümmelung ersann, nur um sie dazu zu bringen, die Anerkennung des Kaisers als ihres Herrn auszusprechen, gab doch niemand von ihnen nach. Sie verweigerten diese Aussage und bewahrten trotz des Zwangs standhaft ihre Gesinnung, so als ob der Körper im Erleiden der Folterung und des Feuers keinerlei Empfindung habe und die Seele sich beinahe erfreut zeige. Am stärksten wurden die Zuschauer freilich von dem jugendlichen Alter der Knaben ergriffen; ließ sich doch nicht einer unter diesen dazu überwinden, der Würde des Kaisers als der ihres Herrn Ausdruck zu verleihen. So sehr vermöchte die Kraft des Einsatzes die Schwäche der Körper zu beherrschen.“94

Wir werden auf die „Tollkühnheit“, die απονοια (aponoia, auch „Verzweiflung“; d. Ü.), die Terroristen und Märtyrern bis in unsere Zeit hinein für gewöhnlich zugeschrieben wird, noch zurückkommen.95 Einstweilen bleiben wir aber bei der geschichtlichen Erzählung. Jahrhundertelang diente Flavius Josephus’ Jüdischer Krieg vielen christlichen Darstellungen der Zerstörung Jerusalems als Grundlage. Man sah darin nicht nur Gottes Rache für die Ermordung Christi, sondern auch die institutionelle Seite der Epochenwende vom Alten Gesetz, bestimmt durch Moses Gebote, zum Neuen Gesetz, dem Zeitalter von Kirche und Evangelium. Die Israeliten hatten jetzt ihre Monarchie wie auch ihre Priesterschaft verloren. Anachronistisch gesagt, hatten sie ihre göttliche Bestimmung (manifest destiny) verwirkt. In den Worten Brunos von Segni aus dem späten 11. Jahrhundert: „Die auf Gottes Wort hören und es bewahren und auf dem Weg Seiner Gebote wandeln, können nicht bezweifeln, dass sie eines Tages Rache an ihren Feinden erhalten. Aber die Juden haben dies [Privileg] der Rache verloren, da sie sich weigerten, Gottes Wort zu vernehmen.“96 In volksnahen mittelalterlichen Versionen, die zuerst aus dem 10. Jahrhundert überliefert sind, werden Titus und Vespasian sogar als christliche Herrscher dargestellt und konnten so als Vorbilder für europäische Fürsten dienen, die danach verlangten, den Herrn im Kampf gegen Ketzer und Heiden zu rächen. Im 11. Jahrhundert bildete dieses Modell, zusammen mit den biblischen Erzählungen über die Eroberung Kanaans durch das Volk Israel und die Kriege der Makkabäer gegen gottlose hellenistische Herrscher, ein Motiv für den ersten Kreuzzug. In Verbindung mit anderen Faktoren erklärt es, warum es am Endpunkt der Expedition, Mitte Juli 1099 in Jerusalem, zur Abschlachtung von Muslimen (und Juden) kam.97

In der Forschung wurde erörtert, ob Jesus ein Zelot gewesen sei, ob seine Jünger am Krieg gegen Rom teilgenommen hätten, und ob seine Kampfbereitschaft vielleicht von den ersten überlieferten christlichen Texten verschleiert worden sei. Diese Hypothese besagt, dass nach der Niederlage der Aufständischen das Bild von Jesus retuschiert wurde und nur einige kriegerische Äußerungen die Umwertung überlebten.98 Tatsächlich zeichneten einige Jünger Jesu kurz nach der Zerstörung des Tempels seine Worte und Taten in den drei synoptischen Evangelien auf. Jesus von Nazareth, einer von vielen im Heiligen Land seit der römischen Besatzung tätigen Propheten, war etwa 40 Jahre zuvor hingerichtet worden. Es ist unklar, ob die ersten Christen am Aufstand gegen Rom teilgenommen hatten, aber Lukas, Matthäus und Markus berichteten, die Zerstörung von Jerusalem sei von Christus („dem Gesalbten“ Gottes) vorhergesagt worden und entspreche seiner Rache. Hatte nicht der römische Prokurator Pontius Pilatus seine Hände gewaschen, weil er Jesus für unschuldig hielt? Und hatten die Juden nicht gerufen, Jesu Blut möge über sie und ihre Kinder kommen (Mt 27, 24–25)?

Die Offenbarung des Johannes, eine vielleicht 30 Jahre nach den synoptischen Evangelien verfasste Apokalypse, könnte jenen jüdisch-christlichen Milieus zugeschrieben werden, die ihrem Geiste nach den Aufständischen des Jüdischen Kriegs und der späteren, von Bar Kochba 132–136 angeführten Revolte nahestanden. Die Offenbarung kulminiert in der Beschreibung eines kosmischen Kriegs, wie ihn schon die Qumran-Texte ausmalten: Die Erde wird mit Blut reingewaschen, und das neue, himmlische Jerusalem fährt zur Erde nieder. Zusammen mit solchen Weissagungen entwarf die Prophezeiung von Jerusalems Zerstörung als gerechter Vergeltung ein Szenario für die Verderbnis einer heiligen Stadt, ihre gewaltsame Reinigung und ihre Erlösung. Nicht nur diese Apokalypse, sondern auch markige Worte wie „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10, 34) oder „… und wer’s nicht hat [das Schwert], verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert“ (Luk 22, 36) stehen im Widerspruch zu vielen eher friedfertigen Aussprüchen Jesu. Dieses Buch wird dem Schicksal, das sie im Lauf der Zeiten erfuhren, nachgehen und auch erklären, wie mit dem Widerspruch zwischen dem friedlichen und dem kriegerischen Jesus umgegangen wurde und wie daraus eine ganz besondere Auffassung vom Ort der Gewalt in der Geschichte hervorging.99

Heiliger Krieg

Подняться наверх