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Gegenstand und Methode: Religionsformen in der westlichen Welt und das Problem der Gewalt

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Dieser Essay erkundet zwei Jahrtausende christlicher und post-christlicher Gewalt in der westlichen Welt. „Gewalt“ umfasst hierbei Phänomene wie den heiligen Krieg, Terror und Terrorismus sowie (was anfänglich paradox anmutet) das Märtyrertum.1 Unter „westlicher Welt“ verstehe ich jene kulturellen Regionen, die um 1500 im römisch-katholischen Europa existierten (dazu später, als Seitentrieb des protestantischen Zweigs, die Vorläufer der Vereinigten Staaten von Amerika). Unter „post-christlich“ verstehe ich nicht die Abwesenheit christlicher Religion oder Religiosität, sondern eine Situation, in der die Kultur zwar nicht mehr von religiösen Institutionen und Überzeugungen organisiert wird, von deren Erbschaft sie aber sehr wohl noch substantiell geprägt ist. Allerdings zielt dieses Buch nicht auf ein umfassendes Narrativ, das mit dem frühesten Christentum beginnt und in der Gegenwart endet. Das würde den Seitenumfang anschwellen lassen, ohne doch Vollständigkeit zu erreichen. Stattdessen sollen anhand einer Reihe von historischen Augenblicken (so etwa in Kapitel IV anhand des ersten Kreuzzugs, der unmittelbaren Vorgeschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs und der stalinistischen Säuberungen von 1937/38) Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten verdeutlicht werden. Noch weniger geht es darum, die Gewaltproblematik kultur- und zeitübergreifend zu verstehen oder zu erklären. Hätte ich zu den Anfängen der Menschheit zurückgehen wollen, wäre es ein anderes Buch geworden, de facto eines von ganz unmöglichem Umfang.2 Auch geht es nicht um kulturhistorisch übergreifende Perspektiven wie etwa in dem anregenden Buch Terror in the Mind of God von Mark Juergensmeyer. Der Autor ist von René Girards umstrittenem, aber höchst populärem Denkmodell beeinflusst und hält demzufolge inszenierten Terror unter Verweis auf eine allen Religionen innewohnende Wesensstruktur für erklärbar. „Das öffentliche Ritual“, schreibt er, „gehörte seiner Tradition nach in den Bereich der Religion, und darin liegt einer der Gründe dafür, dass die Zurschaustellung von Gewalt (performance violence) für Aktivisten mit einem religiösen Hintergrund ganz natürlich ist.“ Sodann zitiert er David C. Rapoports Beobachtung, „dass die beiden Gegenstände [Religion und Terrorismus] nicht nur deshalb zueinander passen, weil die Geschichte der Religion von Gewalt durchzogen ist, sondern auch, weil terroristische Handlungen eine symbolische Bedeutung haben und in dieser Hinsicht religiöse Rituale nachahmen.“3 Aber Juergensmeyer würde als Erster einräumen, dass die Analyse nicht auf dem Niveau gemeinsamer anthropologischer Züge verharren kann. Kritisch akzentuiert werden muss auch die Ansicht von Shmuel Eisenstadt, dass radikale religiöse Gewalt allen aus der Achsenzeit stammenden Religionen (die sämtlich monotheistische oder henotheistische Tendenzen haben) gemeinsam sei. Wohl kaum zufällig beziehen sich Eisenstadts beste Beispiele auf die drei monotheistischen Buchreligionen – Judentum, Christentum und Islam.4 Insofern ist es methodisch sicherer (wenn auch immer noch risikoreich), auf eine Ebene geringerer Allgemeinheit hinabzusteigen. Mithin will dieser Essay umreißen, auf welche Weise das Christentum als einigermaßen systematisches Ensemble von Glaubensüberzeugungen und -konzeptionen der Gewalt seinen Stempel aufgedrückt hat. Skizziert werden sollen hier, anders gesagt, die Besonderheiten der christlichen und postchristlichen Gewalt im Unterschied etwa zum ‘mourning’ warfare der nordamerikanischen indigenen Völker (der sich um Ehre und Reproduktion drehte und dessen Gegenbegriff Handel war) oder einer Gewalt, wie sie in der Kultur der Azteken (Mexica oder Tenochca) unter dem Einfluss der Kosmologie darauf gerichtet war, die Götter zu speisen und die Welt durch Blutopfer zu erhalten.5 Statt nach religionsübergreifenden Invarianten zu suchen, sieht der Essay in der historischen Semantik des christlichen Monotheismus den Ausdruck jeweils ganz eigener Gewaltformen. Sie lieferte die „symbolische Matrix“ für heiligen Krieg, Märtyrertum und Terror und prägte sich einander folgenden Manifestationen von Gewalt auf.6

Der Islam wurde bereits erwähnt. Da der Autor auf diesem Gebiet kein Experte ist, wird er sich zum Thema muslimische Gewalt nur sehr zurückhaltend äußern. Für diese Vorsicht gibt es noch einen weiteren Grund: Seit dem 19. Jahrhundert und insbesondere seit Hegel haben geistesgeschichtliche Darstellungen und Analysen exaltierter europäischer Bewegungen einerseits und des Islam andererseits sich gegenseitig kontaminiert bis hin zu dem Punkt, dass Islam (mitsamt dem modernen muslimischen Fundamentalismus), Bolschewismus und Französische Revolution einander assimiliert wurden; mindestens aber hat man durch Vergleiche eine verborgene Übereinstimmung oder enge Wesensverwandtschaft impliziert.7 Mutmaßungen in hypothetischer oder konjunktivischer Form zu äußern werden wir uns angesichts der Gemeinsamkeiten der beiden monotheistischen Religionen Christentum und Islam (bestes Beispiel ist das muslimische Gegenbild zum christlichen Dualismus von materiellem und spirituellem Krieg: die Unterscheidung zwischen kleinem und großem Dschihad) dennoch erlauben.8 Unberücksichtigt bleibt auch das orthodoxe Christentum, zum Teil deshalb, weil Byzanz den heiligen Krieg nicht kannte.9

Dieser geringere, aber immer noch beträchtliche Verallgemeinerungsgrad – die Untersuchung umfasst immerhin die gesamte christliche und postchristliche westliche Welt – könnte sich der nämlichen Art von Kritik ausgesetzt sehen, wie sie gerade gegen die Schule Girards gerichtet wurde. Unbestreitbar gibt es gravierende Unterschiede zwischen – um nur einige Kulturen des Politischen zu erwähnen – dem England des Bürgerkriegs, dem revolutionären Frankreich, dem katholischen Europa der Kreuzzüge, dem Deutschland der Neuen Linken der 1970er Jahre und Amerika seit dem 17. Jahrhundert.10 Die neuere Forschung hebt weiterhin die Mannigfaltigkeit des amerikanischen Christentums hervor (und spricht lieber von „Christenheiten“ im Plural), aber Analysen können, je nachdem, was sie erklären wollen, zusammenfassen oder aufspalten. Das Nachdenken über Gewalt im westlichen Christentum sollte neben den Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten berücksichtigen.11 Die Unterschiede zwischen Sekten oder Konfessionen führten zu Feindseligkeiten innerhalb der westlichen Christenheit und waren für die Gläubigen von großer Bedeutung. Doch wurden sie in ebendieser Konkurrenz häufig verwischt, besonders in Amerika, aber nicht nur dort.12

Zudem muss die Diskussion das Konzept „Säkularisierung“ so leichtfüßig wie sorgsam umgehen. Unter Säkularisierung wird hier nicht, wie Alltagsauffassung und ein gewichtiger Forschungsstrang nahelegen, die Tatsache verstanden, dass formelle wie informelle religiöse Institutionen ihre zentrale Stellung in und ihren Einfluss auf Kultur, Gesellschaft und Politik verloren haben, während die Religion, in Verbindung mit diversen Formen einer Trennung von Kirche und Staat, zunehmend auf die Privatsphäre beschränkt wurde.13 Vielmehr geht es um eine neuere Interpretation dieses Paradigmas, wonach – paradoxerweise – Staat (und Nation) sich oberflächlich von der Kirche (und der ecclesia als menschlicher Gemeinschaft) getrennt haben, tatsächlich aber, wie etwa Ernst Kantorowicz in den 1950er Jahren argumentierte, ihr Ebenbild und ihr Erbe sind.14 Diese andere Auffassung von Säkularisierung, die von Karl Löwith und Carl Schmitt lanciert wurde, aber auch vielen Schilderungen langfristiger historischer Prozesse zugrunde liegt, besagt, dass religiöse Konzepte den Weg in die Moderne überstanden haben, indem sie sich in Ideen und Ideologien verwandelten, die ohne das Übernatürliche und Gott auskamen, aber vergleichbare Strukturen beibehielten. So wurde zum Beispiel aus dem linearen christlichen Zeitverständnis mit dem Versprechen einer besseren Welt und einer moralisch besseren Menschheit der Fortschrittsbegriff. (Eine mögliche Folgerung daraus – die auch durchaus gezogen wurde – ist, dass die so verstandene Säkularisierung zu einer Rückkehr des Religiösen führen kann.) In den 1960er Jahren trat Hans Blumenberg gegen Löwith und Schmitt mit der Gegenthese an, dass es keine substantielle und verborgene Kontinuität zwischen religiösem Mittelalter und Moderne gebe. Zwar habe das Mittelalter Fragen aufgeworfen, deren die Moderne sich habe annehmen müssen, doch sei dies auf der Grundlage ihrer eigenen, ganz anderen Epistemologie und Wissenschaft geschehen. Dieser Prozess, den Blumenberg als „Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten“ bezeichnet, vermittelt die Illusion von Kontinuität.15 Wie soll man in dieser Auseinandersetzung Partei ergreifen? Wie es so häufig der Fall ist, nimmt man am besten eine mittlere Position ein. So gesehen könnte Blumenberg insofern recht haben, als einige Konzepte der Moderne keine „säkularisierten“ vormodernen Ideen sind, während auf andere Konzepte der Ansatz von Schmitt und Löwith zutrifft.

Wie sind nun, im Hinblick auf die Gewalt, die Kontinuitäten zwischen der fernen christlichen Vergangenheit und den eher modernen Kulturen beschaffen, so es sie denn gibt? Haben wir es mit einem Kontinuum an kulturellem Gehalt zu tun, innerhalb dessen religiöse Konzeptionen Gebilde hervorbrachten, die jegliche Verbindung zu Gott und Kirche verloren hatten, nicht jedoch viele der Eigenschaften ihrer theologischen Vorläufer? Oder haben die Menschen der Moderne – mehr oder weniger zielgerichtet und bewusst – eine Kultur der Gewalt neu erfunden, wobei sie sich Material aus den halbverschütteten Schächten der vormodernen Vergangenheit, insbesondere ihren Büchern, besorgten? Oder haben wir es, in den Worten einer neueren Studie über die Bedeutung der lutherischen Zeitenwende, statt mit einer auf Linearität und Kausalität festgelegten Kontinuität mit „der Fortsetzung von Diskursen, Erinnerungspraktiken und Rekapitulationen“ zu tun?16 Unabhängig davon, welche der beiden Hypothesen wahr sein mag, stehen zwei Dinge außer Zweifel: Zum einen hat sich die moderne Kultur der Gewalt nicht ohne menschliches Handeln aus ihren vormodernen religiösen Vorläufern entwickelt; die Menschen sind keine Automaten, sondern treffen innerhalb ihrer jeweiligen Kulturen Entscheidungen. Zum anderen konnten Innovationen – die Ausbildung von Gewaltideologien unter Zuhilfenahme vormoderner Ideen – nur deshalb Bedeutung erlangen, weil zu dem Zeitpunkt, da sie stattfanden, die Kulturen, aus denen das Neue seine Elemente gewann, eigene Kraft besaßen.17 Wir haben es also nicht mit Mechanismen zu tun, die einander wechselseitig ausschließen. Auf welche Weise Kontinuität und absichtsvolle Neuerfindung koexistierten, wird insbesondere in der radikalsten Phase der Französischen Revolution sichtbar. Obwohl in den Jahren 1792 bis 1794 der antikatholische Impetus am stärksten war, trafen die neuen Ideen bei den Zeitgenossen gerade deshalb auf fruchtbaren Boden, weil sie auf den Wortschatz der religiösen Vergangenheit Frankreichs Rückbezug nahmen.

Die Säkularisierungsdebatte wirft das schwierige Problem der Beziehung zwischen Religion und Politik im Westen auf. In wechselnden Formen gehört die konzeptionelle Unterscheidung zwischen Religion und Politik seit dem frühen Christentum zur westlichen Geschichte. Doch gibt es seit längerem schon das Mit- und Nebeneinander zweier Konzepte, nämlich einmal der „Zivilreligion“ (womit in neuerer Zeit die Funktion der Religion als Rückgrat nationaler Politik in den USA bezeichnet wird, während das begrifflich Gemeinte sich auf Jean-Jacques Rousseau und darüber hinaus zurück bis auf das antike Rom beziehen lässt) und zum anderen der „politischen Religion“ (womit man auf die politischen Ideologien von Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus in ihrer Rolle als Religionsersatz mit je eigenen Glaubensüberzeugungen und Ritualen verweist). Diese Koexistenz zeigt, wie stark Religion und Politik als Sphären oder Dimensionen in der Praxis bis in die heutige Zeit hinein miteinander verwoben sind. In ihren gewaltsamen wie auch in ihren friedensorientierten Formen sind die westlichen Nationen der Moderne mittels Säkularisation die Erben früherer kultischer Gemeinschaften.18 Zudem haben vormoderne Denker zwar zwischen den Sphären von Politik und Religion unterschieden, Letzterer aber lange Zeit das Recht und die Pflicht zuerkannt, Gesellschaft und Politik zu organisieren, oder sie haben den religiösen Dimensionen Pflichten und Rechte beigelegt, die wir heute der Politik zuordnen.19 So war es möglich, ein tadelnswertes „politisches“ Verhalten in Glaubenssachen oder eine Grenzüberschreitung zwischen Politik und Religion zum Nachteil Letzterer zu monieren, zugleich aber einigen Themen, die in der Moderne als politische begriffen werden, religiöse Wertigkeit zuzusprechen.

Zum Dritten sollte nicht das Christentum allein als Verursacher von Gewalt verantwortlich gemacht werden. Zwar konzentriert sich diese Untersuchung auf die dunkle Seite des Christentums, was manche Leser zu dem Schluss verleiten könnte, dass gerade diese Religion eine rein negative Kraft sei und der einzige oder wichtigste Gewalt begünstigende Faktor. Aber auch in anderen Kulturen hat es Massaker und andere extreme Gewalttaten gegeben. Die rücksichtslose Kriegführung der Puritaner im Nordamerika des 17. Jahrhunderts fand ihre Entsprechung in den Terrortaktiken der indigenen Stämme, zu denen auch grausame Verstümmelungen gehörten.20 Als die Mongolen im 13. Jahrhundert große Teile Asiens überrannten, errichteten sie vor eroberten Städten Schädelpyramiden, um eventuellen Widerstand von vornherein zu entmutigen. Im Westen kamen zudem noch andere als nur christliche Ursachen für Gewaltanwendung ins Spiel. Auf den Schlachtfeldern des Mittelalters bestand die Infanterie aus Angehörigen der unteren Schichten, die den brutalen Metzeleien hilflos ausgeliefert waren und nicht wie ihre aristokratischen Befehlshaber die Möglichkeit hatten, sich durch Lösegeld freizukaufen. Das hatte nichts mit Glauben an Gott und geheiligter Kriegführung zu tun.21 Um 1900 war das deutsche Militär einer Kultur verpflichtet, die Ergebnisse forderte, Willensstärke feierte und den Endsieg – für Clausewitz ein Mittel internationaler Politik – zu einem Zweck an sich gemacht hatte. In Südwestafrika waren die Hereros im Krieg von 1904 bis 1907 und danach Opfer völkermordähnlicher Massaker und todbringender Deportationen.22 Im Hinblick auf die NS-Verbrechen hat Christopher Browning gegen Daniel Goldhagens einseitige Betonung der Geschichte des deutschen Antisemitismus auf gruppendynamische Prozesse und den Einfluss des Kriegsgeschehens verwiesen und dabei die begrenzten, jedoch vorhandenen Handlungsspielräume gewöhnlicher Deutscher, die mit der Durchführung der „Endlösung“ im besetzten Polen betraut waren, erörtert.23 Menschen werden von unterschiedlichen Institutionen beeinflusst, bilden einen mannigfaltigen Habitus aus, und Kulturen sind niemals völlig integriert. Anderenfalls gäbe es keine Handlungsfreiheit, und die Geschichte wäre vollständig vorhersagbar. Aber so ist es nicht.24 Die christlichen und post-christlichen Gewaltformen, um die es in dieser Untersuchung geht, hatten Durchschlagskraft, die manchmal beträchtlich, nie jedoch unwiderstehlich kausal war.

Erneut hat Martin Aurell jene mittelalterlichen Stimmen, von Laien wie von Geistlichen, zusammengestellt, die den Kreuzzügen kritisch oder ablehnend (was nicht ganz dasselbe ist) gegenüberstanden.25 Es war eine Minderheit, aber es gab sie. Grundlegender ist vielleicht, und mit Nachdruck zu bekräftigen, dass das Christentum Menschenrechte und Lehren vom gerechten Krieg auf den Weg brachte. Zudem hat es, wie kürzlich von Hans-Lukas Kieser am Beispiel amerikanischer Evangelikaler zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezeigt, die Verpflichtung zu humanitärem Handeln entscheidend befördert.26 Außerdem sind manche von uns vielleicht der Überzeugung, dass zur Verteidigung der Gerechtigkeit und zum Schutz von Menschen vor Diktatur und Unterdrückung Waffen eingesetzt werden dürfen. Diese Überzeugung und ihre Legitimation entspringen derselben Quelle. Man muss Norman Housleys Beurteilung der europäischen Kreuzzüge zustimmen, wenn er auf zwei augenscheinlich widersprüchliche Positionen in der Forschungsdebatte hinweist: die eine „machte die Kreuzzüge für die an Verehrung grenzende Begeisterung, mit der der Krieg im Mittelalter so häufig betrachtet wurde, verantwortlich“, während die andere hervorhob, dass „die fortwährende Prüfung von Absicht und Gewissen, die von dieser direkten Identifikation der Gewalt mit Gottes Willen hervorgerufen wurde, für die Bewahrung der ethischen Dimension in der europäischen Kriegführung eine entscheidende Rolle spielte.“ Für Housley sind „diese beiden Sichtweisen gleichermaßen gültig; die Kreuzzüge trugen sowohl zur Militarisierung der mittelalterlichen Kirche bei und sorgten zugleich für eine fortwährende Kritik daran, wofür Krieg geführt wurde in einer sich als christlich verstehenden Welt.“27

Diese Einsicht kann auf die Zeit nach dem Mittelalter übertragen und zu einem grundlegenden theologischen Prinzip in Beziehung gesetzt werden, das ich im zweiten Kapitel eingehend erörtere. Die komplizierte Dialektik, mit der das westliche Christentum das Verhältnis von Frieden und Krieg behandelte, hat der globalen Politik nicht nur Negatives beschert, sondern für janusköpfige Verhaltensdispositionen gesorgt. Die Form, die Menschenrechte und gerechter Krieg angenommen haben, ist ohne das Christentum entwicklungsgeschichtlich ebenso undenkbar, wie es geheiligte Kriegführung und Terrorismus sind. Diese Form ist undenkbar – und daher unverständlich –, wenn mit „Verstehen“ die Fähigkeit gemeint ist, vergangenes menschliches Handeln in Vorstellungen aufzufassen, die den Handelnden selbst und ihren Zeitgenossen nicht fremd gewesen wären. Und um „Form“ geht es uns hier.

Diese „Form“ ist ein Ensemble von Konstellationen oder Formeln, die allesamt aus demselben gemeinsamen und beschränkten Pool von Ideen und Praktiken schöpfen. Nicht alle diese Ideen und Praktiken sind in jeder Konstellation vorhanden, doch gibt es ein gewisses Maß an Regelmäßigkeit darin, wie sie im Lauf der Zeiten ihren Ausdruck finden. Auf diese Weise sind die Konstellationen, zu denen sie sich gruppieren, miteinander vergleichbar. So nutzt dieser Essay für die hier analysierten historischen Episoden die Erkenntnis, die Marcel Gauchet mit Blick auf das „Ereignis Jesus“ sagt: Das Eindringen Jesu in die Geschichte und sein Einfluss „haben auf kontingente Weise Möglichkeiten ausgeschöpft, die ihrerseits notwendig miteinander verbunden waren“. Für Gauchet, der sich dabei auf Max Weber bezieht, handeln die geschichtlichen Akteure „innerhalb eines Spektrums klar definierter Möglichkeiten“, die seiner Auffassung nach durch die fortschreitende Entfaltung der Geschichte der Religionen hervorgebracht werden.28 In dieser Hinsicht ist die Gewalt weder eine Invariante noch unendlich variabel, sondern hängt in ihrer Form und Gestalt von den Religionen ab, die ihre Akteure und deren Konzeptionen geprägt haben. Mit dem großen französischen Mediävisten Marc Bloch und mit Michel Foucault sollte man natürlich davon Abstand nehmen, Ursprünge zu idolisieren, indem man annimmt, sie allein könnten historische Phänomene, die oftmals in weiter Ferne von ihnen liegen, erklären. Aber wenn in einer Kultur immer wieder auf Ursprünge rekurriert wird, sollte man diesen durchaus eine kausale Rolle zubilligen. Das Christentum idolisiert Ursprünge; in dieser Hinsicht waren die frühchristlichen Jahrhunderte von entscheidender Bedeutung. Die heutigen pluralen „Christenheiten“ sind Religionen des Dogmas und der Bücher, und diese Worte und Schriften haben, durch reibungslose Überlieferung wie durch unvorhergesehene Wiederentdeckung, zu Fortsetzungen geführt, ohne die das Erklären und Verstehen dieser Phänomene nicht möglich ist. In dieser Hinsicht steht das Christentum außerhalb der ansonsten gültigen Kritik von Bloch und Foucault.29

Mittlerweile sollte klar geworden sein, dass dieser Essay die Religion sehr ernst nimmt. Bei einem Thema wie diesem, das sich über zwei Jahrtausende erstreckt, bieten sich zwei spiegelbildliche Zugangsweisen an. Historiker können mit Hilfe heutiger Modelle die heiligen Kriege und den religiösen Terror der Vergangenheit erklären und ebenso umgekehrt den geheiligten Krieg der Gegenwart anhand vergangener Traditionen und Verstehensweisen. Der erste Ansatz verspricht einigen Erkenntnisgewinn, läuft aber Gefahr, das Selbstverständnis der damaligen Akteure zu vernachlässigen oder ganz auszublenden. Das Selbstverständnis aber ist immer ein möglicher Erklärungsfaktor für das Handeln und sollte mithin in der Forschung berücksichtigt werden.30 Der zweite Ansatz sieht hierin, ganz dem Common Sense folgend, jede Generation von ihrer eigenen kulturellen Vergangenheit beeinflusst. Auch das ist nicht ohne Fallstricke; so kann diese Auffassung einem Determinismus verfallen, der gegenüber Brüchen, Epochenschüben und Sprüngen oder Fortsetzungen blind bleibt. Einflüssen nachzuspüren ist etwas ganz anderes, als Kausalbeziehungen oder – was für den Historiker als Fachperson irrelevant ist – Verantwortung und Schuld festzustellen. Vertraut ist uns das Argument, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts habe Europa in die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und den Holocaust getrieben, und wir kennen die Ansicht, diesen Weg hätten Denker von Rousseau über Hegel und Marx bis Nietzsche gepflastert. Wir werden uns jedoch nicht jenen Autoren im schuldbewussten Deutschland anschließen, die aus den Massakern des Kreuzzugs von 1099 die Gründungsurkunde einer systematischen ideologischen Gewalt machten, deren Wirkung bis zu den Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts reicht.31 Solche Anschuldigungen vereinfachen die Sache allzu sehr; sie übersehen die Vielfalt der politischen Positionen, die aus den Ideen dieser Denker abgeleitet wurden, und sie vergessen die Rolle, die Institutionen aller Art (formelle wie informelle), Begleitumstände und Konjunkturen im historischen Prozess spielen.32 Andere wiederum würden einwenden, dass das Christentum als solches in Sachen Gewalt „unschuldig“ sei und an der zeitgenössischen Gewalt grundsätzlich nur teilhabe, insofern es im Lauf der Zeit und besonders der Moderne mit anderen Dimensionen der Kultur (etwa mit den Kräften des Marktes und des Nationalismus) „Hybridisierungen“ hervorgebracht habe. Zudem hätten Zivil- und politische Religionen sich im Arsenal christlicher Glaubensrichtungen bedient und das Christentum so herabgewürdigt. Diese Auffassung vertritt Jon Pahl in seinem Buch Empire of Sacrifice, das in vielerlei Hinsicht auf Eric Voegelins klassische These rekurriert, allerdings auf festerem sozialwissenschaftlichem Grund und unter Berücksichtigung einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure.33 Doch ließe sich einwenden, dass diese neueren Formen so „neu“ nicht sein können – Hybridisierung schließt Unterschiede gegenüber ihren Bestandteilen ebenso wie Ähnlichkeiten mit ihnen ein. Solange man Momente des vormodernen Christentums in einigen Triebkräften der zeitgenössischen Hybridisierungen wiederfindet, ist eine detailliertere Untersuchung heuristisch legitim.

Man sollte also im Umgang mit Ideen diese weder überhastet von Blutschuld freisprechen noch sie in Bausch und Bogen verwerfen. Ideen sind mehr als nur Kostüme, die sich die geschichtlichen Akteure unter dem Druck des Handelns wahllos oder aus taktischen Gründen überwerfen. Auch sollte man nicht von vornherein davon ausgehen, dass Ideen einfache Widerspiegelungen von (formellen oder informellen) Institutionen und Bedürfnissen sind. Erneut sei an Max Weber erinnert: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“34

Wie aber treffen Ideen und Ereignisse zusammen? Es lassen sich drei einander nicht gegenseitig ausschließende Modalitäten unterscheiden, in denen Kultur Geschichte beeinflusst: während des Ereignisses, nachher, vorher. Im ersten Fall bilden die bereits existierende Kultur und die Ideen einen Erfahrungshorizont als den kognitiven und emotionalen Rahmen aus, innerhalb dessen historische Akteure das, was sie tun und was ihnen geschieht, erfahren und interpretieren. Im zweiten Fall stellen Kultur und Ideen häufig Formeln zur Verfügung, die jene Taten, sobald vollbracht, legitimieren. In diesen beiden Konfigurationen sind Kultur und Ideen nicht notwendigerweise die Ursache für diese Taten oder mit ihnen im Augenblick des Geschehens eng verwoben. Als dritte Möglichkeit jedoch gibt es, sofern geschichtliche Akteure an Prophezeiung in jeglicher Bedeutung dieses Begriffs glauben, Augenblicke, in denen sie eine bereits ergangene Prophezeiung leben oder ausagieren. Prophezeiungen können direkter biblischer Provenienz sein oder auch die Äußerung eines Philosophen, der die Logik der Geschichte zu verstehen behauptet. Solche Augenblicke treten oftmals dann ein, wenn der Erfahrungshorizont einer kritischen Masse von Akteuren die Überzeugung vermittelt, sie ständen an der Schwelle zur Verwirklichung der Prophezeiungen. Wie ich in Kapitel II ausführe, kann es sich dabei um die endgültige Verwirklichung (die reine apokalyptische Eschatologie) oder eine typologische Vorwegnahme der endgültigen Erfüllung handeln.

Angesichts der geringen Anzahl vormoderner Quellen kann der Historiker nur selten eindeutig feststellen, ob ein Ereignis im Nachhinein gemäß einer vorgegebenen Ideenkonstellation interpretiert wurde oder ob diese Konstellation die Menschen zu ihrem jeweiligen Handeln veranlasste. So gehört es beispielsweise zu den Risiken der Forschung, die Aussage zu wagen, dass die ersten Kreuzfahrer durch eschatologische Erwartungen motiviert nach Jerusalem aufbrachen und durch sie zu ihren Handlungen auf der Reise bis zur blutigen Einnahme der Stadt 1099 veranlasst wurden (im Gegensatz zur Auffassung, dass die Erfahrungen der Kreuzfahrer die mittelalterlichen Chronisten dazu bewogen, die Expedition im Nachhinein als Erfüllung eschatologischer Prophezeiungen zu schildern).35 Das Risiko dieser Aussage will das Buch, zusammen mit weiteren neueren Forschungen (vor allem von Guy Lobrichon, Jean Flori und Jay Rubenstein), wagen und verteidigen. Die Hypothese wird von einer überzeugenden, quellengesättigten These gestützt: Denis Crouzet geht davon aus, dass die gewalttätige und panische (panicked; mehr zu diesem Begriff in Kapitel III) Reaktion der französischen Katholiken auf den Calvinismus des 16. Jahrhunderts als Ausagieren eines ihnen durch die christliche Tradition vermittelten religiösen Szenarios erklärt werden kann. Als Naturkatastrophen sich dem Ausbruch machtvoller Häresien beigesellten und die Bevölkerung aus astrologischen Flugschriften und Almanachen, die diese bösen Vorzeichen entzifferten, die Überzeugung gewann, dass die Geschichte in ihr Endstadium getreten war, wandten sich viele französische Katholiken der Offenbarung des Johannes und den Prophezeiungen des Alten Testaments über die Säuberungen von Babylon und Jerusalem zu und griffen zu heiliger Gewalt.36 Das Eschaton war eine Zeit für das Schwert, bot aber auch Hoffnung auf Friede und Freiheit, denn mit dem letzten Kampf konnte sich (zumindest dachten einige so) ein unbestimmtes neues Jahrtausend oder das dritte Zeitalter der Geschichte eröffnen.37 Das Zeitenende würde die Verwirklichung der christlichen Utopie – Einheit, Einmütigkeit, Einförmigkeit – bringen. Historisch belegte christliche Szenarien oszillierten zwischen zwei Polen: zwischen Universalismus und Homogenität einerseits und dem Ideal einer auserwählten Avantgarde, die die Mehrheit – gewaltsam – ausschließt, andererseits. Andere historisch belegte Positionen nahmen an, dass das Zeitenende, in der Nachfolge der Apostel, die radikale Abkehr von Gewalt bedeuten würde. Wir werden uns jedoch auf die „dunkle Seite“ dieser Gewalt konzentrieren.38

Dass eschatologische Texte als Antriebskraft und Leitfaden dienten, ist schon vor der Reformation am Beispiel radikaler Hussiten (der sogenannten Taboriten) und nach 1517 über den englischen Bürgerkrieg bis zum kolonialen Amerika des 18. Jahrhunderts belegt.39 Zudem ist die Eschatologie keineswegs ausschließlich vormodern oder spätmodern – sie beeinflusst auch weiterhin Kultur und Politik im religiösen Fundamentalismus der heutigen USA40 und ist in aktuelle Gewaltanwendung verwickelt. Warum hätte es in den (quellenärmeren) frühmittelalterlichen Jahrhunderten anders sein sollen? Und überdies: Wenn Forscher annehmen, dass historische Akteure Passagen aus der Bibel heranziehen, um ihr gewaltsames Handeln a posteriori zu legitimieren oder zu begreifen (die ersten beiden oben skizzierten Modalitäten), warum sollten sie dann nicht in Betracht ziehen, dass historische Akteure durch solche Passagen zu ihren Taten motiviert wurden (die dritte Modalität)? Wenn man den Aspekten der Erkenntnis und der Legitimation Rechnung trägt, nicht aber dem Aspekt der Motivation, spricht man der Religion die Macht ab und reduziert sie auf eine Chiffre.41 Folglich werden wir mit Max Weber „Erklären“ und „Verstehen“ voneinander unterscheiden und Letzterem den Vorrang einräumen. Sorgfältig werden wir kausale Erklärungen, die über die von den historischen Akteuren angegebenen Gründe hinausgehen, als einem solchen Verstehen entgegengesetzt kennzeichnen. Außerdem sollen emische Erklärungen historischer Phänomene den Vorrang erhalten vor etischen. Das heißt, Ausgangpunkt für die Analyse indigener Handlungen, Verhaltensweisen und Ideologien sind „indigene“ Auffassungen. Sie erhalten den Vorrang gegenüber Auffassungen, die der analysierten Kultur exogen sind.42 Dabei handelt es sich lediglich um eine Folge aus dem Ansatz dieses Essays; der Wert von kausaler Erklärung oder etischen Methoden soll nicht bestritten werden.

Aber ist dieser Ansatz legitim? Ist eine rein geistesgeschichtliche Analyse der westlichen Gewalt nicht illegitim, auch deshalb, weil sie „den Umgang mit der Heiligen Schrift enthistorisiert“?43 Welche Ergebnisse kann der Ansatz realistischerweise zeitigen? In der Forschung sind die Grenzen der Erklärungskraft von Ideen und Überzeugungen bei der Analyse historischer Prozesse hervorgehoben worden, sobald dabei die Rolle von Institutionen, Begleitumständen und des Chaos des Handelns vernachlässigt wird. Ein Klassiker ist Paul Veynes durchschlagendes Argument: „Das Bewußtsein steht nicht am Ursprung des Handelns.“ Überdies erlauben monokausale Modelle nur eine mangelhafte Rekonstruktion (man wird mit Bloch und Jacques Le Goff vom „Aberglauben der alleinigen Ursache“ sprechen).44 Wenn jedoch der Historiker absichtlich davon absieht, eine vollständige Rekonstruktion zu erstellen, kann er durch den Ausschluss von Begleitfaktoren in Verbindung mit der Konzentration auf Religion und Ideologie interessante Phänomene beleuchten. Sicherlich spielten konkrete Probleme und Krisen eine Rolle bei der Herausbildung religiöser Gewalt, doch entziffern und bewerten primär utopisch ausgerichtete Bewegungen das Krisenhafte des Realen im Lichte dieser Utopie, und diese Vision wiederum gibt dem Handeln Richtung und Grenzen.

Zudem verändert die Utopie, wenn sie manichäische Züge trägt, die klassische Dynamik von Konflikt und Konfliktlösung. In traditionalen Gesellschaften erlaubt ein gewisses Maß an Gleichgewicht häufig eine (wenn auch nur zeitweilige) Rückkehr zum Frieden, insbesondere durch Vermittler/Mediatoren, die mit beiden Parteien sozial verbunden sind.45 Aber diese Dynamik ist in stark ideologisierten Situationen außer Kraft gesetzt. Jean-Clément Martin hat gezeigt, wie sich die Gewalttätigkeiten der Französischen Revolution in ihrer physischen Form denen des Ancien Régime anglichen und an Verwerfungslinien stattfanden, die schon vor 1789 existierten. Vor und nach dem Fall der Bastille am 14. Juli kämpften Protestanten gegen Katholiken, Soldaten gegen Offiziere, Bauern gegen Oberschichten, französische gegen ausländische Regimente, Klientschaft gegen Klientschaft, Meister gegen Lehrlinge, Fabrikbesitzer gegen Arbeiter. Aber die Mechanismen, die sonst die Gewalt begrenzt und eine zeitweilige Rückkehr zum Frieden ermöglicht hatten, versagten nach 1789, weil die Revolutionäre einer manichäischen Ideologie huldigten. Wer vermitteln wollte, konnte als Verräter gebrandmarkt werden.46 Daran war nichts Neues. Als die französische Monarchie im 16. Jahrhundert zugunsten des Gemeinwohls zwischen den bewaffneten Anhängern der christlichen Konfessionen Frieden stiften wollte, ging die Heilige Liga, ein Sammelbecken katholischer Extremisten, in einem kriegerischen Lied dagegen an: „Sollen wir jetzt etwa nicht mehr wählen zwischen Gott und dem Teufel?“ In den Augen der Ligisten waren die sogenannten Politiques – Monarchisten, die angeblich der Macht den Vorzug gaben gegenüber dem Glauben – schlimmer als die calvinistischen Ketzer.47 Und in einer berühmten Flugschrift der Englischen Revolution – Meroz Cursed – heißt es: „Der Herr kennt keine Unentschiedenen. Dieser Text verflucht all jene, die nicht kommen, ihm zu helfen, wie auch jene, die kommen, um gegen ihn zu kämpfen; Christus bestimmt eindeutig: ‚Wer nicht für mich ist, ist wider mich‘ (Mt 12, 30, Lk 11, 23).“48 Diese Passage aus den Evangelien unterfütterte Präsident George W. Bushs kompromisslose Haltung angesichts der Terroranschläge vom 11. September 2001. Am 6. November erklärte er: „Im Kampf gegen den Terror seid ihr entweder mit uns oder gegen uns.“ Schon lange zuvor, in der Revolutionszeit, hatten Christi Worte viele puritanische Geistliche in den Kolonien begeistert:49 Gegen uns kämpfte der Teufel, und das Universum war zwiegespalten. Es ging um „die Sache der Wahrheit gegen Irrtum und Falschheit; um die Sache der Aufrichtigkeit gegen die Niedertracht; um die Sache der Unterdrückten gegen den Unterdrücker; um die Sache der reinen und makellosen Religion gegen Bigotterie, Aberglaube und menschliche Erfindungen … Kurz … um die Sache des Himmels gegen die Hölle – um den guten Schöpfer des Universums gegen den Fürsten der Finsternis, den Vernichter der Menschheit.“50 Es gab Augenblicke, in denen das manichäische Moment im Christentum sich gegen das pazifistische durchsetzte. Natürlich konnte auch aristokratisches Ehrgefühl dem Frieden schädlich sein und zur Verhinderung von Kompromissen beitragen. Brantôme (gest. 1614), ein Veteran der französischen Religionskriege, schnaubte empört, wie es denn angehen könne, dass jene, „die wahren Adel bekunden und ein Schwert an der Seite tragen und ihre Ehre an dessen Spitze“, mit den Mördern ihrer Verwandten Bündnisse, Verträge, gar Freundschaften schlössen? Wie nur konnten sie mit ihnen gesellschaftlich verkehren? Gefühlige Vergebung von Vergehen auf Gottes Gebot hin mochte für Geistliche und Mönche taugen, Aristokraten jedoch sollten „sterben oder Rache üben, statt ihre Seelen mangels Entschlusskraft und eines schönen Schwertstreichs befleckt zu lassen“.51

Wenn also Historiker nach „Ursachen“ forschen, sollte dann nicht jene Dimension, die es einer situativen Konstellation erlaubt, als bedeutungsvoll statt bedeutungslos, als unerträglich böse statt erträglich, als handlungs- statt duldungsmotivierend interpretiert zu werden, den Status einer causa causarum, einer „Ursache der Ursachen“, beanspruchen können?52 Oder besser, da es hier nicht um Verursachung geht, den Status einer forma formarum, mithin der kulturellen Form, die andere Formen formt: Wenn wir die Religion ernst nehmen, können wir die Konturen der Gewalt im Westen besser verstehen. Das dritte Kapitel wird erörtern, warum eigentlich die Glaubensüberzeugungen heiliger Krieger, Märtyrer und Terroristen nicht für die wirklichen Beweggründe ihrer Taten gehalten werden. Es gibt nämlich im Westen einen von interreligiösen Polemiken schon immer geschürten, tief verankerten Diskurs, demzufolge solche Leute für verrückt, besessen oder einer Gehirnwäsche unterzogen gelten. Wenn man mit den Konzeptionen eines Feindes nichts anfangen kann, kommt man leicht zu dem Schluss, dass sie inkohärent oder der normalen menschlichen Natur von außen aufgezwungen sein müssen.53 Die Kapitel II und IV zeigen dagegen, wie ein immanenter, emischer Ansatz, der die Theologie als Ausgangspunkt nimmt, es den ideologischen oder religiösen Beweggründen historischer Akteure erlaubt, Sinn zu ergeben, und Form und Rhythmus ihrer Gewalt teilweise zu erklären vermag. Es geht nicht um Monokausalität, sondern darum, eine wichtige Dimension menschlichen Handelns und Wahrnehmens zurückzugewinnen.

Natürlich sind „Gewalt“ und, mehr noch, „Terror“ schwierige, bestenfalls „unsaubere“ Konzepte. Am Horizont türmen sich drohend Fragen wie Legitimität und Ethik; und mögen die Konzepte auch zum Zwecke von Forschung und Erklärung nützlich sein, so sind sie doch zugleich ideologisch negativ besetzt.54 Wo verläuft die Grenze zwischen heiligem Krieg (einem per Definition gerechten, von Gott gebilligten Krieg) und Terror? Die Römer hatten es einfach: Der Krieg, bellum, wurde von gewählten Magistraten autorisiert, ansonsten handelte es sich um Banditentum, latrocinium. Westliche Intellektuelle mochten da vielleicht etwas komplizierter gestrickt sein, wenn sie jahrhundertelang darüber stritten, ob staatlicher (oder gesellschaftlicher) Zwang vergleichbar sei mit der von kleinen Gruppen ausgeübten Gewalt, mit ihr wesensgleich oder von ihr völlig verschieden. Kritik an der römischen Dichotomie übte bereits Augustinus im Gottesstaat: Der Kirchenvater stufte jeden Staat, der sich nicht an die göttliche Gerechtigkeit hielt, auf das Niveau eines großräumigen Banditentums zurück.55 Die Grenzziehung taucht in unterschiedlichen Formeln immer wieder auf, ob sie nun als gegeben festgestellt oder in Frage gestellt wird. Man denke an Sergio Panunzios Vergleich staatlicher Gewalt (force) mit revolutionärer Gewalt (violence)56, oder an Georg Lukács’ Gleichsetzung von Ökonomie und Gewalt. Lukács greift die falsche Unterscheidung zwischen Recht und Gewalt, Ordnung und Aufstand, legaler und illegaler Gewalt an, weil damit verschleiert werde, dass in der Klassengesellschaft alle Institutionen auf Gewalt gründen.57 Oder man denke an Frantz Fanons Unterscheidung zwischen der Gewalt der Kolonisierten und der der Kolonisatoren, wobei Erstere die Moral auf ihrer Seite haben.58 Auch Walter Benjamin setzt, wie Panunzio und andere, einer als legal geltenden Gewalt eine andere entgegen, die verurteilt wird, nicht, weil sie Gewalt ist, sondern weil sie außerlegal ist.59 Benjamin kontrastiert auch „rechtsetzende“ mit „rechtserhaltenden“ Gewalt und antizipiert so jene eher soziologisch orientierten Modelle, die in den 1960er und 1970er Jahren von europäischen Denkern (vor allem Johann Galtung, aber auch Mitgliedern der Frankfurter Schule und Herbert Marcuse) entwickelt wurden. Sie setzen der strukturellen oder systemischen Gewalt jene Gewalt entgegen, die von Individuen oder Gruppen auf der Suche nach einer neuen Ordnung ausgeübt wird.60

Von außen betrachtet sehen staatliche Gewalt und die von kleinen, aufständischen Gruppen ausgeübte Gewalt einander oft recht ähnlich. Insofern hängt die Debatte über eine Vergleichbarkeit letztlich an ethischen Urteilen, hinsichtlich derer der Historiker in seiner Eigenschaft als Historiker nichts entscheiden kann. Ist der Selbstmordattentäter der Inquisition substantiell ähnlich? Sind die Aktionen terroristischer Kleingruppen dem stalinistischen Terror vergleichbar? Immerhin können Forscher, ohne die Gewalt von oben der von unten moralistisch anzugleichen, historische Dynamiken skizzieren, in denen institutionelle Gewalt und Gewalt von unten in Verbindung miteinander stehen. Wir werden dem in Kapitel V nachgehen. Während der langen Zeiträume, in denen letztere, eine Art „Graswurzelgewalt“, inexistent war, fungierten de facto der Staat und seine Mythen wie ein Vorratsspeicher. Natalie Davis hat in Bezug auf das 16. Jahrhundert gezeigt, wie der religiöse Terror von unten seine Formen immer wieder dem staatlichen Handeln, dem religiösen Zwangsregiment und beider Inszenierungen entlehnt.61 In seinem Klassiker Pursuit of the Millennium konstruierte Norman Cohn eine im Untergrund bestehende chiliastische Bewegung. Ihr Zentrum bildeten die an den Rhein grenzenden Lande, und sie besaß tatsächlich eine Kontinuität über die Zeiten hinweg, wenngleich sie nur episodisch nach außen hervortrat. Im Gegensatz dazu war für Norman Housley der sektiererische Messianismus im mittelalterlichen Europa kein dauerhaftes Phänomen. Er brach urplötzlich hervor, um genauso plötzlich wieder zu verschwinden. Housley stimmt mit Cohn jedoch darin überein, dass der Messianismus sein wirkliches Arsenal im messianischen Nationalismus besaß. Die (normalerweise königliche) nationale Institution hielt durch ihre eschatologische Mission ein Potential für antiinstitutionelles eschatologisches Handeln am Leben.62 Insofern konnte die religiöse Gewalt, die der Messianismus häufig bei kleinen Gruppen freisetzte, jahrhundertelang in den Mythen der politischen Gemeinwesen, in denen sie entstand, überdauern. Die revolutionären Taboriten erhoben sich in einem Böhmen, das von seiner nationalen Mission innerhalb der universellen Christenheit überzeugt war, und diese Überzeugung war im 14. Jahrhundert von Kaiser Karl IV. (gest. 1378) ins Leben gerufen worden.63

Nun sind Housleys Korrekturen am romantischen Bild von Cohn zwar angebracht, aber es bleibt zu erklären, warum der sektiererische Messianismus trotz seines flüchtigen Wesens so beharrlich wiederkehrte. Die millenaristischen Bewegungen wurden nicht nur von Fürsten und proto-nationalistischen Bestrebungen unterstützt, vielmehr bezogen sie ihre Bilder und Ideen aus heiligen Schriften und deren christlichen Auslegungen. Ein derartiges Arsenal war die von einer „virtuellen Bibliothek“ repräsentierte Tradition (was dem überaus belesenen Cohn nicht verborgen bleiben konnte).64

Im fünften Kapitel wird erklärt, inwiefern der Beitrag größerer sozialer Gemeinschaften zu kleineren Bewegungen aus einer theologischen Perspektive begreifbar ist. In der weiten christlichen und post-christlichen Welt zieht jede terroristische Gruppe zweierlei in Betracht: zum einen, dass sie eine kleine Schar von Auserwählten ist, und zum anderen, dass sie die Avantgarde einer großen, umfassenderen (und manchmal universellen) Bewegung bildet. Dieses Miteinander von exklusiver und universalistischer Einstellung verdankt sich auch der Spannung zwischen einer Theologie der Prädestination einerseits, für die es wenige Erwählte und viele Verdammte gibt, und der allumfassenden Theologie einer „broad Church“, einer universalen Kirche andererseits, deren Anliegen es ist, möglichst alle Menschen zum Licht zu führen.65

Als Nebenprodukt dieser Spannung nährte ein Märtyrerideal, das für die werdenden Staaten von zentraler Bedeutung war, den Terror (und wurde seinerseits von diesem Terror genährt). Dieser Terror wurde von einer Avantgarde und für eine Avantgarde ausgeübt, die die Zukunft eines politischen Gemeinwesens repräsentierte. Als Gavrilo Princip 1914 den österreichischen Erzherzog in Sarajevo erschoss, handelte er im Namen eines zukünftigen südslawischen Staats und in der Bereitschaft zu sterben. Dies geschah vor dem Hintergrund von Legenden, die zu den Gründungsmythen von Staaten gehörten und deshalb von diesen gehegt und gepflegt wurden. Seit etwa 1800 hatte die ethnische Gruppierung, der Princip angehörte, ihre Identität aus der Legende um den heiligen Krieger und Märtyrer Fürst Lazar bezogen, der 1389 auf dem Schlachtfeld des Kosovo gefallen war.66 Der Glaube daran, zu den wenigen Auserwählten oder zu einer Avantgarde zu gehören, ermöglichte gleichfalls den Terror gegen den eigenen Staat – im Namen von dessen Zukunft. In diesem Sinne verstand auch John Brown 1859 seine blutige Mission, bevor er zum Galgen ging (dazu Kapitel IV). Brown steht für einen Grenzfall. Märtyrer, die in ihrer Zeit und bis zu ihrem Tod Gegner eines politischen Gemeinwesens waren, konnten symbolische Meilensteine für ein späteres Gemeinwesen werden, sogar für jenes, das ihnen vormals den Tod beschert hatte. Brown, wie viele andere ein Gegner der Sklaverei, hätte eher die Union zerbrechen lassen, als Sklaverei zu dulden. Aber wenige Jahre nach seinem Tod am Galgen lebte er in den Liedern der Soldaten der Nordarmeen im Kampf gegen die Sezessionisten weiter. Er war, in den Worten von Franny Nudelman, vom „Staatsfeind“ zur „Quelle kollektiver Identität“ geworden und galt nicht mehr als Bedrohung der staatlichen Identität.67

Heiliger Krieg

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