Читать книгу Das Jahrhundert des Populismus - Pierre Rosanvallon - Страница 17

Der Kult des Referendums und das Lob der direkten Demokratie

Оглавление

In Frankreich machte der Front national seit Mitte der 1980er Jahre, mit dem Beginn seines Erfolgs an den Wahlurnen, die Ausweitung von Volksabstimmungsverfahren zu einem seiner wichtigsten Kampagnenthemen. Jean-Marie Le Pen rief seinerzeit zu einer »echten französischen Revolution« auf und sprach von einer notwendigen »Erweiterung der Demokratie« in diesem Sinne, um »dem Volk das Wort zu erteilen«.2 Er beschrieb das Referendum als »vollkommensten Ausdruck der Demokratie« und wünschte sich zugleich die Einführung einer besonderen Form, eines »Veto-Referendums«, das dem Volk ermöglichen sollte, das »Inkrafttreten im Parlament beschlossener, aber von ihm missbilligter Gesetze zu verhindern«.3 Einige Jahre später, in seinem Programm für die Parlamentswahlen von 1997, präzisierte der Front seinen Vorschlag, das Referendum zu erweitern, dahingehend, »das französische Volk aus dem Zugriff der politischen Klasse zu befreien«. Ein solches »Volksbegehren« sollte den Bürgern ermöglichen, selbst zu entscheiden, welche Themen ihnen zur Beurteilung vorgelegt werden.4

Die Intellektuellenzirkel, die in dieser Zeit den Aufstieg des Front begleiteten, wie der Club de l’Horologe oder GRECE, beteiligten sich an dieser Glorifizierung der direkten Demokratie, indem sie diese mit der Schweizer Tradition in Verbindung brachten, dem Vorbild einer in ihren Traditionen verwurzelten Demokratie, die großen Wert darauf legte, sich nicht durch fremde Organe entstellen zu lassen. Durch die direkte Demokratie habe das Land sich, ihrer Meinung nach, vor missbräuchlichen Steuern und Masseneinwanderung schützen können.5 Der direkte Appell an das Volk wurde so als Mittel präsentiert, um sich alter politisch-oligarchischer Eliten zu entledigen und gleichzeitig der Gefahr einer Invasion durch »nicht assimilierbare« Migrant*innen vorzubeugen – das traditionelle Repräsentativsystem wurde damit auf eine Art Vorgeschichte der Demokratie zurückgestuft. Alle populistischen Bewegungen übernahmen in der Folge diese Sicht der direkten Demokratie als in ihren Augen wirksames Instrument zur Ausgrenzung korrupter und unfähiger Eliten durch ein unverdorbenes und vollkommen souveränes Volk. Das Referendum weist überdies eine starke performative Besonderheit auf, da mit ihm die Wortergreifung vermeintlich einen unmittelbar tätigen Willen zum Ausdruck bringt, ganz im Gegensatz zu dem ewigen parlamentarischen Hin und Her.

Die Umgehung des Referendums von 2005 über das europäische Verfassungsprojekt durch die parlamentarische Ratifizierung des Lissabonner Vertrages hat in Frankreich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wollte man den Beginn der sich ausbreitenden populistischen Welle bestimmen, wäre sicherlich dieses symbolische Datum zu nennen. Die Betonung des demokratischen Charakters von Volksabstimmungen wurde seither immer wieder der Neigung des parlamentarisch-repräsentativen Systems entgegengehalten, die Volkssouveränität in Beschlag zu nehmen. Elf Jahre später wurde in Großbritannien die Option der Bevölkerung für den Brexit in vergleichbarer Weise mit den gegenteiligen Bestrebungen der Parlamentsmehrheit kontrastiert. In ganz Europa ist ein wachsendes Interesse populistischer Kreise für die Schweizer Verfahren der Volksinitiative und der Volksabstimmung zu verzeichnen, mit denen es Christoph Blochers SVP wiederholt gelungen ist, dem Land seine Debatten aufzuzwingen. Politische Regime wiederum haben in allen Teilen der Welt häufig zum Mittel des Referendums gegriffen, um ihre Legitimität zu stärken sowie, in den meisten Fällen, die Befugnisse der Exekutive zu erweitern. Referenden nehmen somit oft den Charakter von Plebisziten an. Doch diese Frage ist in rechts- wie in linkspopulistische Zirkeln kaum je reflektiert worden, so tief ist bei ihnen die Überzeugung von der demokratischen Mustergültigkeit dieses Verfahrens verankert.

Das Jahrhundert des Populismus

Подняться наверх