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Die polarisierte Demokratie
ОглавлениеDie Regierung der Richter – dieser Ausdruck wurde häufig verwendet um zu stigmatisieren, was als Bedrohung empfunden wurde: das Erstarken einer Judikative, die in vielen Demokratien immer unabhängiger geworden ist. Diese Unabhängigkeit wird in besonderem Maße angeprangert, wenn sie sich in einer Rechtsprechung äußert, die das Gesetz durch seine Interpretation präzisiert. »Die Richter sind dazu da, das Gesetz anzuwenden, nicht um es zu erfinden, nicht um dem Willen des Volkes zu hintertreiben, nicht um an die Stelle des Gesetzgebers zu treten. Ein öffentliches Amt darf seinen Inhaber nicht dazu autorisieren, sich eine Macht anzueignen«, schimpfte beispielsweise Marine Le Pen.6 Manche schrecken nicht einmal vor dem Begriff der »Juridiktatur« zurück, um die Unabhängigkeit der Justiz und die erweiterten Kompetenzen des Verfasssungsgerichts in Frankreich zu benennen,7 und betrachten die Rechtsstaatlichkeit als »zentralen Irrtum« der heutigen Demokratien. Der Gegensatz zwischen Recht und Demokratie ist nicht neu. Er wurde in der Amerikanischen und der Französischen Revolution ausgiebig diskutiert und veranlasste die Mitglieder der Constituante dazu, 1790 das Prinzip der Wählbarkeit von Richtern einzuführen (die anschließend wieder aufgehoben wurde, aber das ganze 19. Jahrhundert eine republikanische Forderung blieb). Zahlreiche amerikanische Bundesstaaten instituierten ihrerseits Mechanismen der Richterwahl, ein System, das noch heute in Kraft ist.8 Doch dieser Gegensatz wurde in der populistischen Sicht radikalisiert. Ihr zufolge ist das Mindeste, was man sagen könne, dass die Justiz sich nur auf eine rein funktionelle Legitimität berufen könne, dass ihr demokratischer Status ein sekundärer sei im Vergleich zu dem der Mandatsträger, die den Segen öffentlicher Wahlen erhalten hätten. Man kann in diesem Fall von einer polarisierten Sicht der Legitimität und der demokratischen Institutionen sprechen, bei der die Wahl zugleich als einziges Mittel des demokratischen Ausdrucks fungiert (was zu der Annahme führt, dass Demokratie im Wesentlichen eine Verfahrensregel sei und keine substanzielle Dimension besitze, die beispielsweise die Qualität einer Institution und ihres Funktionierens charakterisiert).
Dieses Demokratieverständnis hat sich in populistischen Regimen vornehmlich in der Gängelung, wenn nicht Abschaffung unabhängiger Behörden geäußert, wofür die Beschneidung des Zuständigkeitsbereichs der Verfasssungsgerichte das eklatanteste Beispiel darstellt. Bis in die Europäische Union hinein, wo die neue ungarische Verfassung von 2011 für Furore sorgte, so stark waren die Befugnisse des Verfassungsgerichts in der von Victor Orbán initiierten und intellektuell gerechtfertigten Neufassung beschnitten. Auf anderem Wege wurde die Unabhängigkeit dieser Institution auch in Polen ernsthaft gefährdet. Ihre heftige Kritik durch die Brüsseler Instanzen war für diese Länder kein Anlass, einen Rückzieher zu machen. Vielmehr verteidigten sie sich damit, auf diese Weise in besonderem Maße der Volkssouveränität zu dienen. Die weitreichenden Kompetenzen, die ihren Verfassungsgerichten im Moment des postkommunistischen Übergangs zuerkannt worden wären, hätten in einer gefestigten Demokratie, in der das Volk wahrhaft souverän geworden sei, keine Berechtigung mehr. Ähnliche Prozesse fanden in Bolivien und Venezuela, sowie in der Türkei und in Russland statt (es sei erwähnt, dass in letzterem Land der Begriff der »souveränen Demokratie« geprägt wurde, um diesen Polarisierungsmechanismus zu benennen9).