Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 8

Mit dem Rücken zur Wand

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Benedikt N. war es peinlich, mir von seinem Leiden zu erzählen. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, über innere Angelegenheiten zu sprechen. Er hatte eine schmale Statur, kurzes Haar und trug eine dunkle Designerbrille. Sein schwarzer Rolli und die engen dunklen Hosen unterstrichen die Zartheit des 28-Jährigen. In allem, was er tat, wirkte er bedacht, als wolle er jeglichen Impuls unter Kontrolle halten. Vor ein paar Jahren war er aus der kleinen süddeutschen Stadt, in der er aufgewachsen war, nach Berlin gezogen. Zusammen mit drei Kolleginnen arbeitete er dort in einem großen Parfümerie- und Drogeriegeschäft.

Während er sprach, blickte er mich nicht an und knetete den Mittelfinger der linken Hand. »Wenn ich im Geschäft bin, muss ich Abstand zu den Wänden halten und darf ihnen nie näher als einen Meter kommen. Die ziehen mich sonst an wie ein Magnet, und ich habe Angst, dass ich dann wieder minutenlang an ihnen festkleben würde.« Seine Stimme wurde mit jedem Satz leiser. So als wollte er Kraft sparen. »Es gibt Tage, da kann ich mich gar nicht mehr bewegen aus Angst, der Wand zu nahe zu kommen. Ich kann dann nicht weiterarbeiten.«

Ich spürte Herrn N.s Ohnmacht in solchen Momenten, seine Scham, wenn er wegen seines Zwanges die Arbeit vernachlässigte.

»Meine Kolleginnen und die Chefin gucken mich komisch an, und ich kann denen das schlecht erklären. Also sage ich meist, dass mir schwindelig ist. Aber das geht ja nicht jedes Mal.«

»Wie lange dauert so ein Zustand denn?«, fragte ich.

»Manchmal fast zehn Minuten, bis ich in der Lage bin, den nächsten Kunden zu bedienen.«

Das war eine lange Zeit im Dienstleistungsbereich, wo man jederzeit freundlich und aufgeschlossen reagieren muss.

»Gibt es Situationen, in denen Ihnen das häufiger passiert?«

»Manchmal wollen viele Kunden gleichzeitig bedient werden oder es war schon lange niemand mehr im Geschäft. Dann wird die Chefin unruhig und blickt uns vorwurfsvoll an, als sei es unsere Schuld.« Benedikt N. schaute mich verunsichert an. Sein Rücken schien sich gegen die Lehne seines Stuhles zu pressen.

Seine Schilderung deutete darauf hin, dass er unter einer Zwangshandlung litt, durch die er die Kontrolle über eine belastende Situation zurückgewinnen wollte, die in ihm überflutende Ängste auslöste, damit nicht – bildlich gesprochen – die Pferde mit ihm durchgingen. Andere Betroffene waschen sich viel häufiger als notwendig die Hände oder prüfen, bevor sie das Haus verlassen, etliche Male nach, ob der Herd auch wirklich ausgeschaltet ist.

»Sie kennen sicher die Redewendung ›mit dem Rücken zur Wand stehen‹, wenn man überfordert ist oder sich in die Enge getrieben fühlt und keinen Ausweg sieht«, deutete ich meinem Klienten sein Verhalten. »Unbewusst sucht Ihr Rücken deshalb eine Wand, die Ihnen Schutz bietet, denke ich.«

»Wirklich?« Benedikt N. beugte sich vor und schaute mich erstaunt an. »Das wäre ja endlich mal eine Erklärung.« Er wirkte erleichtert.

»Wir sagen aber auch«, fuhr ich fort, »›Da ist mir jemand in den Rücken gefallen.‹ Die Angst davor kann noch dazukommen, wenn man sich eigentlich erhofft, in einer stressigen Situation von jemandem unterstützt zu werden, stattdessen jedoch verraten wird.«

Ich fragte mich, in was für einem Elternhaus Herr N. aufgewachsen war. Gerade in der Kindheit und Jugend können Erfahrungen von nicht erlebter Unterstützung dazu führen, dass die Psyche sich eine Wand als Schutz sucht, besonders wenn zum Beispiel Eltern ihre Kinder in beängstigenden Situationen auch noch beschimpfen, statt ihnen Sicherheit zu geben, und sie damit zusätzlich verunsichern. Das kann bis ins Erwachsenenalter hineinwirken.

Gleichzeitig dachte ich über eine dritte Vermutung nach – Zwangshandlungen dienen nämlich unter anderem dazu, bestimmte verbotene Impulse abzuwenden –, wollte meinen Klienten in diesem Moment allerdings nicht überfordern.

»Wie reagiert Ihre Chefin, wenn Sie sich auf diese Weise zurückziehen?«

»Anfangs hat sie nur die Stirn gerunzelt. Doch seit es häufiger passiert und länger dauert, tritt sie manchmal ganz nah an mich heran und flüstert mir ins Ohr: ›Nun reißen Sie sich mal zusammen! Wir sind hier nicht im Kindergarten!‹« Herr N. zuckte hilflos mit den Schultern. »Vielleicht hat sie ja recht?«

Es fiel mir nicht leicht, die Stunde an diesem Punkt zu beenden. Doch unsere Zeit war um, und draußen wartete bereits die nächste Klientin. Ich bat Herrn N., bis zur nächsten Sitzung darüber nachzudenken, ob er schon öfter mit dem Rücken zur Wand gestanden hatte oder ihm jemand in den Rücken gefallen war.

Als er eine Woche später zu mir kam, wirkte er entspannter als bei der ersten Sitzung, als wäre etwas in Bewegung gekommen in ihm.

»Und, ist Ihnen etwas eingefallen?«, knüpfte ich ohne Umschweife an seine »Hausaufgabe« an.

Leise, aber flüssiger als beim letzten Termin erzählte mir Herr N. aus seiner Schulzeit. »Als ich 14 war, hatte ich in der Schule Probleme mit ein paar Jungs aus meiner Klasse, die ich vorher eigentlich mochte. Zumindest bewundert hatte ich sie. Denn die hatten ganz schöne Muckis, ich ja eher nicht so …« Er lächelte entschuldigend. »Na ja, bis heute eigentlich. Ich machte auch nicht jeden Mist mit, den sie verzapften. Eines Tages fingen sie an, mich zu hänseln, was ich für ein Weichei sei. Außerdem gaben sie mir Klapse auf den Hinterkopf. Erst nur leichte, doch mit jedem Mal wurden sie härter. Ich hatte solche Angst, in die Schule zu gehen.« Er sprach sehr langsam und knetete wieder den Mittelfinger. »Einmal, als ich es wagte, mich zu wehren, haben mich zwei der Jungs dann richtig verprügelt.« Seine Stimme vibrierte, und er starrte auf seine Hände hinab.

»Da haben Sie ja tatsächlich mehrfach mit dem Rücken zur Wand gestanden. Das war sicher schwer für Sie«, sagte ich mitfühlend.

Wir schwiegen eine Weile.

Ich fragte mich, ob Herr N. damals von jemandem Unterstützung erfahren hatte, und erkundigte mich: »Haben Sie Ihren Eltern davon erzählt?«

»Schon.«

»Und? Haben sie Ihnen geholfen?«

Benedikt N. zögerte einen Moment. Seine Unterlippe zitterte leicht, als er weitersprach. »Nein, ich hätte mich halt wehren sollen. Prügel unter Jungs seien doch normal, sagte mein Vater. Auch jetzt – die verstehen das doch gar nicht, warum mich im Geschäft die Wand so anzieht. ›Was hast du denn schon wieder gemacht, dass die so mit dir umgehen?‹, schimpfte meine Mutter mit mir, als ich ihr davon erzählte, dass mich die Kolleginnen komisch ansehen. ›Sei nicht so zimperlich! Und wenn deine Chefin dich runterputzt, dann mach eben den Mund auf.‹« Herr N. ließ den Kopf hängen. »Hätte ich das bloß gelassen.« Wieder trat Stille ein. Schließlich sah Herr N. auf und suchte meinen Blick. In seinen Augen las ich die Trauer und Enttäuschung eines Kindes.

»Für mich fühlt sich das wie ein Verrat Ihrer Eltern Ihnen gegenüber an«, sagte ich. »Als man Sie angriff, suchten Sie Schutz bei ihnen, und statt dass Ihre Eltern Ihnen halfen, verletzten sie Sie noch mehr.« Ich ermunterte Herrn N. weiterzusprechen, ob es weitere Ereignisse dieser Art gab.

Das Gleiche sei ihm passiert, als er seinen Eltern mit zwanzig offenbart habe, dass ihn Männer mehr anzögen als Frauen, für die er einfach nicht genauso viel empfinde. Damals habe er seine homosexuelle Neigung noch nicht annehmen können, nur gespürt, dass etwas anders mit ihm sei, und gehofft, bei seinen Eltern auf Offenheit und Verständnis zu stoßen. Stattdessen hätten sie ihn mit Verachtung gestraft.

»›Ich habe doch keinen schwulen Sohn!‹, hat meine Mutter gerufen«, murmelte Herr N., und es war ihm anzumerken, wie lebhaft ihm diese Situation bis heute vor Augen stand. »Ich wusste ja, dass das auf dem Dorf nicht so einfach ist. Dass man sich über so was nach wie vor lustig macht oder verächtlich reagiert.« Er seufzte. »Und dass meine Mutter sich Enkelkinder wünscht. Aber was soll ich machen?«

Danach habe er das Thema gemieden und sei nach Berlin gezogen, wo er mit seiner Homosexualität offen umgehen könne. Seit einiger Zeit lebe er sogar in einer festen Beziehung. Aus Angst, dass sie seinen Freund nicht akzeptieren oder schlecht behandeln könnten, habe er ihn den Eltern bisher allerdings nicht vorgestellt. »Am liebsten würde ich sie überhaupt nicht mehr sehen. Aber das schaff ich auch wieder nicht. Sie sind ja schließlich meine Eltern und schon alt.«

Benedikt N.s Erfahrungen von Überforderung, Unverständnis und Verachtung wiederholten sich nun mit seiner Chefin. Wie seine Eltern neigte sie zu Rundumschlägen, sobald sie unter Druck stand.

»Ich nehme an, das Verhalten Ihrer Chefin erinnert Sie an den Betrug Ihrer Mutter und löst deshalb dasselbe Gefühl aus, dass Sie mit dem Rücken zur Wand stehen«, erläuterte ich.

Herr N. reagierte nicht, knibbelte eine Weile lang lediglich an seinen Fingern herum.

»Manchmal will ich einfach nur noch weg«, sagte er plötzlich.

Da war er, der verbotene Impuls.

»Aha, vielleicht hält die Wand Sie also davon ab, einfach abzuhauen«, erklärte ich. »Sie schützt Sie davor, vor Ihrer Chefin zu fliehen. Das wäre dann unsere dritte Deutung für Ihren Zwang.«

Herr N. nickte. »Ja, Sie könnten recht haben.« Kurz war ihm eine gewisse Erleichterung anzumerken, und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor es sich schlagartig wieder verdüsterte. »Aber was kann ich dagegen machen? An dem, was in meiner Kindheit passiert ist, ändert sich ja nichts mehr.«

»Das nicht. Aber das zukünftige Geschehen können Sie beeinflussen.« Herr N. zog eine ungläubige Miene, doch ich nickte ihm zu. »Wir überlegen uns etwas. Und wer weiß, vielleicht brauchen Sie ja die Wand irgendwann gar nicht mehr, Herr N.«

In den folgenden Sitzungen suchten wir lange nach Möglichkeiten, den inneren Druck, den Fluchtimpuls und die Erfahrungen von Verrat zu verarbeiten. Zuerst absolvierte Benedikt N. einen Kurs für autogenes Training, der ihm half, in akuten Situationen seinen Atem zu regulieren und ruhiger zu werden. Als Nächstes sollte er lernen, den im Stress aufkeimenden Fluchtimpuls in Ordnung zu finden.

Als er das nach einigen Sitzungen akzeptiert hatte und sich nicht länger schuldig fühlte bei dem Gedanken, davonlaufen zu wollen, schlug ich ihm etwas vor, das ihn in einer realen Situation mit seinem Fluchtimpuls konfrontieren würde.

»Was halten Sie davon, wenn ich in meiner Mittagspause zu Ihrem Laden komme? Ist ja nicht weit von hier, und um die Uhrzeit soll es immer recht voll sein, sagen Sie. Wenn der Druck an jenem Tag wieder zu groß wird und Sie die Wand besonders magisch anzieht oder Sie die Blicke der Chefin oder Ihrer Kollegen nicht aushalten, was meinen Sie, vielleicht trauen Sie sich dann mal tatsächlich abzuhauen? Ich warte draußen auf Sie, wir reden kurz, und dann gehen Sie zurück.«

Es war eine klassische Methode der Konfrontationstherapie, die bei Zwangshandlungen oder Phobien helfen kann. Dennoch kostete es mich einiges an Überzeugungskraft, bis Herr N. sich darauf einließ, doch schließlich stimmte er zu. Wir vereinbarten, dass ich circa hundert Meter vor dem Einkaufscenter, in dem die Parfümerie lag, vor einer Dönerbude warten sollte. Ich wusste nicht, ob Herr N. es wirklich schaffen würde, seinem Fluchtimpuls nachzugeben, oder ob sich die Situation überhaupt so zuspitzte, dass er davonrennen wollte, aber einen Versuch war es wert.

Da es ja meine Mittagspause war, kaufte ich mir einen Döner, und als ich ihn aufgegessen hatte, war Benedikt N. noch immer nicht zu sehen. Ich gab ihm, so hatten wir es vereinbart, noch zehn Minuten. Und plötzlich sah ich ihn zügigen Schrittes aus der Schwingtür des Centers kommen. Er war blass und wirkte aufgeregt, als er bei mir ankam.

»Und wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Ich weiß auch nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Irgendwie erleichtert.« Er lachte kurz auf. »Mein Gott, haben die geguckt, als ich da einfach so rausgestürmt bin …«

»Das haben Sie gut gemacht, Herr N.« Ich nickte ihm zu. »Und warten Sie erst ab, was Ihre Chefin für ein Gesicht macht, wenn Sie gleich ganz entspannt zurückkehren, als sei nie etwas gewesen.«

Ein Strahlen glitt über Herrn N.s Gesicht, als er es sich ausmalte. »Danke!« Er wandte sich um und spazierte, die Hände in den Hosentaschen, zum Eingang des Centers.

Nach dieser Erfahrung traten die Situationen, in denen Herr N. den Fluchtimpuls verspürte, deutlich seltener auf. Nach einigen weiteren Sitzungen fasste er schließlich sogar den Mut, mit seiner Chefin zu sprechen. Er erklärte ihr, dass er aufgrund seiner Geschichte in Bedrängnis gerate, wenn er bei Stress oder Leere im Geschäft auch noch mit ihren Attacken rechnen müsse. Doch obwohl sie seine Erläuterungen mit einigem Verständnis hinnahm, änderte sie ihr Verhalten danach kaum.

Trotzdem tat sich für Benedikt N. etwas Entscheidendes: Anders als im Umgang mit seinen Eltern, deren Reaktionen ihn jedes Mal zutiefst enttäuschten und verunsicherten oder verletzten, hatte er sich gegenüber seiner Chefin mutig positioniert. In Situationen, in denen sich Herr N. während der Arbeit ausgeliefert fühlte, wehrte er sich nun und verwies auf das Gespräch. Die reine Wiederholung des Alten war damit aufgebrochen und er konnte lässig an der Wand lehnen, wenn es nichts zu tun gab. Und sie hinter sich lassen, sobald ein Kunde Herrn N.s Aufmerksamkeit verlangte.

Sie müssen da nicht allein durch!

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