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Spätantikes Märtyrertum, die Konstantinische Wende und das Zeitalter der Kreuzzüge
ОглавлениеDas zweite Dossier umfasst das spätantike christliche Märtyrertum vor und nach Kaiser Konstantins Übertritt zum Christentum in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Bekanntlich nahm eine ganze Anzahl von Christen den Tod durch die Hand der römischen Verfolger auf sich, um von ihrem Glauben „Zeugnis“ abzulegen (das griechische Wort martyr bedeutet „Zeuge“), oder um, häufig demonstrativ, der Weigerung Ausdruck zu verleihen, die Oberherrschaft oder Göttlichkeit des römischen Kaisers anzuerkennen. In dieser Hinsicht waren sie den sicarii ähnlich, deren Standhaftigkeit Flavius Josephus widerwillig bewunderte.100 Tatsächlich schrieben die heidnischen Richter den Märtyrern ebenjene Tollkühnheit (oder Wahnsinn) zu, den Flavius Josephus den Sektierern des jüdischen Aufstands attestierte. Unsere These lautet, dass das christliche Märtyrertum von Anbeginn im Regelfall nicht pazifistisch oder passiv, sondern häufig genug kämpferisch und aktiv war.101 Die hauptsächlichen Schriftquellen für das Märtyrertum, die Acta Martyrum und die Passiones, gliedern sich in zwei Unterklassen: in jene Erzählungen, die von der Forschung einmütig als authentisch angesehen werden, und jene, die als unecht gelten, weil sie im Nachhinein verfasst und häufig fiktiv sind. Die erste Unterklasse erlaubt dem Historiker vorsichtige Tatsachenbehauptungen, während die zweite zwar keine Rekonstruktion von Ereignissen ermöglicht, aber von gleicher Wichtigkeit ist, denn sie sorgte für die Produktion und Übermittlung jener Bilder und Konzeptionen, die für mehr als ein Jahrtausend bis in die frühe Neuzeit hinein die religiöse Gewalt beeinflussten.
Was nun die Gewalt angeht, so wirkte sich Konstantins Bekehrung auf die von ihm angenommene Religion und ihre Institutionen in mehrerlei Hinsicht aus.102 Zum einen eröffnete sich damit die Gelegenheit, in Gottes Namen, also aus eigenem Willen, das Martyrium gegen einen häretischen Herrscher zu erdulden (und nicht mehr nur, wie noch vor 312, gegen einen heidnischen). Konstantins unmittelbare Nachfolger standen der sogenannten arianischen Interpretation der Dreifaltigkeit nahe, die viele Kirchenmänner, besonders im weströmischen Teil des Reichs, für häretisch hielten. Das führte zu einer langen Reihe offener Konflikte zwischen Herrschern und Kirchenvertretern, die sich gleichermaßen für die Lehre verantwortlich fühlten. Diese Auseinandersetzungen wurden schriftlich festgehalten. Ungeachtet dessen, dass viele spätantike und mittelalterliche Berichte hochgradig fiktional waren, hielt ein begeistertes Publikum sie für wahr und fand darin jahrhundertelang Beispiele dafür, dass gottlosen Fürsten mit spiritueller Kriegführung zu begegnen sei. Zum anderen veränderte Konstantins Hinwendung zum Christentum die Einschätzung der Beziehung zwischen Kirche und politischer Autorität. Insbesondere konnten jetzt Bischöfe im Kampf gegen von ihnen als Häretiker gebrandmarkte Personen das „weltliche Schwert“ zu Hilfe rufen.103 In Nordafrika war es zu einem Schisma gekommen: Hier standen zwei Kirchen einander gegenüber, die sich beide für katholisch hielten.104 Augustinus, der Bischof von Hippo, wandte sich gegen die von seinen Anhängern sogenannte „Gruppierung des Donatus“. Indem Augustinus den (seiner Ansicht nach falschen) Märtyrern der rivalisierenden Donatisten vorwarf, sie seien von selbstmörderischem Wahn und furor besessen, erwies er sich als Erbe jener Auffassung, die bereits von dem hellenisierten Juden Flavius Josephus und von den römischen Verfolgern der Christen vor Konstantin vertreten worden war.105 Augustinus verfasste mehrere Briefe, in denen er die Anwendung von Gewalt gegen die Donatisten legitimierte. Seinen Briefpartnern, die darauf hinwiesen, dass die Kirche sich in der Vergangenheit nie auf weltliche Autoritäten zur Durchsetzung von Disziplin gestützt habe, antwortete er, dass mit Konstantins Übertritt ein neues Zeitalter begonnen habe. Die alttestamentarische Prophezeiung, dass die Könige sich nun „weisen“ ließen (Ps 2, 10), sei erfüllt; christliche Herrscher könnten und sollten nunmehr dem Herrn dienen (Ps 2, 11) durch den „Schrecken der Gesetze“ (legum terror), um damit Häretiker zum wahren Glauben zurückzubringen und ihnen die Freiheit zu geben, die Wahrheit zu erkennen.106 Wie es das Schicksal wollte, wurden diese Texte auszugsweise im 12. Jahrhundert in Gratians Decretum, einer einflussreichen Sammlung zum Kirchenrecht, aufgenommen und bildeten nun die rechtliche Grundlage für die Ausübung von Zwang gegen Häretiker.107 Auf diese Weise setzte die Konstantinische Wende den christlichen heiligen Krieg wie auch den Terror in Gang. Wir werden im zweiten Kapitel sehen, inwieweit dabei bereits existierende Ansätze eine Rolle spielten.
Zum Dritten war das unsichere Bündnis zwischen Christentum und Reich dazu angetan, die bereits bestehende Tendenz zum Denken in universellen, globalen Begriffen im Glauben Halt finden lassen. Immerhin hatte das augusteische Weltbild, hier in Ovids berühmten Versen, verkündet: „Anderen Völkern ward Land mit festen Grenzen gegeben, aber Rom und der Erdkreis sind in ihrem Ausmaß identisch.“108 Von nun an kümmerte sich das Christentum im Allgemeinen systematisch um universelle Expansion und Werte. Insofern sind die USA als christliche Nation unter Gott und als imperialer Erbe Roms von ihrer globalen Mission überzeugt – wie manch andere westliche Macht während der letzten zwei Jahrtausende.109 Viertens und letztens hat Konstantin (reg. 306–337) in seinem militärischen Vorgehen gegen einen Konkurrenten um Rom mit dem Kreuz ein Symbol Christi heraufbeschworen, in dessen Zeichen er in seinen späteren Jahren vielleicht gern gegen Persien zu Felde gezogen wäre – in einem christlichen heiligen Krieg. Vielleicht sind Ursprünge bedeutungslos, aber immerhin galt Konstantin jahrhundertelang als Beispiel eines christlichen Monarchen. Noch lange nach ihm wurde manch Herrscher als „neuer Konstantin“ gefeiert, in Erinnerung an den Sieg des Christentums und seine rechtgläubige Führerschaft.110
Allmählich nahm der spätantike heilige Krieg die Gestalt des hochmittelalterlichen Kreuzzugs an.111 Unzweifelhaft führt eine kontinuierliche Entwicklungslinie von den unter göttlichem Schutz geführten fränkischen Feldzügen des 8. und 9. Jahrhunderts gegen die Heiden zum ersten Kreuzzug von 1096 bis 1100. Eine Dimension in diesem Kontinuum bilden die Gottesdienste vor dem Feldzug, bei denen Gottes Hilfe erfleht wurde und die Armeen Buße leisteten.112 Viele dieser Praktiken folgten alttestamentarischen Modellen, die als beispielhaft für das christliche Zeitalter galten. Allerdings unterschieden sich die Kreuzzüge von den frühmittelalterlichen heiligen Kriegen darin, dass nun gewöhnliche Gläubige in großer Zahl als Kombattanten oder durch materielle und spirituelle Unterstützung daran teilnahmen. Von allen Christen wurde erwartet, dass sie sich beteiligten, sei es mit dem Schwert, sei es mit Spenden und Gebeten oder durch eine religiöse und moralische Wiedergeburt, die man als Abwehr gegen eine Niederlage der Kreuzfahrer begriff.113 Im Zusammenhang mit den im Westen seit dem 12. Jahrhundert verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten konnte eine Kreuzzugstheologie, die den Krieg für die Sache Gottes mit einer Reform der christlichen Gesellschaft verband, die europäische Kultur dauerhaft beeinflussen.114 Im November 1095 predigte Papst Urban II. (reg. 1088–1099) in Clermont (in der Auvergne) für den ersten Kreuzzug, der im Zusammenhang mit und zum Teil auch aufgrund der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts stattfand. Diese umfassende Reformbewegung wurde zwar letztlich vom römischen Papsttum einverleibt, doch zielte sie auf eine Erneuerung nicht nur der Geistlichkeit oder der Mönchsorden, sondern der gesamten Gesellschaft.115 Zudem sollte man eher von „Bewegungen“ sprechen, denn es gab mehrere Zentren – in Lothringen (und mithin in den westlichen Grenzgebieten des „deutschen“ Reichs, das normalerweise seine Hegemonie über Rom ausübte), in Frankreich (das viel weniger vereinheitlicht war als das benachbarte Deutschland unter den Saliern), in der Lombardei (einem Anhang des Reichs) und im päpstlichen Rom (anfänglich dank der kaiserlichen Schirmherrschaft über die Reform des Papsttums, um es von der Ausbeutung durch den lokalen Adel zu befreien, aber während der Minderjährigkeit des zukünftigen Kaisers Heinrich IV. auf selbstständigem Kurs). So gab es erstens die Gottesfriedensbewegung oder Treuga Dei, Bündnisse, deren Ziel und Zweck die Aufrechterhaltung der Ordnung war. Ab dem späten 10. Jahrhundert konnte auch – unter dem Banner von Heiligen – ein geheiligter Krieg gegen Kräfte geführt werden, die den Frieden brachen (mit bezeichnenden Vorkehrungen, indem etwa unmoralische Geistliche des Schutzes verlustig gingen, während andere Bestimmungen verheiratete Geistliche oder die Kontrolle von Laien über die kirchliche Postenvergabe verurteilten).116 Zweitens waren da die Bürgerkriege in norditalienischen Städten, losgetreten von Gruppen, die der Geistlichkeit Keuschheit und Verzicht auf Geldwirtschaft aufzwingen wollten (am berühmtesten wurde die sogenannte Pataria von Mailand).117 Drittens beschwerte man sich in Lothringen über die kaiserliche Kontrolle der Kirche, insbesondere über bestimmte Berufungen auf kirchliche Posten; viertens gab es Streit zwischen (einigen) Mönchen und (einigen) säkularen Geistlichen über Führungsansprüche in der Kirche, wobei Erstere die Auffassung vertraten, dass asketische Reinheit sie über die Priesterschaft erhebe und dass die Eignung Letzterer, die Sakramente zu erteilen, durch ihren Umgang mit Sex und Geld beeinträchtigt sei. Fünftens war der päpstliche Hof von Leo IX. (reg. 1049–1054) bis zu Urban II. daran interessiert, die Kirchen von Laienherrschaft, Simonie und Priesterehe zu befreien; mit Gregor VII. (reg. 1073–1085) begannen die Revolte gegen den deutschen König und die Zentralisierung der Reformbestrebungen.118
Angesichts dieser Gemengelage haben die Historiker für die Reformen des 11. Jahrhunderts unterschiedliche Erklärungen vorgeschlagen. In älteren Darstellungen galt die nach Papst Gregor VII. benannte Gregorianische Reform (oder Revolution) – es war jener Papst, der König Heinrich IV. exkommunizierte und für abgesetzt erklärte – als klassisches machtpolitisches Ereignis und erster Akt im Kampf zwischen Kirche und Staat um die Führungsrolle in der christlichen Gesellschaft. Eine andere Erklärung führt an, dass die Entwicklung der Geldwirtschaft soziale Veränderungen (wozu auch erweiterte Machtbefugnisse für Priester und ihre Frauen gehörten) und starke Spannungen zur Folge hatte, die in der Ablehnung der Klerikerehe, des Verkaufs von Sakramenten, der Simonie (auch im Antisemitismus und in der Verfolgung von Ketzern) ein Ventil fanden. Inspiriert durch Mary Douglas’ Buch Reinheit und Gefährdung vertritt dieses Modell die Auffassung, dass Druck auf die Peripherie des Sozialsystems einen Ausgleich in der Gewalt gegen ad hoc erfundene Sündenböcke hervorruft. In einer wichtigen Variante dieses Modells (die das aktive Handeln betont), führt die Furcht vor Unreinheit zu dem Wunsch, die Christenheit an genau bestimmten gesellschaftlichen Rollen, vor allem denen des Priesters und des Ritters, auszurichten.119 Im Einklang mit der politikzentrierten Erklärung der Reformbewegung steht die Idee, dass der Kreuzzug ein Sicherheitsventil für die Anarchie in Westeuropa darstellte. Für Paul Rousset war das Versagen der Friedensinstitutionen (die seiner Ansicht nach auf Frieden im modernen Sinn des Begriffs zielten) das Motiv für die Expedition: Indem Urban II. die Krieger des Westens dazu aufrief, Jerusalem von gottlosen Muslimen zu befreien, wollte er Gewalt exportieren.120 Gemäß einer vergleichbaren Interpretation war der Aufruf des Papstes 1095 in Clermont nur ein – kurzfristig erfolgreicher – Versuch, den Anspruch auf Führung der Ritterschaft seinem Feind, Kaiser Heinrich IV., zu entreißen. (Fulcher von Chartres hat die Historiker auf diese Spur gelenkt, indem er den Gehorsam der Ritterschaft als Folge der vollkommenen Gehorsamkeit Urbans gegenüber Gott darstellte.)121 Nachdem die westliche Ritterschaft durch den cluniazensischen Einfluss wie auch durch die Gottesfrieden gelernt hatte, dass es gerechte Kriege gab (definiert als Aufrechterhaltung von Frieden und rechter Ordnung), war sie darauf vorbereitet, den Krieg für Christus außerhalb Europas zu führen.122 Es wäre auch allzu reduktionistisch gedacht, wenn man der Vorstellung folgte, Gottesfrieden und Mailänder Pataria hätten zu einer manichäischen Dichotomie des „mit uns oder gegen uns“ geführt, in der die Reformfreunde den Feinden entgegengestellt und Letztere dämonisiert worden wären, woraufhin man diese Dichotomie dann nach außen auf die Muslime projiziert hätte. Wir werden im zweiten Kapitel auf der Grundlage exegetischer Quellen (Bibelkommentare) eine andere Erklärung vorschlagen.123
In den Predigten des 12. und 13. Jahrhunderts wurde die Verbindung zwischen Kreuzzug und Reform zur verbindlichen Einrichtung. Bis ins späte Mittelalter und darüber hinaus waren religiöse Bewegungen wie auch kirchliches Establishment vom Reformgedanken geradezu besessen.124 Die „Re-form“, die Rückversetzung der christlichen Gesellschaft und des einzelnen Gläubigen in die richtige, gottgewollte „Form“, begleitete und beeinflusste Konzeptionen des heiligen Kriegs insofern, als Kreuzzugspredigten oder gar ein tatsächlicher Kreuzzug in einem mehr oder weniger gewaltsamen Versuch, die je eigene, einheimische Gesellschaft zu reformieren, nach innen gewendet werden konnten. Als ein Beispiel im Bereich der Predigt sei die Tätigkeit Fulkos von Neuilly im Vorfeld des vierten Kreuzzugs genannt;125 ein Beispiel für die Binnenwendung eines Kreuzzugs ist der „Hirtenkreuzzug“ von 1251 (der ausführlich in Kapitel V erörtert wird). Und der heilige Krieg in Gestalt des Kreuzzugs war in der spätmittelalterlichen Kultur sogar noch bis in 16. Jahrhundert allgegenwärtig. Obschon die Christen nach der Mitte des 13. Jahrhunderts keine Expeditionen mehr zustande brachten, die direkt auf die Befreiung Jerusalems von muslimischer Herrschaft zielten, träumten und redeten sie doch weiter davon.126 Bei der intermittierenden Kriegführung gegen den Islam in Spanien und im östlichen Mittelmeerraum handelte es sich zwar nicht um Kreuzzüge im engeren Sinne, doch fielen diese Feldzüge eindeutig unter die nämliche kulturelle Rubrik.127
Der erste Kreuzzug lässt uns die – nicht obligatorische, aber häufig auftretende – Verbindung zwischen millenaristisch-eschatologischen Erwartungen, heiligem Krieg und Reform erkennen.128 Wie Ernst Bernheim vor langer Zeit in einer später von Richard Landes und danach von Johannes Fried aufgegriffenen Argumentation erklärte, sind die Spuren apokalyptischer Erregung naturgemäß selten zu finden, weil enttäuschte Hoffnungen auf Christi Rückkehr zu Ausmerzungen in den Aufzeichnungen führten.129 Aber für das 11. Jahrhundert lassen sie sich unzweifelhaft nachweisen.
Ein weiteres erhellendes Beispiel für den Zusammenhang zwischen Reform und heiligem Krieg ist die sogenannte Hussitische Revolution in Böhmen und Mähren (dem Hauptteil der heutigen Tschechischen Republik).130 Gegen die böhmischen Hussiten, Anhänger von Jan Hus, der 1415 wegen seiner Lehren hingerichtet wurde, rief der Papst zu mehreren Kreuzzügen auf, die unter Führung Sigismunds von Luxemburg (1387–1437 ungarischer König und 1410–1437 deutscher Kaiser) stattfanden. Die Hussiten waren in mehrere Gruppierungen gespalten, die einander bisweilen mit Polemiken und Schlägen traktierten. Wir beschäftigen uns hier mit ihren Differenzen die Kriegführung betreffend. Der extremere Flügel bestand aus den sogenannten Taboriten. 1419 gründeten böhmische Chiliasten eine auf fünf Hügeln angesiedelte Gemeinschaft. Nominell waren es fünf Siedlungen, deren eine den Namen Tabor erhielt. Was in der Erwartung kosmischer Unruhen als Rückzug aus der Welt begann, wurde zu bewaffneter Gewalt, als die Zeichen der Zeit die meisten Taboriten davon überzeugten, dass die militante Phase des Endspiels der Heiligen Geschichte gekommen sei. Sie schwärmten aus und töteten erbarmungslos gottlose Christen, vor allem von Häresie befleckte Priester. Aus Berichten geht hervor, dass die Taboriten die „Zeit der Rache“ predigten, die gekommen sei, und dass die Weisung erging, „das einfache Volk, das sich versammelt hat auf den Bergen … solle überall im Lande marschieren und alle Sünder auf der ganzen Welt ohne Gnade und Barmherzigkeit erschlagen“.131 Aber auch diesmal kehrte Christus nicht auf die Erde zurück; die apokalyptische Inbrunst schlug in eine feste Einrichtung um. Tabor befreite sich von einigen Extremisten, blieb aber ein bewaffnetes Lager, wenn nicht gar ein Militärregime. Unter dem Kommando von Jan Žiżka (gest. 1424) und im Bündnis mit den gemäßigten Hussiten spielten die Taboriten eine wichtige Rolle im immer wieder siegreichen Kampf gegen die katholischen Kreuzügler, und sie blieben eine Macht bis zur Schlacht von Lipany (1434), als der konservative Flügel der hussitischen Bewegung sich mit den Katholiken verbündete und den Taboriten eine vernichtende Niederlage zufügte. Den militanten Taboriten standen gleichermaßen radikale Pazifisten gegenüber. Von ihnen haben nur die Äußerungen Petr Chelčickýs überlebt, der Altes und Neues Testament in Radikalopposition zueinander stellte und sich dementsprechend für eine absolute Verbannung des Schwerts aussprach.132 Dazwischen standen die bereits erwähnten Gemäßigten, die in Prag die Oberhand hatten und deren religiöse Führung sich mit den Gelehrten der Prager Universität verständigte. Diese hielten den Widerstand gegen die gottlosen Katholiken für gerechtfertigt, unterwarfen die Kriegführung aber strengen Regeln und lehnten die Blutrünstigkeit der Taboriten ab.133
Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen über die Kriegführung (und andere Themen) waren sich die Hussiten in vielen Forderungen einig, was in den Vier Prager Artikeln (1420) Ausdruck fand. Diese Artikel besagten erstens, dass es auch Laien möglich sein solle, das Abendmahl in beiderlei Gestalt (also mit Brot und Wein) einzunehmen (seit dem 12. Jahrhundert durften nur die Geistlichen aus dem geweihten Kelch trinken); zweitens, dass Gottes Wort frei gepredigt werden dürfe; drittens, dass alle Priester auf übermäßigen Besitz, Prunk und Herrschaft verzichten und ein beispielhaftes Leben führen sollten (woraus sich die Forderung ergab, dass Gemeinden das Recht hätten, unwürdige Geistliche ihres Amtes zu entheben); viertens, dass Böhmen von allen Todsünden zu säubern sei. Der extremistische Flügel der Hussiten reagierte auf den katholischen Kreuzzug mit seiner eigenen Mischung aus Krieg und Reform. Sie verstanden die Prager Artikel so, dass sie in ihrem Herrschaftsbereich Adlige, die den Reformkurs nicht unterstützten, ihrer Güter berauben konnten. In den Erfolgen der Hussiten, widerstrebenden Päpsten und Kaisern ein Recht auf Autonomie abzuringen, kündigen sich bereits die Religionskriege der frühen Neuzeit und ihre Resultate an, während die pazifistischen Stimmen unter den Hussiten die mennonitische Kirche antizipieren, jenen Strang des Wiedertäufertums des 16. Jahrhunderts, der die Glaubenskonflikte überlebte.134
Das Spätmittelalter erlebte auch das Aufkommen von Theorien und Praktiken des gerechten Kriegs, der um eine Nation mit sakraler Aura geführt wurde (ein „mystischer politischer Körper“, wie es in der Scholastik heißt).135 In dieser Hinsicht war der gerechte Krieg häufig zugleich ein heiliger Krieg, wie es die Geschichte der Hussiten selbst zeigt, wie es aber auch (so Housley) französische und englische Schriften nahelegen, die anlässlich des Hundertjährigen Krieges entstanden. Zwei Beispiele mögen genügen: Auf englischer Seite die Deeds of Henry V (Gesta Henrici quinti), auf französischer Seite aus dem Armagnac eine Reihe von Schriften, die sich Jeanne d’Arc, der Jungfrau von Orléans, widmen.136 Colette Beaune hob hervor, wie überaus frühzeitig die Jungfrau und einige Mitglieder der Armagnac-Fraktion, die Gegner des englischen Königs und seiner burgundischen Verbündeten waren, dafürhielten, dass für die für Frankreich auf dem Schlachtfeld gefallenen Krieger Fürbittgebete in besonderen Votivkapellen verrichtet werden sollten, und zwar zu ihrer Seelenrettung wie auch zum Gedenken der Nachwelt.137