Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 4
DIE ARBEIT EINES PSYCHOTHERAPEUTEN Möglichkeiten zur Veränderung nutzen und eine Akzeptanz der Ohnmacht entwickeln
ОглавлениеNach einem Vierteljahrhundert fällt es mir noch immer schwer, eine stabile Meinung zu meinem Beruf zu vertreten. Mal bin ich genervt, wenn ich morgens in die Praxis fahre, weil ich zu viele Sitzungen hintereinander verabredet habe oder mich eine Stunde mit einem Klienten erwartet, der schwer zugänglich ist und jeden meiner Hilfsversuche blockiert. Genauso freue ich mich auf Termine, sobald ich die Namen von Patienten auf meinem Plan lese, bei denen die Therapie gut läuft oder wir beim letzten Mal einen Durchbruch erzielt haben. Die vielen mitgefühlten Lebensgeschichten der Behandelten werden stets auch Teil der Lebensgeschichte eines Psychotherapeuten.
Dennoch – ist der Tag beruflich abgeschlossen, kann ich mein Tagewerk mit den vielen Schilderungen von Verstrickung, Hilflosigkeit und Tragik sehr leicht hinter mir lassen. Der Grund dafür ist schnell erzählt: Sobald man die Rolle des Therapeuten eingenommen hat, hört man zwar sehr viele schwere Schicksale, doch weisen uns die Hilfesuchenden den klaren Auftrag zu, sie zu unterstützen. Dadurch sind wir nicht ohnmächtige Zuschauer einer Tragik, sondern haben vielmehr Einfluss auf sie, können einen Beitrag zu ihrer Abwendung leisten.
Wenn ich noch am selben Abend im Fernsehen von schrecklichen Schicksalsschlägen höre, nimmt mich das hingegen ganz anders mit als Furchtbares in den Therapien, obwohl es viel weiter von meinem Leben entfernt ist. Überhaupt scheint es ein entscheidender Faktor für die Zufriedenheit eines Psychotherapeuten zu sein, Ohnmacht und Handlungsspielräume angemessen einschätzen zu können und einen gesunden Umgang mit den Grenzen des Möglichen zu entwickeln.
Ohnmacht meint übrigens nicht Hilflosigkeit, obwohl diese beiden Begriffe oft fälschlich gleichgesetzt werden. Wir sind hilflos, wenn wir in der Not keine Hilfe erfahren. Eine Therapie bietet jedoch Hilfe und Begleitung, und viel eher können Therapeuten und Patienten angesichts mancher Dilemmata gleichermaßen ohnmächtig sein im Sinne von »ohne die Macht, etwas entscheidend zu verbessern«. Doch auch solche Therapien haben etwas Heilsames, solange der Therapeut nicht auf seine eigene Ohnmacht gekränkt reagiert, sondern in der Lage ist, sie auszuhalten. So wird seine Ohnmacht für die Klienten zum Garanten, dass momentan wirklich nichts veränderbar und weiteres Grübeln sinnlos ist. Außerdem lässt sich, wenn etwa der geliebte Partner zunehmend an Alzheimer erkrankt, geteilte Ohnmacht deutlich besser aushalten.
Andere Klienten vermitteln uns wiederum empfundene Ohnmachtsgefühle, ohne dass sie nüchtern betrachtet ohnmächtig sind. Hier besteht die Herausforderung für den Therapeuten, sich trotz Einfühlungsvermögen nicht anstecken zu lassen, sondern die verbleibenden Handlungsspielräume ins Bewusstsein zu rücken und den Betroffenen von seinen Blockaden zu befreien.
Ich hatte einmal eine zart anmutende Patientin, die seit Jahren in ihrem weiblichen Körper äußerst unglücklich war. Ich begleitete sie entsprechend ihrer Bitte durch die Zeit ihrer Hormonbehandlung und Operationen im Dienste einer Geschlechtsumwandlung, hörte, wie ihre Stimme zunehmend tiefer klang, und sah, wie ihr ein Bart wuchs und dichter wurde. Am Ende erzählte sie mir, dass sie als männlicher Sexsklave in der BDSM-Szene unterwegs und mit dem neuen Leben sehr glücklich sei. Ein gutes Beispiel für das sinnvolle Austarieren von Ohnmacht und Handlungsspielräumen.
Der Zufall wollte es, dass ich nur wenige Wochen später einen Mann in die Behandlung aufnahm, der seinen männlichen Körper hasste. Er konnte sich jedoch nicht entschließen, die schrecklichen Mühen und Risiken einer Umwandlung einzugehen, wofür ich in Gänze Verständnis hatte. Allerdings minderten mir die Gespräche mit diesem Patienten über eine ganze Zeit hinweg die Freude an meiner Arbeit. Denn das Ende jeder Sitzung quittierte er mir mit den Worten: »Tja, wie immer hat mir das heutige Gespräch nichts gebracht.«
In einer Stunde hatte ich aus seiner Sicht zu viel Input gegeben, in einer anderen den falschen, dann wieder zu wenig. Der Patient machte mich ohnmächtig und wütend, und ohne dass es ihm bewusst war, sollte am Ende jeder Sitzung genau dies herauskommen: Seine Ohnmacht und Wut, im falschen Körper zu stecken, erfuhr kurzzeitige Entlastung, indem er einen nicht betroffenen Profi wie mich in noch größere Ohnmacht und Wut versetzte. Sein Mittel dafür nennt man Doublebind, im Sinne von »Wasch mich, aber mach mich nicht nass!«. Das Problem daran war, dass sich seine delegierte Ohnmacht keineswegs nachhaltig entlastend und profitabel auf ihn auswirkte, weil sie sein Dilemma natürlich nicht auflöste. Stattdessen zerstörte sie unsere gemeinsame Beziehung. Und obwohl ich ihm schon früh die Mechanik der Überführung seiner Ohnmacht und Wut an mich spiegelte, ließ er sich nicht von seinem Kurs abbringen. Wir beendeten die Therapie frühzeitig und einvernehmlich, jedoch nicht ohne beidseitige Wut aufeinander.
Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum dieser Beruf oft bezaubernd ist, weil er uns Therapeutinnen und Therapeuten die Möglichkeit bietet, in großer Not zu helfen. Genauso ist er aber manchmal auch aufzehrend, wenn wir – mitunter sehenden Auges – in die Konfliktdynamik der Klientel eingewoben werden. Denn innerpsychische Auseinandersetzungen werden in aller Regel auch zwischenmenschlich ausgetragen, manchmal sogar mit dem Therapeuten, der bei ihrer Abwendung helfen soll. Solche Verstrickungen gilt es früh zu erkennen und für den Klienten als beschreibbares Muster nutzbar zu machen, was leider nicht immer gelingt. Nachweislich siebzig bis achtzig Prozent der Klienten profitieren durch Psychotherapie nachhaltig, manche aber eben auch nicht.
Einige Schicksale meiner Klienten und Dynamiken des therapeutischen Verlaufs habe ich in den vielen Jahren längst vergessen, obwohl es sich gelohnt hätte, sie festzuhalten, um später noch einmal über sie nachzudenken. Vor zwei Jahren habe ich schließlich angefangen, jene Geschichten aufzuschreiben, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Etwas an ihrer Dynamik scheint sie vor dem Vergessen bewahrt zu haben, ob es die große Tragik war, der eigentümliche Therapieverlauf, die besondere Verbundenheit, ein humorvoller Aspekt oder die tiefe Erkenntnis, die ich dadurch gewonnen habe.
Von ihnen will ich erzählen.