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EINLEITUNG DEN POPULISMUS DENKEN

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Der Populismus revolutioniert die Politik des 21. Jahrhunderts. Doch das wahre Ausmaß der von ihm bewirkten Umwälzung haben wir noch nicht erfasst. Das Wort mag allgegenwärtig sein, die Theorie des Phänomens hingegen findet sich nirgendwo. In ihm verbindet sich ein Gefühl intuitiver Selbstverständlichkeit mit einer Form von Unbestimmtheit. Davon zeugt in erster Linie das semantische Changieren, das seinen Gebrauch charakterisiert. Denn es handelt sich zweifellos um einen sehr dehnbaren Begriff, seiner chaotischen Verwendung nach zu urteilen. Auch einen paradoxen Begriff, denn er hat zumeist eine abwertende und negative Konnotation, während er sich von dem ableitet, was im positiven Sinne das demokratische Leben begründet. Es ist ferner ein projektiver Begriff, denn er versieht mit einem einzigen Label eine ganze Reihe politischer Umbrüche der Jetztzeit, die es in ihrer Komplexität und ihren tieferen Ursachen zu erfassen gälte. Ist es beispielsweise sachdienlich, den gleichen Ausdruck zu verwenden, um Chávez’ Venezuela, Orbáns Ungarn oder Dutertes Philippinen zu bezeichnen, ganz zu schweigen von einer Figur wie Trump? Macht es Sinn, die Spanier von Podemos und La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon mit den Kumpanen von Marine Le Pen, Matteo Salvini oder Nigel Farage in einen Topf zu werfen? Verstehen heißt nämlich, zu unterscheiden und folglich vereinfachenden Gleichsetzungen zu widerstehen. Schließlich ist Populismus ein zweifelhafter Begriff, denn er dient häufig nur dazu, Gegner zu stigmatisieren oder unter neuem Namen den alten Überlegenheitsanspruch der Mächtigen und Gebildeten gegenüber den unteren Schichten zu legitimieren, denen stets unterstellt wird, sich in einen von seinen dunklen Trieben beherrschten Pöbel verwandeln zu wollen. Man kann die Frage des Populismus nicht erörtern, ohne diesen Befund im Kopf zu behalten, denn er stellt eine Art Warnung dar, sowie eine Aufforderung, bei der Behandlung des Themas politischen Scharfblick und geistige Strenge walten zu lassen.

Diese Notwendigkeit, auf die Fallstricke zu achten, die der Begriff »Populismus« bereithält, darf allerdings nicht dazu führen, ganz auf ihn zu verzichten. Und zwar aus zwei Gründen. Zunächst einmal, weil er sich gerade in seiner Verworrenheit als unumgänglich erwiesen hat. Wenn er trotz all der von uns erwähnten Vorbehalte immer noch in aller Munde ist, dann auch deshalb, weil er, auf zugleich unbestimmte und nachdrückliche Weise, dem Bedürfnis entsprach, eine neue Sprache für eine neue Dimension des politischen Zyklus zu verwenden, der sich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert aufgetan hat; und weil er in dieser Eigenschaft bisher ohne Konkurrenz ist. Ein politischer Zyklus, den manche als dringende gesellschaftliche Erwartung nach Neubelebung des demokratischen Projekts durch Rückkehr zu einer aktiveren Form von Volkssouveränität beschreiben, während andere in ihm umgekehrt die Vorzeichen für eine drohende Destabilisierung dieses Projekts erkennen. Doch das zweite und entscheidende Faktum ist, dass der Begriff letztlich von jenen Politikern mit Stolz übernommen wurde, die seine Verwender in einem denunziatorischen Sinne hatten an den Pranger stellen wollen.1 Es gibt eine lange Liste von Persönlichkeiten der Rechten und extremen Rechten, die das Stigma umzukehren versuchten, indem sie zunächst behaupteten, das Wort »mache ihnen keine Angst«, bevor sie es sich selbst nach und nach aneigneten. Ähnlich verlief die Entwicklung auf der Linken, wie auf exemplarische Weise Jean-Luc Mélenchon bezeugt. »Ich habe überhaupt keine Lust, mich gegen den Vorwurf des Populismus zu wehren«, sagte er schon 2010. »Das ist der Hochmut der Eliten. Sollen sie doch alle abhauen! Populist, ich? Meinetwegen.«2 Die Tatsache, dass einige Intellektuelle zu Befürwortern eines »linken Populismus« geworden sind, hat ebenfalls sehr dazu beigetragen, dem Begriff genug Festigkeit zu geben und ihn in den politischen Sprachgebrauch eingehen zu lassen. Die Stellungnahmen und Schriften von Wendy Brown, Nancy Fraser, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe waren in dieser Hinsicht einflussreich, indem sie dazu anregten, den Begriff beizubehalten und seine Aussagekraft anzuerkennen.

Das Jahrhundert des Populismus

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