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Amerika in kolonialer und postkolonialer Zeit
ОглавлениеDer mehrfache Sinn, in dem die Französische Revolution, ihre inneren und äußeren Kriege und ihre Terreur als religiöse Phänomene begriffen werden können, wird uns noch beschäftigen. Aber unbezweifelbar besaßen die Kriege der anderen Nation, die im 18. Jahrhundert die Universalität ihrer Ideale verkündete, der Vereinigten Staaten von Amerika, eine religiöse Komponente.184 Die Werke von Grotius, der religiöse Argumente für militärische Konflikte ablehnte, waren in den Kolonien zwar bekannt, aber die eingewanderten Puritaner hatten, über die Sektenkämpfe des englischen Bürgerkriegs und seine Vorspiele, die neo-mittelalterliche Auffassung vom heiligen Krieg übernommen. Daher waren die indigenen Feinde der Neuengländer für diese vom Satan besessen. Einige Theologen des 17. Jahrhunderts hegten den Verdacht, dass Satan seine letzte Zuflucht in Amerika bei den Indianern gefunden habe, die in den letzten Schlachten der Geschichte den Kern seiner Heere – Gog und Magog – bilden würden. Die Religion der Indianer erschien als Hexenzauber und satanische Perversion; bei ihren Zusammenkünften, den Pow-Wows, schreibe der Teufel ihnen „sein Gesetz, seinen Willen und sein Pläsier vor, indem er ihnen erklärt, er [sei] der Fürst der Finsternis [und] … sie davon überzeugt, [dass] Finsternis das Licht und gut sei“.185 Angesichts dieses satanischen Feindes entschlossen sich die Protestanten, ganz wie die Karolinger ein Jahrtausend zuvor, zu fasten, um Gottes helfende Hand herbeizuflehen.186 Wenn sie einmal zögerten und sich fragten, was zu tun sei, baten sie ihre Geistlichen, ihre Lage „dem Herrn anheimzustellen“.187 Zwar haben einige Forscher bei den frühen puritanischen Kolonisten einen relativ fairen Umgang mit den Indianern, Achtung des Eigentums und größeren Eifer für die Bekehrung statt für den heiligen Krieg ausgemacht, aber das ist in der Geschichtsschreibung nicht die vorherrschende Auffassung.188
Diese protestantische Praxis verschwand nicht mit Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs 1776.189 Amerika bietet eine klare Fallstudie für den zeitenübergreifenden Transfer von Konzeptionen geheiligter Gewalt – mit Modifikationen wie etwa die Demokratisierung oder die inhaltliche Ausweitung der „Freiheit“, für die man kämpfen würde. Noch im 19. Jahrhundert, während des Kriegs gegen England 1812 und während des Bürgerkriegs, riefen Gouverneure und Präsidenten nationale Fastentage aus.190 Vielleicht war der Konflikt zwischen Union und Konföderation der erste industrielle Krieg des Westens, geführt mit Eisenbahnen und gewonnen von der Seite mit der größeren fabrikmäßigen Produktivität. Aber diese modernen Aspekte schlossen nicht aus, dass beide Seiten im Kampf um das, was jeweils unter Gerechtigkeit und Freiheit verstanden wurde, Gott auf ihrer Seite wähnten. Die Konstellation war ganz neo-mittelalterlich: Die Spiegelbildlichkeit der heiligen Kriege nährte keineswegs den Verdacht, dass der Herr der himmlischen Heerscharen vielleicht nicht bedingungslos hinter der eigenen Sache stünde. (Ein Misstrauen gegenüber Ähnlichkeiten zog sich noch bis in den Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts: Seit dem späten 19. Jahrhundert schwankten die Amerikaner zwischen der Hoffnung, Russland könne sich zu ihrem Amalgam aus Protestantismus und Demokratie bekehren, und der Furcht, Russland sei ein satanischer „dunkler Doppelgänger“.)191 Im Bürgerkrieg (1861–1865) war die Nordseite zu der Überzeugung gelangt, dass die Vereinigten Staaten der auserkorene Vermittler von Gottes Vorsehung für das Christentum und die Welt seien, mithin die Union es wert sei, für sie zu töten und zu sterben.192 Noch im 19. Jahrhundert galten Rückschläge auf dem Schlachtfeld als Strafe Gottes; sie sicherten die Verbindung zwischen moralischer Erneuerung und heiligem Krieg und, als Ergebnis, die Beteiligung von Nichtkombattanten an den militärischen Anstrengungen.193
Die kompromisslose Haltung der Bürgerkriegslager erklärt sich aus jahrzehntelangen Konflikten zwischen den zwei geographischen Lagern (sections). Aber diese Haltung war auch von der Durchdringung der politischen Kultur mit dem Manichäismus der evangelikalen Christen geprägt. Richard Carwardine hat überzeugend den massiven Einfluss der unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften auf die amerikanische Politik vor dem Bürgerkrieg nachgewiesen, der sich durch bloße Statistiken über Kirchenmitgliedschaft nicht erfassen lässt. Als die Vereinigten Staaten in die Ära der Massendemokratie eintraten, hatten die Evangelikalen bereits Methoden zur Mobilisierung der Massen entwickelt. Verständlich, dass ihre Zeitungen und ihre Führungskräfte von den Politikern umworben wurden. Und die Wahlkampagnen orientierten sich, absichtlich oder nicht, an der Kultur der protestantischen Erweckungsbewegungen und Zusammenkünfte (meetings). Die Präsenz der Kirchen garantierte, dass die Politik sich eher mit moralischen Visionen befasste als mit wertneutralen Wahlprogrammen. Diese Durchdringung und Einflussnahme führte auch zu einer bemerkenswerten Strenge und förderte eine Mentalität des Entweder-oder.194 Anlässlich des (untypischen) Prozesses mit Todesurteil gegen den Abolitionisten John Brown 1859 interpretierten manche Stimmen in der Südstaatenpresse (typischerweise) die Unterschiede zwischen den Parteien als unüberbrückbare Gegensätze:
„Es gibt keine Auseinandersetzung zwischen den Leuten des Nordens und denen des Südens, sondern zwischen Konservativen und Revolutionisten (revolutionists); zwischen Christen und Ungläubigen; zwischen den Männern von Gesetz und Ordnung und denen, die jeglicher Regierung abhold sind; zwischen den Freunden des Privateigentums und Sozialisten und Landreformern; zwischen den Keuschen und den Wollüstigen; zwischen Heirat und freier Liebe; zwischen denen, die an die Vergangenheit, die Geschichte, die menschliche Erfahrung, die Bibel, die menschliche Natur glauben, und denen, die, wie Greely und Fourier, Fanny Wright und Paine, und Thomas Jefferson und Seaward, in törichter, überstürzter und gottloser Weise ein Millennium herbeiführen und eine Zukunft errichten wollen, die anders ist als alles bisher Dagewesene.“195
George FitzHughs Einschätzung des Abolitionismus als millenaristisch und zukunftsorientiert war kein grundlegender Irrtum.196Aber große Teile des religiösen Establishments im Süden hegten ganz besondere Vorstellungen, die den Friedensschluss nach Fort Sumter sehr schwierig machen würden. Interessanterweise waren es von Kriegsbeginn an bis 1865 im Norden wie im Süden die religiösen Zeitschriften und die Geistlichkeit, die, im Gegensatz zu ihren säkularen Pendants, die kriegerischsten und kompromisslosesten Parolen von sich gaben.197 Für die Mehrheit dieser Medien befand sich der Ungläubige auf der jeweils anderen Seite des Abgrunds zwischen Norden und Süden.
Beide Seiten sahen sich als Gottes auserwählte Nation198 und behandelten demgemäß die Wechselfälle des militärischen Geschicks mit der unfalsifizierbaren Logik der Vorsehung: Jeder Sieg galt als Beweis für die Gerechtigkeit der eigenen Sache, jede Niederlage als Strafe Gottes für ein auserwähltes Volk, das sich noch nicht von allen Sünden gereinigt hatte oder momentan der Sünde verfallen war. Rückschläge und Erfolge bezeugten gleichermaßen die Auserwähltheit. Diese glaubensbasierte Realität trug wahrscheinlich sehr viel zur Bereitschaft der Bürger bei, in einem zunehmend heimtückischer und quälender werdenden Konflikt zu kämpfen.199
Die Kolonisten und ihre Nachkommen massakrierten die indianischen Feinde, Frauen und Kinder eingeschlossen, bisweilen mit einer Gründlichkeit, die ihre indigenen Verbündeten zutiefst erschreckte. Jene Mohikaner und Narragansetts, die mit Hauptmann John Underhill kämpften und die Abschlachtung der Pequot-Indianer in deren Palisadensiedlung in Mystic, Connecticut (am 16. Mai 1637) miterlebten, „bewunderten“, so wird berichtet, „die Kampfweise der Engländer“. „Bewunderung“ war etwas anderes als der Wunsch, den Engländern nachzueifern, sondern eher der Ausdruck erschreckter Verwirrung und der Weigerung, dies als echte Kriegführung anzuerkennen. Die Eingeborenen klagten, so Underhill weiter: „Es ist böse, es ist böse, denn es ist zu wild und tötet zu viele Menschen.“ Gefangene wurden summarisch hingerichtet und überlebende Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. Diese Brutalität entsprach der eines anderen heiligen Kriegs, des Feldzugs, den Cromwell gegen das papistische Irland geführt hatte.200 Es standen Vorbilder aus dem Alten Testament vor Augen.201 Außerdem spielte bei dieser Gewalt der vorbestimmte – und darum desto mehr bestimmende – Glauben, es müsse eine gewaltige heidnische Verschwörung gegen Gottes Auserwählte geben, eine bedeutende Rolle. Die Hexen von Salem gestanden unter der Folter, dass sie, mitsamt einem indianisch aussehenden Teufel sowie Eingeborenen und Frankokanadiern, die für ihre Messen ein katholisches Gebetbuch benutzten, einem Satansbund angehörten.202
Ebenso kulturell vormodern und amerikanisch war jener berühmte katalysatorische Akt des Bürgerkriegs: John Browns Überfall auf Harpers Ferry, sein Prozess und seine Hinrichtung (erörtert in Kapitel IV). Vor dem Krieg stellten die Sklavereigegner im Norden keineswegs eine Mehrheit dar, und gewalttätige wie Brown waren für die allgemeine Haltung dort völlig untypisch. Trotz all seiner Eigenartigkeit kann man Brown – wie auch eine andere Minderheit, die modernen religiösen Terroristen – zum Teil verstehen, wenn man in einen sehr alten Spiegel blickt. Das Gleiche gilt für Individuen und Mächte neuerer Kriege, nicht zu vergessen den erstaunlichen Generalleutnant William Boykin (siehe dazu Kapitel II und V) und seinen Oberbefehlshaber, Präsident George W. Bush (2001–2008; siehe dazu Kapitel I und VI), der 2003 die USA in einen strategisch katastrophalen Krieg gegen den Irak führte.203
Bis ins 20. Jahrhundert zogen die USA mit einem nur selten wankelmütigen Sinn für ihre Mission in das Schlachtfeld. Keine Konfession entzog sich diesem Eifer. Selbst katholische Leitartikler betonten im Krieg von 1898 gegen Spanien immer wieder den göttlich verordneten Auftrag des Landes.204 Vom Krieg gegen England 1812 über die beiden Weltkriege bis zum Kalten Krieg, dessen religiöse Komponente von David Foglesong beleuchtet wurde, ist die christliche Komponente in den US-amerikanischen Konflikten nicht zu übersehen, und das gilt auch für die europäischen Mächte, die sich im Ersten Weltkrieg gegenüberstanden. Aus der Perspektive eines im Sinne Carl Schmitts verstandenen Säkularisationsprozesses, wonach die europäischen Nationen von „politischen“ oder „staatsbürgerlichen“ Religionen motiviert wurden, zeigt sich die fortgesetzte Bedeutung christlicher Formen für die Gewalt auf den Schlachtfeldern. Die heilige Nation folgte auf eine heilige ecclesia, die viele Jahrhunderte lang zwischen lokalen und universellen Bestrebungen oszilliert hatte. Zur selben Zeit wurde dem Krieg Sinnhaftigkeit durch Bilder von Opferbereitschaft, Märtyrertum und Säuberung zugesprochen, die dem Christentum viel zu verdanken hatten.205