Читать книгу Heiliger Krieg - Philippe Buc - Страница 16
Die Rote Armee Fraktion
ОглавлениеUm die Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte sich ein Konsens dahingehend, dass an Riten und Symbolen reiche „politische Religionen“ als nationale Integrationsfaktoren wirkten (und wirken sollten), um so ein ekstatisches Gemeinschaftsgefühl zu befördern. Wie Emilio Gentile anhand Hunderter von Stimmen nachgewiesen hat, war diese Idee in ihren analytischen und normativen Dimensionen bei akademischen Denkern wie Émile Durkheim, Essayisten wie Gustave Le Bon und politischen Akteuren linker wie rechter Couleur verbreitet.206 Eine Variante dieses funktionalistischen Modells besagt, dass Gewalt und ekstatische Gemeinschaft in der Gewalt die politische Einheit hervorbrächten (und hervorbringen sollten). Ironischerweise verfiel ausgerechnet Frantz Fanon, die Ikone der revolutionären Linken, dieser Idee und Rhetorik rettungslos.
Was die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts religiösen Formen verdanken – bewusste Übernahmen und Entlehnungen auch für politische Liturgien, ebenso jedoch eschatologische Konzeptionen – ist zu bekannt, als dass es hier noch einmal entwickelt werden müsste. Deswegen wird dieser Essay sich nicht mit Nazismus oder Faschismus und nur an einer Stelle mit dem Bolschewismus beschäftigen.207 Aber Deutschland spielt hier mit seiner bekanntesten Terroristengruppe der 70er bis 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine wichtige Rolle, nämlich mit der sogenannten Baader-Meinhof-Gruppe oder Rote Armee Fraktion (RAF).208 Die RAF steht für ein ganzes Spektrum bewaffneter linker Gruppen in Europa, von der französischen Action Directe bis zu den italienischen Brigate Rosse (Rote Brigaden). Überdies war die RAF nicht die einzige militante Gruppe in Westdeutschland. Die Revolutionären Zellen zum Beispiel waren an den Angriffen gegen ein Treffen der OPEC-Staaten in Wien und an der Entführung eines französischen Passagierflugzeugs nach Entebbe in Uganda (1976) beteiligt.209 Dass die RAF so deutlich im Vordergrund stand, liegt am tragischen Ende ihrer ersten Anführer; zudem standen schon früh Einzelporträts zur Verfügung. So konnten die Gruppenmitglieder einerseits als romantische Helden und sogar Märtyrer im Kampf gegen staatliche Unterdrückung verehrt, andererseits (so der britische Historiker Michael Burleigh) als „Ansammlung von Psychopathen und Ideologen, die Deutschland mit ihren Morden in die Revolution zu treiben suchten“ gebrandmarkt werden. Ulrike Meinhof war, meinte Burleigh, „eine ungestüme Hysterikerin“, die „an psychopathischer Gewalt“ nur von Gudrun Ensslin übertroffen worden sei.210 Die Aktivitäten der RAF begannen im April 1968 mit Brandstiftung, eskalierten zu Beginn der 1970er Jahre aber mit Schießereien und Bomben. Nachdem die Führung 1972 verhaftet und ihr 1975–1977 der Prozess gemacht worden war, trieb die zweite Generation die Sache mit weiteren Gewalttaten voran – mit mehreren Attentaten, der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und einer durch palästinensische Verbündete bewirkten Flugzeugentführung. Die Maschine wurde von deutschen Sicherheitskräften gestürmt, und einen Tag später fand man Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen auf (am 18. Oktober 1977). Zur Vergeltung wurde Hanns-Martin Schleyer umgebracht. Soweit der – allerdings bereits mit Interpretationen durchsetzte – Kontext für den Leser. Nun zur Analyse.