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1. Sozialstaatsprinzip

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Schrifttum: Axer, Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und die Sicherung sozialer Grundrechtsvoraussetzungen, in: Gedächtnisschrift für Brugger, 2013, S. 335; Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, § 17; Degenhart, Staatsrecht I, 36. Aufl., 2020, Rn 589 ff; Heinig, Grundgesetzliche Vorgaben für das Sozialrecht und ihre verfassungstheoretische Reflexion, in: Masuch et al. (Hrsg.), Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Bd. 1, 2014, S. 333; Isensee, Staatsrechtliche Grundlagen des Sozialstaatsprinzips, in: Katholische Akademie Schwerte (Hrsg.), Die Würde der Menschen, 2011, S. 9; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003; F. Kirchhof, Die Entwicklung des Sozialverfassungsrechts, NZS 2015, 1; Papier, Staatsrechtliche Vorgaben für das Sozialrecht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 23; ders./Shirvani, Der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: SRH, § 3, Rn 1 ff; Pitschas, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, VVDStRL 64 (2005), S. 109; Ruland, Die Bedeutung des Rechts für die soziale Sicherheit, in: Gedächtnisschrift für Heinze, 2005, S. 731; Söllner, Die Wahrung der Grundrechte als gemeinsame Aufgabe von Bundessozialgericht und Bundesverfassungsgericht, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 43; Steiner, Werden und Wandel des Sozialrechts im Sozialstaat, NZS 2019, 1; Steinmeyer, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen und Grenzen für Reformen der Sozialsysteme im Zeitalter der Globalisierung, NZS 2012, 721; Voßkuhle/Wischmeyer, Das Sozialstaatsprinzip, JuS 2015, 693; Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 28 Rn 17 ff.

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Der Sozialstaat ist die große kulturelle Errungenschaft des 20. Jahrhunderts in Europa. Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich im Grundgesetz zur Sozialstaatlichkeit. Das Sozialstaatsprinzip ist in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG verankert. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Sozialstaatsprinzip das Gebot der sozialen Sicherheit und das Gebot der sozialen Gerechtigkeit ab[4]. Art. 20 Abs. 1 GG begründet, soweit die Verhältnisse dem Sozialstaatsprinzip nicht entsprechen, Handlungspflichten bzw Handlungsaufträge des Staates. Der aus dem Sozialstaatsprinzip fließende Gestaltungsauftrag verpflichtet den Gesetzgeber verfassungsrechtlich, sich um einen „erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen“[5]. Zugleich folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht ist dem Grund nach unverfügbar, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber[6]. Die staatliche Verantwortung ist zeit- und situationsabhängig, also auch an der Prosperität der Gesellschaft orientiert. Der darüber hinaus bestehende Auftrag zur Gestaltung der Lebensverhältnisse im Sinn sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit (vgl § 1 SGB I) beruht auf der Erkenntnis, dass sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit das allgemeine Beste nicht im freien Spiel der Kräfte, sozusagen von selbst, ergibt[7]. Die vor dem Hintergrund dieser Selbstverständlichkeit bestehende Gestaltungsaufgabe des Staates ist nicht im Einzelnen verfassungsrechtlich festgelegt, der Staat hat einen Gestaltungsspielraum. Eine grundsätzliche Abkehr von den zum Grundbestand des sozialen Rechtsstaats gehörenden Einrichtungen ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Wie das Rechtsstaatsprinzip gehört das Sozialstaatsprinzip zu den tragenden Verfassungsgrundsätzen, die zusammen mit dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) gemäß Art. 79 Abs. 3 GG den Kernbestand der Verfassungsordnung ausmachen.

Nur in Ausnahmefällen könnte sich aus dem Sozialstaatsprinzip eine unmittelbare Verpflichtungs- und Berechtigungswirkung auf der Ebene der Rechtsanwendung ergeben. Sozialrechtliche Leistungsansprüche bedürfen einer gesetzlichen Grundlage (§ 31 SGB I). Diese findet sich in den jeweiligen Gesetzen des Sozialgesetzbuchs und der besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs (§ 68 SGB I). Soweit der gebotene soziale Mindeststandard gewährleistet bleibt, liegt es im Gestaltungsermessen des Gesetzgebers, auf welche Weise er soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit herstellt[8]. Seine praktische Bedeutung hat das Sozialstaatsprinzip (mittelbar) bei der Auslegung der die Sozialleistungen vermittelnden Gesetze. Das Sozialstaatsprinzip wirkt nicht als Bestandsgarantie für einzelne individuelle Leistungsansprüche. Diese können aber, wenn sie durch eigene Leistungen sozusagen verdient worden sind, durch Art. 14 GG geschützt sein. Das gilt namentlich für die durch Beitragsleistungen erworbenen Ansprüche (und zuvor schon Anwartschaften) aus der gesetzlichen Rentenversicherung (Rn 18). Schließlich kann das Sozialstaatsprinzip die Rechtfertigung für gesetzgeberisches Eingreifen abgeben.

Beispiele: (1) Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind[9]. (2) Die Mitgliedschaft in der Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung ist für die Arbeitnehmer Pflicht (siehe § 5 Abs. 1 Nr 1 SGB V; § 1 Nr 1 SGB VI; § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII; § 25 Abs. 1 SGB III); diese Pflichtmitgliedschaft wirkt als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Das Sozialstaatsprinzip rechtfertigt die Versicherungspflicht, denn das sozialstaatliche Anliegen der sozialen Sicherheit wäre nicht zu erreichen, wenn der in Betracht kommende Personenkreis nicht umfassend in die Versicherung einbezogen würde[10]. (3) Auch die für die Sozialversicherung typische Orientierung der Beiträge am Einkommen der Versicherten (in der Privatversicherung gibt es das nicht, die Prämien richten sich nach dem abzudeckenden Risiko) findet die Rechtfertigung im Sozialstaatsprinzip: Das Sozialstaatsprinzip ist hier Differenzierungsgrund iSv Art. 3 Abs. 1 GG[11].

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Schließlich ist festzuhalten, dass das Sozialstaatsprinzip keineswegs nur durch das Sozialrecht verwirklicht wird, sondern auch in anderen Rechtsgebieten eine wichtige Rolle spielt: durchgehend im Arbeitsrecht, ferner in Teilen des Bürgerlichen Rechts (Mieterschutz, Verbraucherschutz), im Prozessrecht (Prozesskostenhilfe, Pfändungsschutz), zu einem nicht geringen Teil schließlich im Steuerrecht (Kinderfreibeträge, Progression der Einkommensteuersätze)[12].

In der Corona-Situation erweist sich der Sozialstaat als der wirksame Rettungsanker; die Verbindung von Demokratie und Sozialstaat ist in der Lage, Freiheit, wirtschaftliche Chancen und Gesundheit in der Krise in der Balance zu halten. Dies entspricht der Erwartung der Menschen[13].

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