Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 9

Nur zu deinem Besten

Оглавление

Thomas F. saß mit verschränkten Armen vor mir. Seine kleinen braunen Augen unter buschigen Brauen fixierten mich misstrauisch. Er hatte die Lederjacke anbehalten, als wäre er nur auf einen Sprung vorbeigekommen. Seine finstere Miene, so dachte ich sofort, war sicherlich ein Selbstschutz, der ihm aber gewiss jede Kontaktaufnahme erschwerte.

»Meine Freundin wollte, dass ich zu Ihnen komme«, verkündete er mürrisch. Er war ein großer, kräftiger Mann von 55 Jahren. Sein schwarzer Bart, den bereits ein paar graue Haare durchzogen, zwirbelte sich an den Mundwinkeln nach außen. In der Mitte des Kinnes lag ein Grübchen, das seinen insgesamt düsteren Anblick abschwächte.

Zum Einstieg erfragte ich wie üblich erst einmal ein paar biografische Details, die Thomas F. wortkarg preisgab. Immerhin erfuhr ich nach vielen Nachfragen einige mir wichtige Einzelheiten aus der Kindheit und dass er als Architekt eine kleine Firma gegründet hatte, die ihm ein mäßiges Einkommen bescherte. Er wäre gern erfolgreicher gewesen, sagte er. »Aber irgendwie mögen mich die Leute nicht so …«

»Wenn Sie allen gegenüber so mürrisch sind, kein Wunder«, wäre mir beinahe über die Lippen gekommen. Aber das gehörte sich natürlich nicht für einen Therapeuten, sodass ich seine Äußerung unkommentiert stehen ließ.

Weiter entnahm ich Herrn F.s Worten, dass er nach mehreren Partnerschaften, die mit einer ihm unverständlichen Regelmäßigkeit scheiterten, seit etwas mehr als einem Jahr mit einer zwölf Jahre jüngeren Frau liiert war. Allerdings drohte auch diese Partnerschaft zu zerbrechen.

»Sie sagen, Ihre Freundin hat Sie hergeschickt. Haben Sie denn auch ein eigenes Anliegen, weshalb Sie hier sind?«, fragte ich, nachdem ich die Bestandsaufnahme beendet hatte.

Thomas F. zögerte. »Na ja, meine Freundin wirft mir oft vor, dass ich mich nicht richtig auf unsere Beziehung einlasse«, fing er an zu erzählen wie jemand, der sich etwas vorgenommen hat und das jetzt durchziehen will. »Als hätte ich ’ne dicke Mauer um mich herum, durch die ich sie nicht durchließe. Sie fragt mich immer, ob ich sie überhaupt liebe. Und wenn ich dann sage: ›Na klar!‹, glaubt sie mir nicht.« Er schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Vielleicht hört Ihre Freundin nicht nur, was, sondern vor allem wie Sie es sagen!«, wandte ich ein.

Thomas F. sah mich stirnrunzelnd an. »Wie meinen Sie das: Wie ich es sage …?« Es fiel ihm offensichtlich schwer, meinen Einwand zu verstehen. »Am besten, ich sag ihr lieber gar nichts mehr.«

»Das macht es nicht leichter für Ihre Partnerin.«

Thomas F. lehnte sich nach hinten, löste die Verschränkung seiner Arme und ließ sie über die Lehne herabhängen. Er musterte mich abschätzig. »Sie sind wohl auch so ’n Frauenversteher …«

Ich verkniff mir eine Erwiderung, was ihn zu verunsichern schien. Draußen rauschte der Feierabendverkehr. Die Uhr tickte. Ich lehnte mich ebenfalls zurück. Manchmal bringt Schweigen etwas in Bewegung.

»Und ich wär nicht zärtlich genug«, unterbrach Thomas F. schließlich die Stille, die ihm wohl peinlich wurde. »Dabei hab ich sie gern … Sie ist die beste Frau, die ich bisher hatte«, fügte er nach einer weiteren Pause leise hinzu. Er schaute mich mit einem verrutschten Lächeln an, das mich in diesem Moment so berührte, wie seine Freundin sich das vermutlich oft vergebens wünschte.

»Lassen Sie vielleicht auch andere Menschen nicht an sich heran? Immerhin sitzen Sie hier ebenfalls, als seien Sie nur zufällig auf einen Sprung reingeraten.«

Thomas F. kniff die Augen zusammen, und ich dachte schon, er würde sich nun auch mir gegenüber verweigern. Dann murmelte er: »Eigentlich niemanden …«

Ich bemerkte ein Zittern, das seinen Körper durchzog, während sich die Hände zu Fäusten ballten, als wollte er etwas bekämpfen. Überrascht, dass er so schnell eine emotionale Reaktion zeigte, sah ich, dass er weinte.

Was hatte das tiefe Misstrauen anderen Menschen gegenüber ausgelöst? Ich wusste, dass Thomas F. auf dem Land in einem kleinen Dorf in Mecklenburg aufgewachsen war, und fragte ihn nach der Atmosphäre in seiner Familie. Seine Eltern seien schon recht alt gewesen, als er geboren wurde, erzählte er zögerlich. In der Kindheit hätten sie ihn und seine 14 Jahre ältere Schwester grob und ruppig behandelt.

»Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Schwester?«

Herrn F.s Gesicht leuchtete kurz auf, bevor es wieder zerknitterte. »Die war die Einzige, die mich mochte. Für meine Eltern war ich irgendwie Luft.«

In den nächsten Sitzungen vertiefte ich die Fragen nach Herrn F.s Kindheit und Jugend. Nachdem er mir anfangs mürrisch und knapp antwortete, tat es meinem Klienten zunehmend gut, über diese Zeit zu sprechen. Es schien ihm eine Last von den Schultern zu nehmen. Allerdings bewirkten unsere Gespräche kaum eine Veränderung in der Beziehung zu seiner Freundin. Inzwischen würde er zwar mehr erzählen über sich, meinte er. Aber wenn sie mehr wolle von ihm, ziehe er sich tagelang zurück, was sie sehr verletze.

»So eng, das macht mir Angst«, sagte er hilflos.

Ich sah es als einen ersten Therapiefortschritt, dass er nicht mehr an seinen Gefühlen zweifelte, sondern Angst vor ihnen spürte.

Eines Tages kam Herr F. sehr aufgewühlt in die Therapiesitzung. Er sah blass aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Offenbar schlief er schlecht. Sein Haar war ungekämmt, und er machte allgemein einen ungepflegten Eindruck.

»Meine Freundin will sich trennen«, sagte er mit brüchiger Stimme und ballte wieder seine Fäuste. »Wieso laufen mir bloß immer alle Frauen davon?«

Wir waren inzwischen zwar ein ganzes Stück weitergekommen, aber die Mauer, die Herr F. um seine Emotionalität errichtet hatte, stand noch. Offensichtlich brauchte mein Klient eine andere Technik als lediglich das Gespräch, um sie zu durchbrechen.

In meinen Interventionen arbeite ich mit verschiedenen Methoden, je nachdem was die Situation oder der Prozess des Klienten erfordert. Bisher hatte ich mich mit Thomas F. auf tiefenpsychologische Techniken konzentriert, fand es nun jedoch angebracht, aus meinem Fundus an verschiedenen therapeutischen Maßnahmen zu schöpfen. Die Möglichkeiten sind vielfältig, und es gibt einige, die über das Reden hinausgehen. Ich beschloss, bei Herrn F. eine Technik anzuwenden, mit der ich schon oft gute Erfahrungen gemacht hatte.

»Könnten Sie sich vorstellen, mit mir und anderen zusammen die emotionale Atmosphäre in Ihrer Familie mit der Methode des Psychodramas noch einmal zu durchleben, anstatt nur von ihr zu erzählen?«, fragte ich ihn. »Dabei verkörpern Sie gemeinsam mit von Ihnen ausgewählten Menschen Personen aus Ihrer Familie und dem Umfeld und stellen belastende Situationen aus Ihrer Kindheit nach. Sie durchleben sie noch einmal«, erklärte ich ihm diese Technik, die ich für seine Thematik für sinnvoll hielt. »Innerhalb des Spieles vollzieht sich eine innere Befreiung, die Sie Belastendes zwar erneut fühlen, aber auch in das erwachsene Ich integrieren lässt.«

Herr F. hatte mir aufmerksam zugehört und sagte, ohne lange zu zögern: »Ich habe Freunde, die für so etwas vielleicht zu haben sind.«

Diese Offenheit und schnelle Bereitschaft, sogar seine Freunde miteinzubeziehen, erstaunten mich. »Kennen die Ihre Geschichte?«

»Nee, warum auch?«

Ich überlegte kurz, ob mit diesem psychologischen Experiment eine Gefahr für den Zusammenhalt des Freundeskreises bestand, glaubte es nach Herrn F.s rascher Zusage jedoch nicht, und vereinbarte einen Termin. Herrn F.s Freundin bezogen wir nicht mit ein.

Einige Tage später trafen wir uns abends in meiner Praxis. Zwei Frauen und ein Mann begleiteten Thomas F. Darunter sein bester Freund, mit dem ihn neben Bowling auch eine Motorradleidenschaft verband. Der Mann hatte ein offenes Lächeln und würde Herrn F. gut unterstützen können, hoffte ich.

Die beiden Frauen waren recht unterschiedlich. Die Jüngere von etwa Mitte dreißig trug einen Pferdeschwanz und machte einen lebhaften Eindruck. Sie trug Jeggins und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Mädchen können alles« und begrüßte mich herzlich. Ihr Lächeln hatte etwas Burschikoses. Die Ältere der beiden wirkte mit ihren üppigeren Kurven mütterlicher und trat schüchterner auf.

Keiner aus der kleinen Gruppe hatte bisher mit so etwas wie dem Psychodrama zu tun gehabt. Um die anfängliche Unsicherheit zu überbrücken, stellte ich mich Herrn F.s Freunden kurz vor und erläuterte die Regeln. Anschließend nahmen alle Platz, und ich sagte zu Herrn F.: »Du hast heute deine Freunde hierher eingeladen. Kannst du erläutern, was dich belastet und du dir vom heutigen Abend erhoffst?«

In knappen Worten schilderte Herr F. sein Dilemma und schloss mit dem Wunsch: »Ich will meine Freundin nicht verlieren. Von dem hier«, er machte eine winkende Bewegung in die Runde, »erhoffe ich mir, meine Beziehung zu retten.«

Nach seiner Einführung entschloss ich mich, zur Veranschaulichung seiner Probleme als ersten Akt des Psychodramas eine typische Situation mit seiner derzeitigen Freundin nachzustellen. In diesem Fall hielt ich eine Szene für sinnvoll, in der Herr F. unwirsch einen zärtlichen Annäherungsversuch von ihr abwehrte, obwohl er sie eigentlich liebte.

»Ich weiß nicht, warum ich das mache«, hatte er mir einmal gesagt. »Ich will das gar nicht, sondern freue mich sogar. Aber gleichzeitig habe ich immer Angst, sie meint das gar nicht ehrlich, sondern macht das nur so mechanisch oder um mich zu manipulieren für irgendetwas. Und aus der Nummer komme ich nicht raus.«

Ich beschrieb der Gruppe diese Grundsituation und bat dann die junge Frau mit dem Pferdeschwanz, sich als Herrn F.s Freundin zur Verfügung zu stellen. Er selbst sollte sich in die Mitte des Raumes auf einen Stuhl setzen.

»Stell dich hinter ihn, umarme ihn zärtlich«, wies ich die Freundin an.

Die beiden bezogen Stellung, und schon als die Freundin seine Schultern berührte, zuckte Herr F. zusammen. Er ließ die Umarmung geschehen, saß jedoch wie eingefroren auf seinem Stuhl. Ich hockte mich neben ihn und sagte leise: »Wenn ich hier neben dir bin und mich einfühle, spüre ich deine Zerrissenheit.«

»Ja«, murmelte er dumpf. »Eigentlich fände ich es toll, wenn sie mich mit Zärtlichkeiten überrascht, aber irgendwie werde ich gleichzeitig total misstrauisch und wütend!«

»Und am Ende blockieren sich beide Gefühle in dir, und du erstarrst.«

»Ja!« Er nickte heftig. »Genau so ist es.«

»Kannst du sagen, was dich so wütend und misstrauisch macht? Kannst du es deiner Freundin hier mal an den Kopf werfen?«

Da brach es aus Thomas F. heraus: »Hau ab! Du willst das doch gar nicht! Du liebst mich gar nicht, sondern machst das nur, um deinen Freundinnen sagen zu können, was für ’ne tolle Liebhaberin du bist und wie du mich immer rumkriegst …«

Die Freundin fuhr zusammen angesichts seiner Heftigkeit, und auch den Zuschauern war Verblüffung anzumerken.

Ich bat Herrn F., die gleiche Szene noch einmal, nun jedoch in der Rolle der Freundin zu durchleben, damit er nachfühlen konnte, wie sie sich in solchen Situationen fühlen musste. Nachdem er die Sequenz in ihrer Rolle erlebt hatte, ließ ich Thomas F. den gleichen Dialog vorspielen, als wenn er nur der Zuschauer eines Dramas sei. Während sein bester Freund als er selbst und die Frau mit dem Pferdeschwanz agierten, arbeitete es heftig in Herrn F.s Gesicht. Nach einer gewissen Zeit fragte ich ihn, was er sehe und woran es ihn erinnere.

Thomas F. überlegte nicht lange: »Der traut der Frau ja wirklich nicht über den Weg.« Er schüttelte den Kopf. »Gott, wie misstrauisch er ist, dass alles nur Show sein könnte und sie ihm alles nur vormacht!«

»Und was meinst du, Thomas, wieso ist dieser Mann so misstrauisch? Was hat sich so fest in ihm verankert und ihn derart zweifelnd werden lassen? Woran erinnert dich das?«

Die Antwort kam spontan, ohne nachzudenken: »Bei uns zu Hause war immer nur wichtig, was die Leute denken!«

Die Assoziation zeigte mir, dass wir uns auf dem richtigen Weg befanden. »Okay. Dann schauen wir uns mal an, wie das bei dir zu Hause war.«

Auf den ersten Akt musste nun der zweite folgen, die Aufarbeitung des biografischen Hintergrunds. Dadurch sollte klarer werden, weshalb es einst überlebenswichtig für Thomas F. gewesen war, seine Gefühle abzuspalten. Er erzählte der Gruppe von der emotionalen Grundstimmung in der Familie und lieferte einige biografische Details aus seiner Kindheit.

»Gibt es eine bestimmte Geschichte, die dich vielleicht in der Beziehung zu jemandem besonders erschüttert hat? Wo es gut war, diese Gefühle nicht an dich ranzulassen? Fällt dir da etwas ein?«

Erstaunt bemerkten wir, wie Herrn F.s Augen sich mit Tränen füllten.

»In welchem Alter siehst du dich gerade?«, fragte ich.

»Mit acht. Kurz vor meiner Kommunion«, erwiderte Thomas F. sofort. Dann schilderte er, was ihm damals widerfahren war.

»Gut. Ich würde diese Szene gern nachspielen. Holt einen Tisch und ein paar Stühle in die Mitte des Raumes«, wandte ich mich an die Gruppe, und an Herrn F. gerichtet: »Du wählst die anderen Protagonisten aus.«

Als seine Schwester benannte er die Frau mit dem Pferdeschwanz, die Üppigere sollte seine Mutter darstellen. Sein bester Freund erhielt die Rolle des Vaters. Jedem der drei gab Herr F. ein paar Merkmale über ihren Charakter an die Hand. Er spielte sich selbst.

Die »Eltern«, die »Schwester« und Thomas F. setzten sich an den Tisch. Sie aßen schweigend. Kein freundliches Wort fiel. Als der Sohn aus Versehen ein paar Tropfen Saft verschüttete, fuhr sein Vater ihn grob an: »Du bist einfach nur peinlich!«

Ich sah, wie Herr F. erstarrte und seine Züge sich vor Angst verschlossen. Unter dem Tisch drückte ihm die Schwester heimlich die Hand.

»Übrigens«, sagte die Mutter nach dem Abendbrot, »morgen gehst du zum Pastor, der hat dir was zu sagen.« In seinem Bericht über seine Kindheit hatte Thomas F. angedeutet, dass es bei diesem Gespräch eine entscheidende Wendung in seinem Leben gegeben habe, der wir uns später nähern wollten.

Nach dem Essen brachte die Schwester Thomas ins Bett, sprach mit ihm über seine Sorgen, umarmte ihn zärtlich und erzählte ihm vor dem Einschlafen ein Märchen. Seine Eltern sagten ihm nicht einmal Gute Nacht. Das liebevolle Verhalten der Schwester, die Zeichen der Verbundenheit, die sie ihm zeigte, berührten Thomas F. sichtlich. Offenbar war sie die einzige Person, die ihm Zuneigung entgegenbrachte, der er vertrauen konnte.

In der zweiten Szene sollte der kleine Thomas, dem die Kommunion bevorstand, zum Pastor gehen und ihm eine Geburtsurkunde vorbeibringen. Die Eltern weigerten sich, ihn zu begleiten. Während in den Familien seiner Freunde freudige Festvorbereitungen liefen, löste das ganze Thema der Kommunion bei ihnen – für ihn unverständlich – keine Vorfreude aus.

In den nächsten Szenen veränderte ich mehrmals das Setting. Zuerst stellten wir nur den Gang zum Pastor dar. Dabei berührte es mich und die anderen Zuschauenden, wie dieser große, kräftige Mann als kleiner Junge mit hängenden Schultern allein und verunsichert auf dem Weg zum Pfarrhaus durch den Raum schritt.

Dann übernahm Herrn F.s bester Freund die Rolle meines Klienten, der selbst den Pastor spielte. Er setzte sich hinter den Tisch und faltete die Hände. Dann blickte er seinen Freund als achtjährigen Thomas ernst an und sagte knapp: »Ich hab dir was zu sagen.«

Wir spürten die Spannung, die von meinem Klienten ausging, und waren neugierig, was als Nächstes kommen würde. In seiner Schilderung hatte Thomas F. das Gespräch lediglich erwähnt, jedoch nichts über den Inhalt gesagt.

Der Pastor schwieg einen Moment, während der Junge den Blick senkte und unruhig auf dem Stuhl hin- und herrutschte.

»Deine Eltern sind in Wahrheit deine Großeltern«, ließ der Pastor plötzlich verlauten. »Deine Schwester ist deine richtige Mutter. Deinen Vater kennen wir nicht.« Er hüstelte und sprach schnell weiter, offensichtlich, um diese unangenehme Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. »Es wäre eine zu große Schande für dich und deine Familie gewesen, wenn jeder im Dorf gewusst hätte, dass du das Ergebnis einer flüchtigen Begegnung von einem 13-jährigen Mädchen mit einem Fremden bist. Deswegen war es das Beste für dich zu glauben, dass du ein spätes Kind aus der Ehe deiner Großeltern bist.« Er hüstelte erneut und wich den sich weitenden Augen des Jungen aus, dessen Körper einzufrieren schien.

Der Pastor stand auf. »Das war’s. Nun weißt du’s.«

Erschüttert spürten wir die Kälte, die sich wie eine Mauer um Thomas F.s Freund als kleinem Jungen von damals und auch um uns im Publikum schloss.

Nach einer Pause ließ ich diese Szene noch einmal spielen, dieses Mal übernahm Herr F. selbst die Rolle des Achtjährigen. Wir konnten sehen, wie er all seine Gefühle von damals wiedererlebte und sein Körper erstarrte. Beim dritten Mal schaute Herr F. lediglich zu, wie sein bester Freund als Pfarrer der Frau mit dem Pferdeschwanz die kalte Tatsache um die Ohren schlug.

Diese verschiedenen Perspektiven im Spiel sind wichtig. Der Erwachsene durchlebt noch einmal die Gefühle des Kindes. Dann sieht er im anderen, der ihn spielt, aus der Distanz die Not des Kindes und kann dadurch die Emotionen der Situation zuordnen.

Während der letzten Wiederholung der Szene sah ich, wie sich Thomas F.s Gesicht rötete und er seine Fäuste ballte. Ich spürte die Wut, die er in diesem Moment erstmals auf seine Großeltern und den Pfarrer zuließ.

Als die Szene vorbei war, fragte ich ihn, wie er sich fühle. Es war wichtig, die Empfindungen zu benennen.

»Was heißt hier, es sei das Beste für mich gewesen?«, brach es aus Herrn F. heraus. »Ich war also ein Schandfleck, ja?! Dreck in der Familie, der vertuscht werden sollte …! Die haben mich eiskalt abgespeist mit ihrer sauberen Wahrheit. Belogen von vorn bis hinten haben sie mich. Das Beste für mich …« Er lachte höhnisch. »Denen war scheißegal, wie es mir damit geht. Die wollten nur sauber bleiben!«

Was war wichtiger? Die Wahrheit, der Seelenfrieden eines Kindes oder der vom Rest der Familie im Hinblick auf die Meinung eines Dorfes dazu? Und wie war es Herrn F.s Schwester gegangen, die noch ein Kind gewesen war, als sie Mutter wurde? War sie jemals gefragt worden?

»Was hättest du dir gewünscht, wie die Familie mit deiner Herkunft umgehen soll?«

Thomas F. starrte auf seine Fäuste und schwieg. Plötzlich zitterten seine Schultern, und er schluchzte: »Lieb haben hätten sie mich sollen, einfach nur lieb haben. Und zu der ganzen Sache stehen, auch für meine Schwester.« Tränen liefen ihm über die Wangen und verfingen sich in seinen struppigen Bartzipfeln. Er wischte sich mit dem Arm über die Nase und schaute sich Hilfe suchend um. Die Frau mit dem Pferdeschwanz reichte ihm ein Taschentuch.

»Hast du Mitleid mit dem kleinen Jungen?«, fragte ich ihn. Er nickte.

»Ich hätte ihn vorhin am liebsten in den Arm genommen und nach Hause begleitet.«

Für Herrn F.s Freunde lag es nahe, genau solch eine Szene als positiven Abschluss zu spielen. Doch ich entschloss mich zu einem anderen Vorgehen.

Statt dem kleinen Thomas Trost zu spenden, ließ ich ihn in einer weiteren Szene allein und vollkommen schockiert durch das Dorf nach Hause laufen, wo seine Großeltern auf ihn warteten und ebenso wie der Pfarrer verkündeten: »Jetzt weißt du’s. Mach dir nichts draus, so ist es am besten!«

Seine Mutter, die Thomas bisher für seine Schwester gehalten hatte, kam hinzu und wollte ihn in den Arm nehmen. Der große, kräftige Mann stieß sie jedoch barsch zurück.

»Lass mich!« Er konnte ihre Zuneigung, die ihm sonst so wohlgetan hatte, in diesem Moment nicht erwidern.

Ein Psychodrama lässt man stets in der Gegenwart enden. Also bauten wir die Szenerie komplett ab, und der wieder erwachsene Thomas F. sollte im Hier und Jetzt mit seiner neuen Partnerin zusammenkommen. Erneut übernahm die Freundin mit dem Pferdeschwanz die Rolle.

Thomas F. stand in der Mitte des Raumes. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Ohne dass ich ihr wie sonst eine Anweisung gegeben hatte, ging »seine Freundin« auf ihn zu und umarmte ihn. Doch statt die Umarmung zu erwidern, bewegte er sich nicht. Schlaff hingen die Fäuste herunter. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet.

Nicht nur ich, auch die anderen spürten, dass die letzte Szene nicht stimmig war. Deshalb bat ich beide, noch einmal zurückzugehen und nichts zu machen. Thomas F. rührte sich nicht. Es war nach zehn Uhr abends, wir spielten bereits seit drei Stunden. Die mütterliche der beiden Frauen, die momentan nur zuschaute, gähnte verstohlen. Thomas F.s bester Freund hing müde auf seinem Stuhl und rieb sich das Gesicht.

Da löste mein Klient sich aus seiner Erstarrung. Langsam, als wäre jeder Schritt eine Überwindung, ging er auf seine »Freundin« zu und erzählte dabei noch einmal seine Geschichte, wie er sich als Kind gefühlt habe und Unsicherheit und Misstrauen in ihm entstanden seien.

Gebannt schauten wir anderen zu. Unsere Müdigkeit war verflogen. In keiner unserer bisherigen Sitzungen hatte ich Thomas F. so lange am Stück reden hören. Und auch für seine Freunde zeigte sich erstmals ein ganz anderer Mensch. Es dauerte Minuten, bis er die Frau mit dem Pferdeschwanz erreichte. Ein wenig umständlich nahm er sie in die Arme und legte den Kopf an ihren Hals.

»Dir muss ich nicht misstrauen«, flüsterte er.

Sie müssen da nicht allein durch!

Подняться наверх