Читать книгу Das Jahrhundert des Populismus - Pierre Rosanvallon - Страница 16

2Eine Demokratietheorie: direkt, polarisiert, unmittelbar

Оглавление

Die Populismen sehen sich selbst in der Perspektive einer demokratischen Erneuerung. Sie machen deshalb den bestehenden Demokratien, der Art, wie sie praktisch und theoretisch konzipiert sind, den Prozess. Demokratien, die man als liberal-repräsentative bezeichnen könnte. Liberal, insofern sie Verfahren und Institutionen eingeführt haben, um der Gefahr von Mehrheitstyranneien vorzubeugen, indem sie der Garantie der persönlichen Integrität und Autonomie einen zentralen Stellenwert einräumen. Es handelt sich in den meisten Ländern um verfassungsrechtliche Bestimmungen zur Wahrung der Individualrechte und zur Einschränkung der gesetzgebenden Macht oder um unabhängige Behörden zur Kontrolle der Exekutive oder sogar zur Ausübung mancher ihrer Befugnisse. Repräsentativ, weil sie auf dem Gedanken einer Volksmacht beruhen, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf den Prozess der Selektion und Bestätigung der Verantwortlichen durch Wahlen beschränkt. Das populistische Demokrativerständnis versucht, eine Alternative zu dieser Auffassung zu entwerfen, und zwar auf Grundlage der Infragestellung dieser beiden als reduktionistisch beurteilten Interpretationen des demokratischen Ideals.

Ein Viktor Orbán oder ein Wladimir Putin haben sich wiederholt als Befürworter eines Bruchs mit der liberalen Demokratie präsentiert, gemäß der Annahme, dass heute ein offener Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Auffassungen des demokratischen Projekts existiert. Auf theoretischer Ebene hat Chantal Mouffe, mit dem Appell, zu verstehen, »dass liberale Demokratie aus der Artikulation zweier Logiken resultiert, die in letzter Instanz inkompatibel sind«1, dazu aufgefordert, Demokratie nicht mehr nur mit Rechtsstaat und Verteidigung der Menschenrechte gleichzusetzen – wie es in ihren Augen der Neoliberalismus tut –, sondern das Prinzip der kollektiven Souveränität in den Vordergrund zu stellen. Daher rührt der Zusammenhang zwischen dem Streben nach populistischer Radikalisierung der Demokratie und der intellektuellen Stigmatisierung einer gesellschaftlichen und »menschenrechtlichen« Sichtweise, die beschuldigt wird, einen Kult des Individuums und der Minderheiten zu betreiben, auf Kosten des Bemühens um Stärkung der Volkssouveränität. Daher rührt ebenfalls die theoretische Aufwertung des Illiberalismus des populistischen Projekts als Voraussetzung einer authentischeren Demokratie (auf diesen Punkt werden wir im letzten Teil dieses Werkes ausführlich eingehen).

Die populistische Auffassung von Demokratie weist in diesem Sinne drei Charakteristika auf. Sie versucht zunächst, die direkte Demokratie zu privilegieren, vor allem durch die Vermehrung von Volksabstimmungen; sie vertritt ferner das Projekt einer polarisierten Demokratie, indem sie den undemokratischen Charakter nicht gewählter Behörden und Verfassungsgerichte kritisiert. Sie glorifiziert schließlich, und das ist der Kernpunkt, eine unmittelbare und spontane Auffassung des Volksausdrucks.

Das Jahrhundert des Populismus

Подняться наверх