Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 6

Auge in Auge

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»Ich mochte die Strecke gern, die ich an diesem Tag fuhr. Sie führte durch eine schöne Landschaft mit kleinen Hügeln, manchmal durch Kiefernwälder. Als ich in die lange, schlecht einsehbare Kurve einfuhr, sah ich plötzlich eine Frau auf den Gleisen. Das ist der Moment, vor dem wir Lokführer am meisten Angst haben. Es war sehr seltsam: Sie hatte ihre Arme ausgebreitet … als würde sie mich erwarten … Mit offenen Armen wartete sie auf den Tod …« Walther M. saß mir im Sessel gegenüber, die Hände ins Leder der Lehne gekrallt. »Es war eine junge blonde Frau … Und sie schaute mir direkt in die Augen …« Er sprach leise und abgehackt, den Blick starr geradeaus gerichtet, als sähe er sie noch immer vor sich. In seiner Stimme lag Verwunderung, als könne er bis heute nicht glauben, was damals passierte. »Ich zog sofort die Notbremse, obwohl ich wusste, dass der Bremsweg nicht ausreichen würde …« Sein Atem ging heftiger. »Sie blieb einfach stehen. Die ganze Zeit sah sie mich an. Bis zuletzt. Dann rollte die Lok über sie …« Schweißperlen traten auf seine Stirn. »Es war schrecklich. Ständig muss ich an diesen Moment denken, in dem mein Zug auf die junge Frau zuraste. Auch heute noch, drei Jahre danach. Immer und immer wieder muss ich daran denken. Wie sie dastand mit offenen Armen und auf mich wartete … auf ihren Henker … und … und dann diese zerstückelte Leiche, als wäre das nie ein Mensch gewesen …« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann das einfach nicht vergessen.«

Ich sah die Bilder vor mir und fühlte die Ohnmacht, aus der es kein Entrinnen gab. Ich wusste nicht, wie oft Herr M. die Geschichte schon erzählt hatte. Angesichts seiner nach wie vor offensichtlichen Betroffenheit, die sein angespannter Körper unter Kontrolle zu halten versuchte, vermutete ich jedoch, dass er die dramatischen Ereignisse tief in sich verschlossen hatte und nur innerlich die Bilder wieder und wieder repetierte. Vermutlich war ich der Erste, vor dem er die Ereignisse laut aussprach.

Wir schwiegen beide, bis ich die Stille mit einer Frage auflöste: »Konnten Sie eine Gefühlsregung bei der jungen Frau erkennen?«

»Manchmal sehe ich Verzweiflung in ihrem Gesicht«, antwortete er. »Dann denke ich, dass es genau umgekehrt war. Dass sie meine Verzweiflung gesehen und vielleicht sogar genossen hat. Ich glaube auch, dass sie mich angelächelt hat, weiß es aber nicht mehr genau. Sie war erst 17 Jahre alt, erfuhr ich später, sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich!«

»Mussten Sie danach Ihren Beruf aufgeben?«

»Nein, ich arbeite nach wie vor als Lokführer. Die Erinnerungen kommen auch nicht während der Arbeit, sondern meist, wenn ich zu Hause bin. Bei meiner Familie.«

»Wie ist Ihre Familie mit diesem Ereignis und mit Ihren Gefühlen umgegangen?«

»Meine Frau und meine Tochter waren sehr liebevoll. Sie haben mir immer wieder gesagt, dass ich nichts dafürkann.«

Ich sah Walther M. an und dachte nach. Es war klar, dass das, was so stark in ihm nachwirkte, vor allem seine Schuldgefühle waren. Dass er sich für den Tod der jungen Frau verantwortlich fühlte, obwohl er rational erfasste, dass er keine Schuld trug. Doch der Blickwechsel zwischen den beiden musste etwas in ihm ausgelöst haben, das seitdem auf unheilvolle Weise in ihm rumorte.

»Die junge Frau hat in dem kurzen Moment, als sie Ihnen in die Augen sah, eine Beziehung zu Ihnen aufgebaut und Sie zu ihr«, erklärte ich ihm. »Deswegen denken Sie, Sie müssten die Verantwortung für ihren Suizid übernehmen.«

Walther M. war ein dünner, sehr freundlicher, äußerst akkurater und höflicher Mensch. Obwohl erst Anfang vierzig, durchzogen sein Gesicht bereits tiefe Falten. Im Laufe unserer Gespräche zeigte sich eine für Lokführer typische Eigenschaft: Er versuchte stets, alles unter Kontrolle zu halten. Nicht nur in seinem Beruf, wo das unerlässlich ist, sondern auch im Umgang mit mir. Er wollte auf keinen Fall weinen oder auf Gesprächsfelder gelenkt werden, die er nicht vorgab.

Seine auffällige Zwanghaftigkeit gewann einige Sitzungen später an Bedeutung, als sich der Fokus auf die Jahre nach dem Ereignis verschob. Ich fragte ihn, was er versucht habe, um das Ganze zu verarbeiten. Welche Relevanz das tragische Ereignis heute für die Gestaltung seines Lebens habe. Er erzählte mir, wie er seitdem versucht habe, alles Unberechenbare aus seinem Leben zu verbannen. Allerdings sei das vergeblich gewesen. Schließlich kam er eher beiläufig auf das zu sprechen, was sich in diesem Fall als entscheidend erweisen sollte. Er sprach von seiner Tochter, die im gleichen Alter wie das unbekannte Mädchen war. Sie hieß Katrin.

Seit dem Unfall hatte Herr M. begonnen, jeden Schritt seiner Tochter zu kontrollieren. Sie durfte nicht später als neun Uhr abends nach Hause kommen, strikt verbot er ihr, sich allein mit einem Mann zu treffen. Partys musste sie verlassen, wenn sie eigentlich erst losgingen. Verständlicherweise reagierte Katrin zunehmend wütender, aufsässiger und verzweifelter. Und je hitziger sie versuchte, sich der Kontrolle des Vaters zu entziehen, desto rigidere Regeln stellte er auf. Einmal sperrte er sie abends sogar ein, woraufhin sie die Tür zertrümmerte.

Die aggressive Vater-Tochter-Dynamik spitzte sich immer mehr zu. Meine Interventionen und Erklärungsversuche, wie diese Dynamik beide nur noch unglücklicher machte, drangen nicht zu Herrn M. durch. Es musste etwas geben, das seine Kontrollsucht regelmäßig neu triggerte, etwas, das in der Familie lag. Ich hegte einen Verdacht und beschloss, zur nächsten Sitzung seine Frau und seine Tochter einzuladen, um mir ein Bild machen zu können.

Bereits als Katrin zur Tür hereinkam, bestätigte sich meine Vermutung, und ich wusste, in welche Richtung ich gehen musste. Mürrisch setzte sich die junge Frau auf einen Stuhl. Ihre Mutter, eine sanfte kleine Person, die als Buchhalterin arbeitete, wirkte tief verunsichert über das immer dramatischere Verhalten meines Klienten, und ich spürte deutlich ihren Wunsch, ihren Mann aus seinem inneren Gefängnis herauszuholen. Als ich sie fragte, ob sie seine rigiden Verhaltensmaßnahmen in Bezug auf die Tochter teile, bekam sie rote Flecken im Gesicht. Ich spürte ihren unterdrückten Ärger, als sie leise sagte, was sie offensichtlich schon mehrfach wiederholt hatte: »Er muss Katrin mehr Freiheit gönnen. Sonst macht er noch die ganze Familie kaputt.«

»Was für ein Unsinn!« Herr M. winkte aufgebracht ab. »Heutzutage …«

An dieser Stelle unterbrach ich ihn und versuchte, ihm eine andere Spur aufzuzeigen. »In Ihrem Fall hat das doch nichts mit Gönnen von Freiheit zu tun!«

»Genau«, rief Herr M., »die Welt ist viel zu gefährlich für eine junge Frau!« Seine Hände, die wie üblich fest auf den Lehnen lagen, krallten sich noch fester ins Leder.

Ich pflichtete ihm bei: »Was man ja bestätigt finden muss, wenn man erlebt hat, was Sie erlebt haben!«

»Was wollen Sie damit sagen? Finden Sie etwa auch, dass ich übertreibe?« Walther M. sah mich wütend an. Doch ich wusste, dass diese Wut jetzt wichtig war.

»Sagen wir so, ich kann sehr gut verstehen, dass Sie nach einem solchen Ereignis alles unter Kontrolle bringen wollen. Die Bilder in Ihrem Kopf, aber auch die Gefahren, die auf Ihre Familie zukommen können. Erst recht, wenn Sie eine Tochter haben, die …«, ich sah Katrin an, » … genauso alt ist und ähnlich aussieht wie die junge Frau auf den Schienen.«

»Wie … Katrin?! « Herr M. zuckte verblüfft zusammen.

Es wurde still im Zimmer. Hilflos glitten Walter M.s Hände von der Lehne in den Schoß. Sein Blick wanderte zu seiner Tochter. Sie wich ihm aus und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Ich hätte ihr diese Situation gern erspart, aber ich war dankbar, dass sie mitgekommen war. Frau M. wollte die Hand ihrer Tochter ergreifen, doch sie stieß sie unwirsch weg.

Ich ließ Herrn M. Zeit, denn ich spürte, dass er etwas Wichtiges zu verstehen begann. Nach einer Weile flüsterte er betroffen: »Tatsächlich, so habe ich das noch nie gesehen.«

»Sie sind kein böser Vater, der seiner Tochter nichts gönnt«, erklärte ich ihm sein Verhalten. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Katrin in ihrem nervösen Gezappel innehielt und aufmerksam lauschte. »Sie lieben Katrin und machen sich ständig Sorgen um sie. Deshalb versuchen Sie, alles unter Kontrolle zu bringen und sie auf diese Weise zu schützen. Zusätzlich haben Sie die Bilder der toten Frau im Kopf, wenn Sie Ihre Tochter sehen, die noch gar nicht weiß, was alles passieren könnte!«

Ich wusste, dass die Erkenntnis über die Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen lediglich ein erster Schritt für die Heilung meines Klienten war, und es dauerte tatsächlich noch einige Zeit, bis er meine Deutung annehmen konnte. Deshalb vermutete ich, dass sich noch etwas anderes hinter Herrn M.s Verhalten verbergen musste. Etwas, das ihn den Schmerz nicht vergessen ließ.

Eines Tages sprach ich aus, was mir in unseren letzten Sitzungen immer klarer geworden war. Und das anzunehmen würde vermutlich noch komplizierter für meinen Klienten sein als alles Bisherige.

»Herr M., ich bin mir inzwischen nicht nur sicher, dass Sie Ihre Tochter aufgrund des schrecklichen Ereignisses übertrieben kontrollieren. Ich vermute auch, und damit komme ich zum entscheidenden Punkt, dass erst durch die andauernde Kontrolle Ihrer Tochter die traumatischen Bilder in Ihrem Kopf erhalten bleiben.«

»Was?«, antwortete Herr M., während sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete und sich seine Finger einmal mehr tief ins Leder seines Sessels bohrten. »Was soll das denn?!« Vehement schüttelte er den Kopf. »Unmöglich!«

Es tat mir leid, ihn konfrontieren zu müssen. Ich schätzte diesen gewissenhaften Mann, der aus Liebe zu seiner Familie versuchte, alles richtig zu machen. Zugleich war ich mir sicher, dass ich mit meiner Deutung richtiglag, und erklärte: »Wie gesagt, ich vermute das. Flashbacks nach Traumata sind keine Gemeinheit unseres Unbewussten. Es sind Mahnungen.« Ich machte eine kurze Pause, denn der nächste Satz würde Herrn M. konkret konfrontieren. »Solange Sie Ihre Tochter so extrem kontrollieren, dass sie keine echte Jugend erlebt, ›überfahren‹ Sie Katrin wie Ihr Zug damals die junge Frau. Mit Ihrer Angst überrollen Sie Ihre Tochter immer wieder neu. Und bei ihr laufen Sie Gefahr, tatsächlich zum Täter zu werden!«

Herr M. schwieg. Er blickte aus dem Fenster und wirkte plötzlich wie in eine andere Welt entflohen, als hätte man ihn ausgeschaltet.

Ich fuhr fort: »Ihre Flashbacks tadeln Sie nicht, jemanden überfahren zu haben. Sie mahnen Sie, künftig niemanden mehr zu überfahren. Sobald Sie aufhören, Ihrer Tochter das Leben zu verbieten, verlieren die Bilder in Ihrem Kopf ihre Funktion. Ich vermute, dass sie weniger werden, je mehr Leben Sie Ihrer Tochter erlauben.«

Walther M. sah mich mit einer Verzweiflung im Gesicht an, die mich sehr berührte. »Ich kann das nicht glauben«, stammelte er leise und schwieg dann. Schließlich entfuhr ihm ein tiefer Seufzer. »Aber das wäre zumindest eine schlüssige Erklärung, warum die Bilder immer nur zu Hause kommen.«

»Ja«, sagte ich mitfühlend, »weil Sie im verzweifelten Gesicht Ihrer Tochter täglich das Gesicht der jungen Frau sehen.«

Walther M. brauchte noch viele weitere Sitzungen, um seine Ängste mit sich ausmachen zu können beziehungsweise bei mir zu lassen. Doch glücklicherweise löste sich mein Versprechen ein, und die Erinnerungen seines Traumas gingen spürbar zurück, während Katrin an Freiheit gewann.

Sie müssen da nicht allein durch!

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