Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 7

Welcher Hund?

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Ich arbeitete bereits ein halbes Jahr mit einer alleinerziehenden Klientin, als sie mich bat, sie zu einer Helferkonferenz im Jugendamt zu begleiten. Ihr Name war Julia K., eine elegante, selbstbewusste Frau um die vierzig, hinter deren Fassade häufig für kurze Momente eine große Unsicherheit aufschien. Die Gründe hierfür lagen auf der Hand. Ihre bisherige Lebensgeschichte war eine Aneinanderreihung von Gewalterfahrungen, angefangen mit ihrem Vater, der sie unter Alkoholeinfluss regelmäßig grausam zusammenschlug, bis hin zu Erlebnissen mit Männern, die sie behandelten, wie es ihnen gerade passte. Beispielsweise sollte sie ihren vorletzten Freund beinahe jeden Abend, während er auf dem Sofa fernsah, sexuell mit der Hand und dem Mund befriedigen. Danach sei er viel entspannter und netter zu ihr gewesen. Aus einem anfangs einmaligen Angebot ihrerseits, weil er eines Tages so erschöpft von der Arbeit gekommen war, hatte sich in kurzer Zeit ein selbstverständliches Arrangement entwickelt, das Julia K. zunehmend belastete. Als er sich trennte, machte sie sich Schuldvorwürfe.

Julia K. fiel es schwer, sich zu wehren. Anstatt für sich einzustehen, geriet sie in eine Starre und hielt aus, was man ihr antat. Immerhin hatte sie es vor ein paar Wochen geschafft, ihren Mann, der nicht der Vater ihrer Kinder war, auf dramatische Weise von einem Tag auf den anderen zu verlassen und mit ihren zwei Töchtern in ein Frauenhaus zu flüchten. Von dort fand sie eine eigene Wohnung. Die Töchter waren vierzehn und zehn Jahre alt. Die Große, meinte Frau K., wäre besonders klug, benehme sich oft jedoch arrogant und aggressiv ihr gegenüber, was ihr manchmal Angst bereite, da sie sich dem Teenagermädchen nicht gewachsen fühle. Trotzdem sei sie stolz auf ihre Tochter, denn sie habe bereits einige Preise in der Schule gewonnen. Die Kleine hingegen, die von einem anderen Vater stammte, habe große Probleme in der Schule. Sie angemessen zu unterstützen, dazu fehle Frau K. einfach die Zeit, und die Große habe keine Lust, sich mit der Halbschwester zu beschäftigen.

»Die beiden verstehen sich leider nicht besonders gut. Das ist mein größter Kummer«, gestand Frau K. mir während einer Sitzung. Als Sekretärin in einem großen Unternehmen war sie äußerst gewissenhaft und anerkannt. »Ich kann nicht anders, als immer mein Bestes zu geben«, sagte sie fast schuldbewusst. »Aber jetzt, wo ich allein mit den Kindern bin, ist es schwer geworden, da ich regelmäßig Überstunden mache.«

Bei der Helferkonferenz im Jugendamt, zu der sie mich hinzubat, ging es um die Unterstützung ihrer beiden Kinder und deren unterschiedlichen Förderbedarf. Da Julia K. befürchtete, dass das Jugendamt grundsätzlich an ihrer Erziehungsfähigkeit als Mutter zweifeln könnte, sagte ich ihr meine Begleitung zu. Das war ungewöhnlich, doch hoffte ich, Frau K. jenseits der oft recht statischen Therapiesitzungen besser verstehen zu lernen.

Wir trafen uns nach der Arbeit an der S-Bahn. Es war ein grauer Novembertag und dämmerte bereits. Als wir in die kleine Straße einbogen, an deren Ende sich das Jugendamt befand, kam uns auf dem schmalen Gehweg ein großer, kräftiger Mann in einer braunen Lederjacke entgegen. An der Leine führte er einen sehr unruhigen Pitbull.

Ich wusste, dass diese Hunderasse zwar darauf trainiert ist, sich dem Menschen unterzuordnen, andererseits je nach Sozialisation aber sehr aggressiv werden kann. Da das Tier beständig an seiner Leine zerrte und der Mann kaum in der Lage schien, es im Zaum zu halten, wurde mir mulmig zumute, und ich spürte, wie sich auch meine Klientin verkrampfte, je näher uns die beiden kamen. Als sie dicht vor uns waren, krallte sich ihre Hand in meinen Arm. Ihr Körper zitterte, und sie atmete heftig. Es war eine Panikattacke. Erst als Hund und Herrchen uns passiert hatten, beruhigte sich Frau K. allmählich.

»Puh, der war ja kaum zu bändigen!«, sagte ich, um die Anspannung noch vor Erreichen des Jugendamtes aufzulockern. »Mir war absolut nicht wohl dabei, denn der Typ hatte seinen Hund offensichtlich nicht im Griff …«

Julia K. sah mich verblüfft an: »Welcher Hund?«

»Wie, Sie haben den gar nicht gesehen?«

Frau K. schüttelte irritiert den Kopf, und schlagartig wurde mir klar, dass nicht der Pitbull, sondern der Mann ihre Angstreaktion ausgelöst hatte. Da auf dem schmalen Gehweg kaum Platz zum Ausweichen geblieben war und Frau K. sich ohnmächtig einer Gefahr ausgeliefert sah, weckte die Situation Erinnerungen an gewalttätige Männer in ihr und damit Ängste, die sie davor warnen sollten, wie schnell eine scheinbar harmlose Situation jederzeit gefährlich kippen kann – ganz so, wie sie es oft genug erlebt hatte.

Diese Geschichte erinnerte mich an eine Situation, die ich selbst einmal vor vielen Jahren nachts in Köln erlebt hatte. Damals ging ich, müde nach einer Veranstaltung, durch eine schmale Gasse zu meinem Auto, als mir eine Frau von etwa dreißig Jahren entgegenkam, der ich anscheinend große Angst einflößte. Sie starrte mich nicht nur die ganze Zeit misstrauisch an, sondern hangelte sich, als ich in ihre Nähe kam, rücklings an der Hausmauer entlang, als wäre ich ein schreckliches Monster. All dies geschah, obwohl ich weder etwas sagte noch irgendwelche Gesten machte, die sie hätten in Panik versetzen können.

Als die Frau etwa zehn Meter an mir vorbei war, kam plötzlich Wut in mir auf. Ich fühlte mich angegriffen und spürte sogar kurzzeitig den Impuls, ihr nachzugehen, um sie tatsächlich zu erschrecken.

Natürlich habe ich das nicht getan. Aber in diesem Moment spürte ich leibhaftig: Misstrauen hat etwas Verletzendes, ebenso wie Unterstellungen. Und auf diese Weise behandelte Menschen richten ihren Ärger darüber gegen den einst von Gewalt Betroffenen, der sich wiederum in seinen Befürchtungen bestätigt sieht. Ein Teufelskreis von Misstrauen und Gewalt, dem nicht leicht zu entkommen ist.

Deshalb hätte auch beim Jugendamt einiges schiefgehen können, wenn Julia K. an jenem Tag den beiden Sozialarbeiterinnen allein gegenübergetreten wäre. Wahrscheinlich hätte sie den beiden Frauen von vornherein misstraut und unterstellt, dass sie ihre Situation gar nicht verstehen wollten oder könnten. Sie hätte die Absichten der Sozialarbeiterinnen, die beiden Kinder kennenlernen und unterstützen zu wollen, als einen Angriff gegen sich selbst aufgefasst. Und womöglich hätte das Misstrauen meiner Klientin genau das von ihr Befürchtete aufseiten der Sozialarbeiterinnen erst geweckt.

Da ich mir dieser Mechanismen bewusst bin, war ich jedoch in der Lage, die Gefahr einer sich selbst verwirklichenden Prophezeiung abzuwenden.

»Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, denen vom Jugendamt einmal nur das Beste zu unterstellen. Mal sehen, was dabei rauskommt«, sagte ich zu Frau K., ehe wir den Raum betraten, in dem das Gespräch stattfinden sollte.

Nachdem wir uns an einen Tisch gesetzt hatten und noch bevor meine Klientin etwas sagen konnte, erzählte ich wahrheitsgemäß, dass sie in der Therapie mit ihren Themen gut vorankäme und die Kinder bei ihr als Mutter meines Erachtens gut aufgehoben seien. Die Sozialarbeiterinnen unterbreiteten daraufhin einige Unterstützungsangebote, die anzunehmen ich Frau K. Mut machte. Weil sie mir vertraute, vertraute sie bald auch den Sozialarbeiterinnen. Auf diese Weise verpuffte ihre Neigung zu Angst, Unterstellung und Misstrauen. Ein erster Schritt war getan, auch wenn Frau K. in den meisten Situationen ihres Lebens allein damit zurechtkommen musste.

In den folgenden Sitzungen griffen wir die gemeinsam erlebte Situation mit dem Mann und dem Hund noch einige Male auf. Denn es galt, die in solchen Momenten wiederbelebten Erlebnisse der Vergangenheit genauer zu fassen. Vor allem aber wollte ich herausfinden, was Frau K. in diesen Lagen helfen konnte.

Ich wusste, dass sie sonntags gern mit einer Freundin zusammen Tatort schaute. Dieser Abend sei ihr heilig, gestand sie mir. Folgen, in denen Ulrike Folkerts mitspielte, mochte Julia K. besonders.

»Haben Sie Schatten der Angst gesehen?«, fragte sie mich. »Diese Frau ist einfach cool.« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, mit ’ner Knarre in der Hand hat man es eben auch leichter.«

Ich schaute sie an. Das Bild einer toughen Kommissarin wäre eventuell ein Ausweg aus ihrer immer wieder neu erfahrenen Hilflosigkeit. Vielleicht würde ihr genau so etwas helfen. Also schlug ich vor: »Und wenn Sie sich eine Schreckschusspistole kaufen?«

»Na, das wäre was …« Julia K. lachte auf. »Aber sind die nicht verboten?«

»Der Transport ist erlaubt. Und Sie müssen sie ja niemandem vorführen, fühlen sich aber trotzdem sicherer.«

Zu meiner Überraschung brachte Julia K. zu unserer nächsten Sitzung tatsächlich eine Schreckschusspistole mit, eine 9-mm- Smith & Wesson, die verblüffend echt aussah. Statt mit einer Kugel funktionierte sie mit Pressluft. Wir befühlten die Waffe, auf deren Kauf Frau K. sichtlich stolz war.

»An Silvester sah ich auf der Straße junge Männer damit herumschießen. Und irgendwie hat mich das beeindruckt, obwohl es ja verboten ist und man bis zu zehntausend Euro Strafe zahlen muss. Aber das hat niemanden geschert.«

Sie hatte die Pistole im Internet bestellt und sich bei der Polizei sogar den sogenannten Kleinen Waffenschein dafür besorgt. Mich freute die Energie, die meine Klientin dafür aufgebracht hatte. Das würde sie weiter aus der Ohnmacht gegenüber der Gewalt anderer herausführen.

»Ich trage sie immer in der Tasche meines Mantels.«

»Heute auch?«

»Natürlich!«

»Und wie fühlen Sie sich damit?«

»Etwas sicherer. Trotzdem habe ich immer noch Angst.« Sie seufzte.

Ich betrachtete Julia K., die in einem Sessel mir gegenübersaß, und überlegte, wie sich die beruhigende Wirkung der Waffe unterstützen ließe. Frau K. war in einem Trenchcoat gekommen, der ihr ausgesprochen gut stand und den sie über die Lehne eines zweiten Sessels gelegt hatte. »Wir sind ohnehin fast am Ende der Stunde. Ziehen Sie sich doch schon mal Ihren Mantel an. Vielleicht fällt uns dann noch etwas ein«, schlug ich vor.

Meine Klientin schaute mich ungläubig an, griff dann aber doch zu ihrem Kleidungsstück und schlüpfte hinein. Sie wirkte unsicher, als sie angekleidet vor mir stand. Ihre Hände hingen hilflos herab.

»Und jetzt stecken Sie die Hand in die Tasche mit der Waffe. – Besser?«

Sie lächelte matt und wackelte mit dem Kopf.

Ich dachte an »magische« Rituale, die in solchen Momenten helfen können. »Wir könnten uns einen Spruch ausdenken, der Sie mutiger macht. Haben Sie eine Idee?«

Julia K. überlegte. Sie holte die Pistole aus der Tasche und richtete sie gegen einen imaginären Feind an der Wand über meinem Schreibtisch. Die Wirkung war enorm: Ihr Blick, der sonst oft auf ihren Fußspitzen oder Händen verweilte, richtete sich klar geradeaus, ihre Schultern strafften sich und sie stand aufrechter, als ich es je bei ihr gesehen hatte. »Ich bin Lena Odenthal. Mir kann keiner was!«

»Sehr gut.« Ich klatschte in die Hände. »Üben Sie das zu Hause regelmäßig, sagen Sie den Spruch und prägen Sie sich ein, wie Sie dastehen, während Sie ihn sagen und die Waffe halten. Irgendwann überträgt sich die Haltung dann automatisch auf Ihren Körper, wenn Sie den Satz bloß denken.«

Ein Lächeln huschte über Julia K.s Gesicht. Trotzdem dauerte es noch sehr viele Sitzungen, bis sie zuversichtlicher in neue Begegnungen ging. Wir arbeiteten an ihrer Achtsamkeit, sich von Anfang an respektvoll behandeln zu lassen. Dies ersetzte langsam das alte Muster lähmender Alarmiertheit.

Sie müssen da nicht allein durch!

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