Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 11
Nie bringt er mir Blumen mit
Оглавление»Mein Mann hat mir noch nie Blumen mitgebracht.« Angela L. versuchte ein Lächeln. Die anderen hatten sie heute ausgewählt, weil sie bisher in der Gruppe eher still gewesen war und keiner so recht wusste, was sie überhaupt herführte. Sie wirkte schüchtern, aber auch mitfühlend. Sie trug unauffällige Kleidung, ihre Brillen waren farblich darauf abgestimmt. In ihrem warmherzigen Blick fühlte man sich aufgehoben.
Sie sei sehr unglücklich in ihrer Ehe, erklärte sie uns, obwohl es eigentlich keinen Grund gebe. Die Tochter sei aus dem Haus, und materiell gehe es ihr sehr gut. Die gemeinsame Firma, in der sie die Buchhaltung mache, laufe hervorragend. Dennoch fehle ihr etwas. Zum Beispiel bekäme sie an Geburtstagen nie etwas geschenkt. Ein entsetztes Raunen ging durch die Gruppe.
»›Wir haben doch alles‹, sagt er immer.« Frau L. blickte auf ihre Hände hinab, als sei es ihr peinlich, dass ein fehlendes Geburtstagsgeschenk das Glück ihrer Ehe zerstörte.
»Aber doch wenigstens Blumen?«, erkundigte sich ihr Sitznachbar Andreas H.
Angela L. schüttelte den Kopf. »Nein, die gab es in den 27 Jahren unserer Ehe noch nie.« Sie flüsterte fast, und alle in der Gruppe schenkten ihr mitfühlende Blicke.
»Vielleicht müssen Sie ihm das einfach mal sagen«, meinte schließlich Andreas H., dessen Probleme wir bereits in der Runde diskutiert hatten und der während der letzten Wochen immer besser gelernt hatte, für seine Wünsche einzutreten und sie auszudrücken, worin das erklärte Ziel dieser Gruppe bestand.
»Nein, so was kann ich nicht. Ich hab ihn noch nie um Blumen gebeten.« In Angela L.s Stimme schwangen Stolz und Trauer gleichermaßen.
»Und wenn Sie es einmal versuchen?«, hakte Herr H. nach. »Was würde Ihr Mann dann sagen?«
Angela L. dachte kurz nach und wischte dabei mehrfach mit der Hand übers Hosenbein, als würde sie Krümel wegfegen. »Das ergibt einfach keinen Sinn. Wenn ich meinen Mann bitten würde, mir Blumen mitzubringen, würde er nur fragen, welche Sorte ich wolle, und am nächsten Tag stünden sie auf dem Tisch. Aber darum geht es mir doch gar nicht.«
»Ich glaube ebenfalls, dass es Ihnen nicht um die Blumen geht«, sagte ich, »die könnten Sie sich viel gezielter selbst kaufen. Wissen Sie denn, worum es Ihnen tatsächlich geht? Sonst könnten wir das auch im Dienste der Gruppe, der es vielleicht ganz ähnlich geht, gemeinsam ergründen.«
Angela L. musste nicht lange überlegen. »Es geht mir darum, dass er sich endlich mal fragt, was ich eigentlich will und brauche. Immer nur dreht sich alles um ihn oder die Firma. Nie um mich!«, entfuhr es ihr heftiger, als sie offenbar wollte, denn sie zuckte selbst zusammen. Gefasster fuhr sie fort: »Die Blumen kann ich mir tatsächlich selbst besorgen.« Sie seufzte. »Wenn er mich doch nur einmal mit etwas überraschen würde, wonach ich mich schon lange sehne! Aber darauf kann ich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Da kommt nichts.« Sie öffnete die Hände, als würde sie Luft wegwerfen.
Eine Weile sagte niemand etwas. Dann meinte eine Enddreißigerin, die früh ihre Eltern verloren hatte: »Tja, wenn ich meinem Mann jemals erzählt hätte, wie sehr ich mich danach sehne, dass er mich heiratet, wäre ich vermutlich heute noch ohne Ehering. Ich habe einfach gewartet, jahrelang, und ihm niemals von meinem Wunsch erzählt. Das war echt schwer und tat manchmal auch weh. Und dann machte er mir doch noch eines Tages einen Heiratsantrag. Ich glaube, wenn ich ihn ständig damit konfrontiert hätte, wäre er davongelaufen. Oder ich hätte das Gefühl gehabt, es sei nicht aus seinem eigenen Drang heraus geschehen. Aber ich weiß nicht, ob das für jeden so gilt …«
»Meine Ex-Frau wollte eigentlich gern von mir verführt werden«, sagte ein Mann mit Glatze. »Das hab ich leider zu spät begriffen. Erst als sie weg war. Stattdessen habe ich mich immer von ihr verführen lassen, wenn ich Sex haben wollte. Ich habe mich einfach nicht getraut, die Initiative zu ergreifen.«
Ratlose Stille senkte sich über die Gruppe.
»Es gibt diesbezüglich tatsächlich keine einfache Erklärung oder ein klares Vorgehen«, unterbrach ich das Schweigen, als es allmählich unangenehm wurde. »Fakt ist: Auch als aktive und selbstständige Erwachsene haben wir noch Wünsche und möchten manchmal umsorgt werden wie bei einer guten Mutter, die spürt, was ihr Kind braucht, solange es das noch nicht äußern kann. Das ist die Krux daran, denn wenn wir einen solchen Wunsch nach Fürsorge äußern würden, wäre die Aussicht auf seine Erfüllung zerstört. Schließlich wollen wir ja erleben, dass sich der andere in uns einfühlt und sich engagiert. Die große Frage lautet also: Wie kann man jemanden dazu bringen, solche sogenannten passiven Wünsche in uns zu erfüllen, die wir ausdrücklich nicht kommunizieren wollen?«
Der letzte Satz löste eine leidenschaftliche Diskussion in der Gruppe über verschiedene passive Wünsche und mögliche Szenarien aus. Auch in Bezug auf Angela L.
»Wir tun uns alle schwer, wenn es darum geht, für unsere verborgenen Wünsche einzutreten, ohne dass wir sie aussprechen dürfen. Lasst es uns mal probieren!«, schlug ich irgendwann vor.
Wir malten uns aus, wie das Paar L. an einem Blumenladen vorbeigeht und sie beiläufig von den tollen Tulpen schwärmt. Ob es funktionieren würde, ihren Mann insgeheim zum Kauf anzuregen und ihr trotzdem das Gefühl zu geben, es sei seine Initiative gewesen? Jeweils zwei Gruppenmitglieder spielten der Klientin die Sequenz in verschiedenen Varianten vor, während sie selbst nur zuschaute.
Der anfänglich zähe Verlauf dieses Gruppenabends lockerte sich dabei sichtlich auf. Es gab großes Gelächter, zumal ab der Hälfte der Varianten einige aus der Gruppe sich als verlockende Tulpen, Narzissen und Anemonen zur Verfügung stellten. Ich bot mich als winkender Verkäufer an. Mitten im größten Blumenzauber hielten wir jedoch plötzlich betroffen inne, als wir sahen, dass über Angela L.s Gesicht Tränen liefen.
Ich setzte mich neben sie. »Sie werden gerade sehr traurig, oder?! Was von dem, was Sie gesehen haben, hat Sie so traurig gemacht?«
Sie brauchte eine Weile, bis sie sprechen konnte. Umständlich holte sie ein Stofftaschentuch aus ihrer Tasche und wischte sich die Tränen ab. »Eigentlich bin ich nicht diese Frau, die da am Laden vorbeigeht«, sie zeigte auf ihr Double, »sondern ich bin …« Angela L. schluchzte auf. »Ich bin …«, mit zitternder Hand zeigte sie auf Ellen H., die eine Margerite spielte, »eine von diesen Blumen …« Frau L.s Gesicht verschwamm unter den Tränen. Doch sie redete weiter: »Was muss ich eigentlich tun, um von diesem Menschen«, sie deutete auf den Teilnehmer, der ihren Mann verkörpert hatte, »gesehen zu werden, statt dass er einfach immer nur an mir vorbeiläuft?«