Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 12
Messie auf Zeit
Оглавление»Es sah schrecklich aus. Sie können sich das gar nicht vorstellen!«, erzählten zwei Familienhelfer, ein Mann und eine Frau, die ich gelegentlich beriet und die mich aufgrund einer akuten Notsituation am Sonntagabend angerufen und um eine außerordentliche Supervision gebeten hatten. Ich lud sie für den nächsten Morgen, noch vor meinen regulären Behandlungen, in meine Praxis ein.
Der Mann, Herr T., war sichtlich erregt, gestikulierte wild beim Sprechen. »Volle, leere oder nur halb ausgepackte Kartons, schmutziges Geschirr mit vergammelten Essensresten, leere Flaschen, ungewaschene Wäsche, Berge von ungeöffneter Post. Alles stapelte sich zu einem einzigen Durcheinander.« Er fuhr sich durch das zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene Haar und stieß mit dem Zeigefinger vor sich in die Luft. »Auch die Dusche war vollkommen verdreckt. Und dabei haben wir schon so viel versucht bei dieser Frau!« Bislang hatte er weit vorgebeugt auf seinem Stuhl gesessen, nun ließ er sich zurückfallen und stieß einen frustrierten Laut aus.
Ich hatte bereits ab und zu mit den beiden Familienhelfern zu tun gehabt und Herrn T. und seine Kollegin Frau P., eine drahtige Blonde in Lederjacke, bei einigen scheinbar aussichtslosen Fällen beraten. Meist hatten wir eine sinnvolle Lösung gefunden, und die beiden wirkten stets warmherzig und optimistisch zupackend auf mich.
Für die Betroffenen spielen Familienhelfer eine wichtige Rolle. Sie kümmern sich um die Betreuung und Pflege der Kinder und die Unterstützung der Familien in Krisensituationen. Oberste Prämisse bei ihrem Job ist es, zur Stabilisierung der jeweiligen Situation beizutragen. Hilfe zur Selbsthilfe steht dabei im Mittelpunkt. Den betreuten Familien soll ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben in ihrem gewohnten sozialen Umfeld ermöglicht werden. Dazu üben Familienhelfer ihren Job direkt vor Ort aus, im Zuhause der Betroffenen. Das erfordert ein dickes Fell, denn nicht immer ist das, was sich innerhalb der Familien abspielt, schön anzusehen. Meist stammen Familienhelfer selbst aus schwierigen Umfeldern und engagieren sich, weil sie ähnliche Erfahrungen wie ihre Klienten gemacht haben und wenigstens deren Situation verbessern wollen. Einen Achtstundentag haben sie selten. Mitunter benötigen die Familien in der Nacht oder zu sehr früher oder sehr später Stunde Hilfe. Wenn die große Tochter randaliert, das Baby schreit, der Vater seit drei Tagen nicht zu Hause war und die Mutter das letzte Geld für Zigaretten statt für Babynahrung ausgegeben hat und nun ins Telefon heult, weil sie nicht weiß, wo ihr der Kopf steht, dann verweist man nicht auf Feierabend.
Manchmal, wenn die Helfer nicht weiterkommen in ihren Interventionen, suchen sie mich als beratenden Supervisor auf. In diesem Fall ging es um eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern von drei und fünf Jahren, die aus prekären Verhältnissen kam und in einem Supermarkt an der Kasse arbeitete.
»So schlimm haben wir es uns einfach nicht vorgestellt nach all unserem Bemühen bisher. Überall lag Spielzeug herum«, ergänzte Frau P. die Schilderungen ihres Kollegen, »als hätte sie grundsätzlich aufgehört, die Wohnung aufzuräumen. Zigarettenstummel lagen auf Tellern oder in Tassen, von den Kindern ausgeschüttete Nudeln verstreut, benutzte Windeln quollen aus dem Müll. Es stank fürchterlich. Und mittendrin die Kinder … Wir haben wirklich alles versucht!« Beide Familienhelfer schüttelten ratlos den Kopf.
Ich fragte nach, wie lange sie die Frau schon betreuten. Sechs Monate zuvor habe das Jugendamt sie beide als Familienhelfer eingesetzt, erzählte Herr T., um das Wohl der Kinder zu sichern. Bereits damals sei die Wohnung der Mutter völlig verwahrlost gewesen, und das Jugendamt hatte angekündigt, sie erneut zu begutachten.
»Am Mittwoch, also in zwei Tagen, steht das Jugendamt wieder vor der Tür. Und wenn es immer noch so aussieht, nehmen sie die Kinder sofort mit, kündigte uns die Sozialarbeiterin an.« Frau P. seufzte. »Dabei schien es so gut zu laufen!«
Glaubhaft beteuerten die Familienhelfer, sie hätten in den letzten Monaten alles dafür getan, um im Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe in vielen Gesprächen die Mutter zu größerem Engagement für die Wohnung zu gewinnen.
»Wir haben Listen erstellt mit kleinen Zielen, von denen wir alle glaubten, dass sie sie erreichen könnte. Erst mal nur in einem Raum anfangen oder sich angewöhnen, nach dem Essen direkt zu spülen, damit sich das Geschirr gar nicht erst zu einem Berg auftürmen kann. Solche Sachen«, erläuterte Herr T. »Jedes Mal, wenn wir sie getroffen haben, sind wir die Listen durchgegangen und haben abgehakt, was sie geschafft hatte, und modifiziert, wenn etwas zu viel war.« Herr T. ließ den Kopf hängen. »Sie versicherte uns, dass es klappe.«
»Und wir haben ihr geglaubt. Irgendwie hat sie es geschafft, dass wir uns aus ständig neuen Gründen nur außerhalb der Wohnung mit ihr trafen«, sagte Frau P. verlegen und errötete leicht. »Sie war immer freundlich und zugewandt, wenn sie von den Kindern erzählte. Und manchmal waren die auch dabei, und die Mutter ging fürsorglich und liebevoll mit ihnen um. Auch waren sie ordentlich angezogen und sauber und wirkten weder hungrig noch übernächtigt oder so was.« Frau P. zuckte mit den Achseln.
Herr T. fuhr fort: »Allerdings wich sie uns zunehmend aus, wenn wir sie nach Fortschritten in ihrer Alltagsbewältigung befragten, und wirkte von Treffen zu Treffen verzagter.«
»Wir haben es nett versucht und ungeduldiger«, warf Frau P. ein. »Aber auf Druck reagiert sie nicht.«
Herr T. nickte. »Erwähnten wir die Drohung des Jugendamtes, machte sie völlig dicht. Gestern haben wir sie unangekündigt in ihrer Wohnung überraschen können, und nachdem sie uns erst den Weg versperrte, ließ sie uns schließlich rein. Tja, da haben wir gesehen, dass sich rein gar nichts geändert hat und die Wohnung genauso verwahrlost ist wie vor einem halben Jahr.« Er stöhnte resigniert auf.
»Ist die Mutter Alkoholikerin oder drogenabhängig?«, fragte ich, denn das ist der häufigste Grund, weshalb Menschen ihr Leben nicht mehr in den Griff bekommen. Entzug und die zeitweilige Trennung von Kindern und Eltern sind in einem solchen Fall oft der einzige Weg, um für das Wohlergehen der Kinder zu sorgen.
»Nein, nein«, sagte die Frau sofort. »Das ist es ja gerade. Die Frau geht wirklich sehr liebevoll mit ihren Kindern um. Sie will, dass es ihnen gut geht, und die Kinder machen einen ausgeglichenen und herzlich behandelten Eindruck.«
»Ja, es ist wirklich merkwürdig«, meinte Herr T. und schlug seine Fäuste aufeinander, sichtlich entnervt von der Situation. »Sie vernachlässigt ausschließlich die Wohnung, sonst bekommt sie alles hin. Das passt nicht zusammen! Wir haben sogar schon überlegt, ob sie es insgeheim darauf anlegt, die Kinder zu verlieren, und deshalb die Wohnung so verlottern lässt. Aber dafür ist sie viel zu liebevoll mit ihnen verbunden. Oder sie packt es einfach nicht.« Er zog die Schultern nach oben und ließ sie seufzend wieder fallen.
Welche psychische Dynamik ging wohl in der beschriebenen Frau vor, fragte ich mich. Innerlich zählte ich mir noch einmal alle Details des Gesagten auf und vermutete, dass es sich in diesem Fall um das Phänomen »passiver Wünsche« handelte. Während ich als Psychologe in verschiedenen Kliniken arbeitete, wo man einen Patienten lediglich für eine kurze Dauer betreut, statt ihn mit einer Langzeittherapie über Monate oder sogar Jahre zu begleiten, war mein Gehirn regelrecht darauf trainiert worden, schnell die unbewusste Dynamik des Patienten zu erfassen und gezielte Kurzzeitinterventionen anzuwenden. Das hilft mir bis heute, gerade auch in meiner Rolle als Supervisor für Sozialträger oder sozialpsychiatrische Dienste.
»Hilfe zur Selbsthilfe ist eine gute Sache«, erklärte ich den beiden Familienbegleitern. »Und meist ist das auch der richtige Weg. Und doch gibt es Ausnahmen, die die Regel bestätigen, und ich denke, bei dieser Frau könnte es so sein. Wenn ich mich in die Klientin hineinversetze, so muss sie sich seit Jahren um alles allein kümmern, das Geld, die Kinder, die Wohnung … Dann schickt das Jugendamt auch noch Mitarbeiter, die ihr jede Woche Druck machen, darum müsse sie sich aber bitte auch noch kümmern, sonst, sonst, sonst … Was meinen Sie, passiert dadurch in ihr?« Ich sah Herrn T. und Frau P. an, die einen Blick wechselten und schließlich die Achseln zuckten. »Das innere Kind in ihr sehnt sich danach, selbst umsorgt zu werden, es schreit geradezu danach. Das hört aber niemand. Deshalb funktioniert nach so vielen Jahren dieses ›Kümmere dich doch endlich mal darum!‹ manchmal einfach nicht mehr. Ehe diese Frau nicht ebenfalls mal umsorgt wird, indem jemand hineinfühlt, was sie braucht, wird sie nicht anfangen, zu Hause aufzuräumen.«
»Sie meinen, wir sollen die Wohnung für sie sauber machen?«, fragte Frau P. und machte ein ungläubiges Gesicht. »Noch ehe das Amt übermorgen kommt?«
»Das wäre schon wieder zu viel«, erwiderte ich. »Wenn Sie Menschen ihre Aufgaben komplett abnehmen, macht das schnell passiv.«
Herr T. fuhr sich nachdenklich über das Kinn. Dann sagte er: »Also sollten wir mit ihr zusammen die Wohnung in Ordnung bringen, denken Sie?«
»Ja, das könnte ein einmaliges Experiment werden.«
»Hm.« Herr T. blieb skeptisch. »Kürzlich halfen wir einer Frau, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte und den Kopf in den Sand steckte, statt den Umzug zu organisieren. Sie ist dann einfach bei einer Freundin abgestiegen und kümmert sich seitdem um gar nichts mehr. Seit Monaten hockt die nun schon bei ihrer Gönnerin, der das gar nicht guttut, und steckt wieder den Kopf in den Sand und sagt: ›Ick hab’s doch jut hier!‹ …«
»Ja, das ist ein gutes Beispiel für falsche Erfüllung von passiver Erwartungshaltung. Gehen Sie den mittleren Weg, indem Sie zu Ihrer Klientin sagen: ›Wir machen das alle zusammen. Sie und wir. Dann können wir uns gegenseitig anfeuern!‹«
Die beiden Familienhelfer sahen sich an. »Tja, einen Versuch wäre das zumindest wert«, sagte schließlich seufzend Herr T.
Seine Kollegin nickte. »Vielleicht ist das unsere letzte Chance.«
Sie verabredeten sich daraufhin mit der verblüfften Mutter für die nächsten zwei Abende, um nach der Arbeit zusammen die ganze Wohnung aufzuräumen und zu reinigen.
»Gott, war die dankbar!«, berichtete Frau P. mir danach. Endlich sei einmal richtig Grund in die Wohnung reingekommen, und sie habe Land gesehen. Als am Folgetag zwei Sozialarbeiterinnen des Jugendamtes erschienen und die Wohnung inspizierten, hätten sie nichts zu beanstanden gehabt, und die Kinder durften bei ihrer Mutter bleiben.
Das wirklich Spannende, ja sogar Spektakuläre an diesem Fall war aber, dass die Frau seitdem ihre Wohnung nie mehr verwahrlosen ließ. Es klingt banal, ist jedoch unglaublich elementar: Manchmal müssen Menschen nur einmal wieder selbst umsorgt werden, und schon löst sich die Blockade, die den eigenen Einsatz verhinderte.
Diese Geschichte zeigt sehr plastisch, wie radikal der Wunsch, selbst einmal Fürsorge zu erfahren, das eigene Tun blockieren kann. Zwar haben viele in dieser Weise Betroffene eine dauerhaft »passive Erwartungshaltung«, das heißt, wenn es nach ihnen ginge, würden sie jede Initiative und Mühsal anderen überlassen und grundsätzlich vollversorgt werden wollen. Doch gibt es eben auch Ausnahmen, die man im Blick haben sollte.
Lange Zeit hatte die alleinerziehende Mutter in ihrem einsamen Alltagskampf von allen Seiten immer nur Druck erfahren und sich im Stich gelassen gefühlt, bis sie die Fähigkeit verlor, für Ordnung zu sorgen. Wie sich herausstellte, brauchte sie nur einmal die Erfahrung, dass sich jemand ungefragt um sie kümmerte und sich hemdsärmelig für sie einsetzte, damit sie selbst wieder aktiv werden und sich um sich kümmern konnte.