Читать книгу Das Jahrhundert des Populismus - Pierre Rosanvallon - Страница 10
Die Alternative
ОглавлениеBevor man den Populismus als Problem analysiert, sollte man ihn als Antwortvorschlag auf die Probleme der Gegenwart verstehen. Dieses Buch nimmt ihn ernst, indem es ihn in diesem Sinne analysiert und kritisiert. Doch diese Kritik kann nur dann ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn sie in den Entwurf eines Alternativvorschlags mündet.12 Darum geht es auf den letzten Seiten dieses Werkes. Dort wird in groben Zügen skizziert, was eine verallgemeinerte und potenzierte Volkssouveränität sein könnte, die die Demokratie bereichert, anstatt sie zu vereinfachen oder zu polarisieren. Dieser Ansatz beruht auf einer Definition der Demokratie als ständig zu leistende Arbeit, fortgesetzte Erkundung, und nicht als Modell, dessen Züge man endlich getreu nachbilden könnte, wenn man die Erörterung der Konflikte und Debatten über ihre angemessene Form hinter sich gelassen hat.
1Es sei betont, dass es mit dem Wort »Demokratie« einst genauso war, vor allem in den Vereinigten Staaten. Im frühen 19. Jahrhundert war es in diesem Land eine Beleidigung, als »Demokrat« bezeichnet zu werden. Der Begriff war gleichbedeutend mit »Demagoge«, und Demokratie hieß, aus dem Munde der Gründerväter und ihrer Nachfolger, so viel wie »Macht des Aufruhrs« oder »Herrschaft der Pöbelleidenschaften«. Es war ein Akt der Provokation, als die Republikaner der Zeit (die Partei Jeffersons) ihre Organisation gegen Ende der 1820er Jahre in »demokratische Partei« umtauften. Siehe dazu die gut belegte Geschichte von Bertlinde Laniel, Le Mot »democracy« et son histoire aux États-Unis de 1780 à 1856.
2Interview in L’Express vom 16. September 2010. Er hatte sich schon in seinem Werk Qu’ils aillent tous! Vite, la révolution citoyenne entsprechend geäußert. »Den Schönen und Zufriedenen, ihren Barden und allen Klugscheißern des Establishments möge vor Empörung das Wort im Hals stecken bleiben. Sie sollen ruhig mit ihrer albernen Roten Karte wedeln: ›Populismus!‹, ›Entgleisung!‹. Meinetwegen«, ist dort zu lesen (S.11–12).
3Ich selbst habe einst diesen reduktionistischen Weg eingeschlagen, indem ich den Populismus als eine Karikatur des gegendemokratischen Prinzips betrachtete (vgl. mein Werk Die Gegen-Demokratie, S.241–248).
4Dossier »Les 36 familles du populisme«, Éléments, Nr. 177, April-Mai 2019.
5Référendum d’initiative citoyenne [Volksbegehren].
6Selbst wenn das Konzeptualisierungsbemühen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe auf der Linken zu begrüßen ist. Diese Autorin und dieser Autor haben übrigens keinerlei Pendant auf der extremen Rechten.
7Ein Neologismus, der sich vom französischen Imperatif »Dégage(z)!« (Hau[t] ab!) ableitet, also so viel wie Haut-ab-Mentalität bedeutet [AdÜ].
8In: La Démocratie inachevée. Histoire de la souverainité du peuple en France.
9Vergleiche sein Interview mit der Financial Times vom 28. Juni 2019.
10Vergleiche seine programmatische Rede vom 26. Juli 2017 in Băile Tuşnad.
11Zumal das Regime das allgemeine Wahlrecht wiederherstellte, das die Ordnungsrepublikaner 1849 beschnitten hatten.
12Das macht die Schwäche der Interpretationen des Populismus als »Pathologie« der Demokratie aus. Sie setzen nämlich voraus, dass die bestehenden Demokratien als perfekter Bezugspunkt des demokratischen Projekts fungieren, als Referenznorm, von der die Populismen abweichen. Damit wird die strukturelle Unbestimmtheit der Demokratie unterschlagen und die Tatsache, dass sie folglich ein instabiles Regime darstellt, das ständig seine eigenen Aporien erforscht. Ich selbst habe diese Bezeichnung in meinen allerersten Schriften zu diesem Thema verwendet. Vergleiche zum Beispiel meinen Artikel »Penser le populisme«, Le Monde, 22. Juli 2011.