Читать книгу Sie müssen da nicht allein durch! - Prof. Martin Rauh-Köpsel - Страница 14
Abgefangen im freien Fall
ОглавлениеVor knapp dreißig Jahren erlebte ich eine ungewöhnliche Geschichte. Ich war gerade mit meinem Studium fertig geworden und absolvierte in Köln mein erstes Klinikpraktikum. Abends saß ich nach den recht erschöpfenden Tagen oft in meiner Lieblingskneipe Downtown, um runterzukommen, immer am selben Tisch am Fenster. Einzelne Schicksale meiner KlientInnen schwirrten durch meinen Kopf. Nicht nur die Dynamiken, die dahintersteckten, wollte ich komplett verstehen, wenn jemand beispielsweise seit drei Jahren seinen rechten Arm nicht mehr heben konnte, obwohl es keinen somatischen Befund dafür gab. Genauso sehr beschäftigte mich die Frage, ob ich alles richtig machte in diesem Fall und das Beste aus den Sitzungen rausholte. Zu gern hätte ich mal eine Woche bei meinen sieben KollegInnen hospitiert und mir angesehen, wie die an ihre Fälle herangingen.
Eines Abends war nicht viel los in der Kneipe. Dafür war es noch zu früh, und lediglich ein paar Stammgäste wie ich hockten vor ihrem Getränk, lasen oder stierten vor sich hin. Am Nebentisch saßen drei junge Männer und spielten Skat. Sie kamen jeden Mittwoch. Medizinstudenten, eine lustige Truppe. Als einer der drei einmal fehlte, war ich als Partner eingesprungen.
Ich trank mein Bier und schaute aus dem Fenster. Der vorbeiziehende Strom mir unbekannter Menschen beruhigte mich. Irgendwann fiel mir in der Scheibe die Spiegelung einer jungen Frau am Tresen auf, die dort schon seit einiger Zeit allein vor sich hinstarrte, und ich drehte mich zu ihr um. Ab und zu nippte sie an ihrem Bier. Auch sie kannte ich vom Sehen. Für gewöhnlich saß sie mit einer Freundin zusammen; so allein machte sie einen verlorenen Eindruck. Eine weiße Baseballkappe verdeckte ihre Augen. Über ihrem kurzen roten Rock leuchtete weiß ihr Bauch unter einem Batikshirt hervor, darunter trug sie pinkfarbene Leggins, die Füße steckten in den damals üblichen Plateauschuhen. Alles in leuchtenden Neonfarben. Den schlanken Hals umschnürte eine schmale schwarze Schockkette.
Als sie kurz den Kopf hob, streifte mich ein ratlos verzweifelter Blick, der mich sehr berührte. Was war los mit ihr? Gerade sie und ihre Freundin palaverten und giggelten sonst immer endlos, wenn sie sich in der Kneipe trafen. Mein Helferinstinkt schlug Alarm.
Als die Frau erneut herüberschaute, beschloss ich, sie anzusprechen. Ich trank den letzten Schluck meines Bieres aus, bestellte ein neues und setzte mich neben sie an den Tresen, unschlüssig, ob ich als Mann oder Psychologe auftrat. Schließlich siegte der Psychologe, und ich sagte: »Du wirkst bedrückt. Kann ich irgendwie helfen?«
Sichtlich dankbar, dass sie nicht mehr allein mit ihren Gedanken war, erzählte sie mir daraufhin folgende Geschichte: »Meine beste Freundin hat mich heute Morgen absolut verzweifelt angerufen. So habe ich sie noch nie erlebt. Ihr Freund – und der ist ihre erste große Liebe – ist aus ihrem Bett aufgestanden und hat gesagt: ›Ich gehe jetzt, und ich komme nicht wieder. Das, was wir haben, ist nicht das, was ich suche.‹ Daraufhin ist sie völlig zusammengebrochen und hat nur noch geheult, und ich weiß einfach nicht, wie ich hier helfen kann.« Wieder traf mich der ratlose Blick aus großen graugrünen Augen, um die ein dicker schwarzer Lidstrich gezogen war. »Sorry, dass ich dich damit zutexte, aber ich bin einfach total durch den Wind deswegen. Und irgendwas muss ich einfach unternehmen.« Sie nippte an ihrem Bier und versuchte ein kleines Lächeln. »Ich bin übrigens Veronique. Hi.«
»Hi. Martin.« Ich hob mein Bierglas, und wir prosteten uns zu. »Deine Freundin – ist das die mit der Lederjacke, mit der du sonst immer hier sitzt?« Veronique nickte. »Und wo ist sie jetzt?«
»Bei der Arbeit.« Sie seufzte. »Malou sagte, sie könne um keinen Preis in die Wohnung gehen, wo er sie verlassen hat. Aber sie kann doch auch nicht die ganze Zeit im Büro bleiben. Was soll ich bloß machen?«
»Wie gut kennst du sie?«
»Na, sie ist meine beste Freundin!«
»Okay. Was, meinst du, braucht sie jetzt bzw. was sollte sie in dieser Situation unbedingt vermeiden?«
Veronique antwortete prompt. »Sie darf nicht allein sein, auf keinen Fall! Zu Hause erinnert sie doch alles an die gemeinsame Zeit mit dem Freund, immerhin waren sie mehr als ein halbes Jahr zusammen!« Sie wandte den Kopf zum Fenster und dachte kurz nach. »Malou könnte natürlich für ein paar Tage in meine WG ziehen. Aber ob das hilft? Liebeskummer vergeht ja nicht mal eben.«
»Du hast recht«, erwiderte ich. »Wenn sie zu dir kommt und sozusagen aus ihrem Zuhause flieht, lenkt sie das vielleicht ab, ändert jedoch nicht viel an ihrer Verzweiflung. Denn wenn sie nach ein paar Tagen in ihre Wohnung zurückkehrt, überschwemmen sie die alten Erinnerungen an ihren Freund, und sie bricht vermutlich erneut zusammen.«
Ein paar neue Gäste betraten die Kneipe, begrüßten lautstark die Skatspieler und bauten auf dem Nebentisch Backgammon-Spiele auf.
»Was wäre, wenn du bei ihr einziehst und noch ein paar Freundinnen mitbringst? Am besten sogar Freunde. Ihr lenkt Malou ab, bringt sie zum Lachen und lasst einfach keine dummen Gedanken aufkommen. Das entschärft ihre eigenen vier Wände.«
»O Gott, das wird ihr doch peinlich sein!« Veronique warf mir einen prüfenden Blick zu, wie um festzustellen, ob das mein Ernst war. Ich hob die Schultern und breitete meine Arme aus. Ja, das war mein Ernst. Veronique schüttelte den Kopf. »Bestimmt nimmt sie das nicht an.«
»Vielleicht ja doch.« Ich ließ die Hände wieder sinken. »Vielleicht wünscht sie sich insgeheim genau das. Viele Verlassene sind nicht in der Lage, andere um so etwas zu bitten. Dann kann es sinnvoll sein, ungefragt zu handeln und damit unausgesprochene oder unbewusste Wünsche zu erfüllen«, dozierte ich.
Veronique wippte unschlüssig mit ihren Beinen. »Hm, keine Ahnung.«
Die Jungs am Nebentisch warfen die Karten auf den Tisch und lachten. Mir kam eine Idee.
»Je verrückter die Aktion ist, umso eher ist sie geeignet, die Verzweiflung deiner Freundin erst mal auszuhebeln.« Ich zeigte auf die Skatspieler. »Nimm doch die da drüben mit.«
Jetzt lachte Veronique. »Na, du hast Einfälle!« Als ich nicht mitlachte, hielt sie inne und blickte mir in die Augen. »Du meinst das ernst, oder?«
Ich nickte. »Wieso nicht? Es sind nette Jungs.«
Veronique machte ein nachdenkliches Gesicht, und es freute mich, dass sie nicht gleich »Nein« sagte.
»Das wäre wirklich ziemlich verrückt«, murmelte sie. »Aber ob die da mitmachen …?«
»Das wissen wir gleich … He, Jungs«, rief ich rüber zum Skattisch, »habt ihr Lust auf ein Abenteuer für eine verlassene Frau? Ihr seid doch Mediziner.«
Die drei blickten überrascht auf.
»Was für ’n Abenteuer?«, fragte der dünne Blonde mit randloser Brille im schwarzen Rolli.
»Veroniques beste Freundin Malou, ihr habt sie doch auch schon gesehen, die sitzt hier immer am Tresen und trägt eine Lederjacke.« Die Skatspieler nickten, wussten, wen ich meinte. »Sie wurde gerade von ihrem Typen verlassen, und man kann sie jetzt unmöglich allein in der Bude lassen. Ich hab da als Fachmann so meine Erfahrungen. Habt ihr nicht Lust, mit Veronique für ein paar Tage bei Malou einzuziehen, um sie abzulenken – so aus reiner Nächstenliebe?«
Der Blonde stand auf und kam zum Tresen. »Coole Idee. Also ich bin dabei. Hab das auch schon mal durch und hätte mich gefreut, wenn ich damals nicht allein gewesen wäre.« Er hieß Ralf und hatte gerade das Physikum hinter sich gebracht, wie er erzählte. Das müsse er feiern, und warum nicht auf diese Weise. »Kommt ihr auch mit?«, fragte er seine Kumpels.
Doch die beiden anderen schüttelten nur lachend den Kopf. »Mach du mal.«
Ein Mann, dachte ich, wäre zu wenig, denn dadurch entstünde schon wieder eine Art Paarsituation, die Malou belasten könnte. Es müssten mindestens zwei Kerle sein. Sollte ich ebenfalls mitmachen? Eigentlich war ich ja eher schüchtern in solchen Sachen. Doch schließlich siegte meine Neugier. »Okay, dann bin ich ebenfalls dabei.«
»Ihr seid ja cool!« Veronique strahlte uns an.
Wir verabredeten uns in einer Stunde vor dem Haus, in dem Veroniques Freundin wohnte, und gingen unterdessen das Nötigste von zu Hause holen. Wir hofften, dass Malou inzwischen nicht doch von der Arbeit heimgekehrt war, denn wir wollten unbedingt vor ihr da sein, um sie zu empfangen, ehe sie ihre Wohnung betrat.
Wir waren ziemlich aufgeregt, als wir uns vor dem schon etwas in die Jahre gekommenen Hochhaus aus den Siebzigern trafen, grinsten uns an und schoben die Riemen unserer Rucksäcke und Taschen von einer Schulter auf die andere. Um unsere Entschlossenheit zu demonstrieren, hatten wir noch schnell Bier, Sekt und Snacks gekauft.
»Dann mal los.« Veronique klingelte an einem teils überklebten Klingelbrett, auf dem an die zwanzig Namen standen.
Niemand meldete sich. Wir warteten eine Weile, da kam Malou um die Ecke. Wir drei schauten uns an und holten tief Luft. Würde sie uns in ihre Wohnung lassen? Plötzlich spürte ich eine gewisse Peinlichkeit aufkommen, weil die ganze Aktion bei Tage betrachtet ganz schön übergriffig war, und ich merkte, dass den anderen ähnliche Zweifel durch den Kopf gingen.
»Entweder es klappt, oder es klappt nicht. Einen Versuch ist es allemal wert,« machte ich uns Mut.
Ralf nickte zuversichtlich: »Wird schon.«
»Hallo Malou!«, flötete Veronique ihrer Freundin entgegen. »Ich hab ein paar Freunde mitgebracht. Wir wollen dich ein bisschen ablenken.«
Malou starrte uns entgeistert an. Sie sah verquollen aus, die aufgerissenen Augen verschmiert von zerlaufener Schminke, was nicht zu dem förmlichen Büro-Outfit passte, das sie trug.
»Wer ist das?«, fragte sie Veronique und zeigte auf uns. Verwirrt musterte sie unsere Rucksäcke und Flaschen in der Hand.
»Du kennst sie, Malou. Aus’m Downtown. Die sind da genauso oft wie wir.« Veronique lächelte aufmunternd. »Weißt du, Malou, wir haben uns gedacht, dass wir für eine Woche bei dir einziehen. Weil, wer so etwas erlebt hat wie du, der darf nicht allein sein. Dafür sind Freunde da!«
Malous Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Aber ich …«
»Wir kommen mit. Keine Widerrede!«
Wir Männer grinsten und schwenkten die mitgebrachten Party-sachen. Malou stand etwas verloren in der Tür und betrachtete uns wie ein Kind, das unverhofft ein Spielzeug bekommt, von dem es noch nicht weiß, ob es damit spielen soll.
»Los, lass uns rein!«, wiederholte Veronique bestimmt.
»Okay.« Ohne weiter zu zögern, winkte Malou uns hinter sich her ins Haus, das Treppenhaus hinauf und in ihre Wohnung hinein. »Ich habe aber nicht aufgeräumt.«
Wir blieben tatsächlich eine geschlagene Woche. Wie ein Fallschirm fingen wir Malous Absturz auf, kochten gemeinsam, schauten Videos und Serien, sangen Karaoke und spielten Twister. Nachts schliefen wir zusammen in ihrem großen Bett.
»Kein Wort über die Trennung!«, hatte ich Veronique und Ralf vorher eingeschärft. »Und wenn sie darauf zu sprechen kommt, ablenken.«
Wir hielten uns daran, und es funktionierte. Als wir uns sieben Tage später verabschiedeten, war Malou sehr gerührt und deutlich stabiler als zuvor.
Jeder von uns dreien kehrte zurück in sein Leben, als wäre nie etwas gewesen. Ich hatte inzwischen an den Wochenenden zusätzlich zur Klinik meine erste Selbsterfahrungsgruppe übernommen, 18 Teilnehmer, die alle älter waren als ich, was mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit brachte. Meine Lieblingskneipe besuchte ich dadurch erst ein paar Wochen später wieder.
Veronique, Malou und Ralf waren zufällig auch da. Wir sahen uns an, lächelten – und verloren kein Wort über unser gemeinsames Abenteuer. Weder an jenem Abend noch später.