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Wenn der Schmerz zur Dauerschleife wird

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Ein akuter Schmerz hält nur eine bestimmte Zeit lang an. Er geht vorüber, wenn die schmerzauslösende, klar erkennbare Ursache behoben wurde und der Heilungsprozess weitgehend abgeschlossen ist. Ausmaß und Intensität des Schmerzes stehen in direkter Beziehung zum Verletzungsgrad oder der Erkrankung. Beim chronischen Schmerz ist das anders, denn dann hat sich der Schmerz verselbstständigt und dauert bereits über drei Monate an. Eine enge Beziehung zwischen Schmerz und Schmerzursache muss es nicht mehr geben oder sie ist nicht mehr erkennbar.

Die Neurobiologie bietet dafür schlüssige Erklärungsmodelle: Bei chronischen Schmerzen kommt es zu Veränderungen der „Schmerzreizleitung“ (siehe „Wie Schmerz entsteht“). Zum einen wird die Verbindung zwischen den Synapsen im Rückenmark-Hinterhorn weiter ausgebaut und dadurch dauerhaft „scharfgeschaltet“. Experten sprechen auch vom Schmerzgedächtnis. Hinzu kommt, dass sogenannte hemmende Neuronen, die eine Art Wächterfunktion im Rückenmark übernehmen und entscheiden, ob eine Schmerzinformation weiter an das Gehirn geleitet wird oder nicht, bei chronischen Schmerzen häufig außer Kraft gesetzt sind. Im Ergebnis kommt es zur „Dauerdurchlässigkeit“ des Schmerzsystems oder auch zu spontaner Aktivität, also zu Schmerzimpulsen ohne einen Schmerzreiz. Der Schmerz wird zu einer eigenständigen Krankheit und ist kein Symptom oder keine Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung mehr.

Besonders problematisch ist, wenn der Schmerz durch eine Schädigung der Nervenstrukturen hervorgerufen wird (siehe Kapitel 2, Nervenschmerzen). Die führt dazu, dass die Nerven neue Schmerzkanäle bilden, die betroffene Region noch empfindlicher wird und der Schmerz sich verselbstständigt. Der Schmerzforscher Lorimer Moseley vergleicht das schmerzende Körpergewebe dann mit einem VW-Käfer, in dem man einen Ferrarimotor eingebaut hat: Während das Auto sonst lange brauchte, um auf Touren zu kommen, schießt es nun direkt los und beschleunigt bereits bei der zartesten Berührung des Gaspedals. Genauso wird der Schmerzreiz in Richtung Gehirn beschleunigt und die Schmerzkanäle allmählich zu „Schmerzautobahnen“ ausgebaut. Auch das Gehirn verändert sich durch die Schmerzerfahrungen und wird schmerzempfindlicher. In den sogenannten Schmerzknotenpunkten im Gehirn werden mehr Sensoren gebildet, die Schmerzen wahrnehmen. Außerdem werden Stoffe ausgeschüttet, die diese Schmerzknoten aktivieren. Das Gehirn wird durch die Schmerzerfahrung besonders hellhörig für Schmerz, und kleinste Reize lösen dann bereits wieder Schmerz aus.

Das Handbuch gegen den Schmerz

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