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Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen...

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Obwohl von der Sache her vollkommen unbeteiligt, war ich aufs Äußerste gespannt, wie sich dieser offene Wettstreit zwischen Richter und Angeklagtem entwickeln würde: Was würde der erlauchte Amtsgerichtsdirektor, in Sachen verstockter Delinquenten mit allen Wassern gewaschen, wohl unternehmen, um diesen „gordischen Knoten“ in der Beweisführung zu entwirren? Würde er die Verhandlung abbrechen, um eine erneute, noch genauere Detail-Untersuchung anzuordnen? Des Tatorts oder des Unfallfahrzeugs zum Beispiel, um eventuell doch noch Spuren und Hinweise auf den vermuteten Alkoholkonsum vor der Tat zu finden? Um durch hieb- und stichfeste Indizien und Beweise den Angeklagten am Ende doch noch einer Lüge zu überführen?

Nichts dergleichen! Die Methode, die der Richter anwandte, um den Angeklagten, der wie ein Uhrwerk immer dieselbe Geschichte wiederholte, zur Strecke zu bringen, war ebenso simpel wie effektiv: Er stellte dem Angeklagten mit unbeirrter Beharrlichkeit immer wieder dieselben Fragen zum Tathergang und ließ ihn seine Geschichte wieder und wieder erzählen. Und jedes Mal, wenn der Angeklagte mit seinen Ausführungen fertig war, schaute der Richter mit gespielter Verachtung von oben, von seinem leicht erhöhten Richtertisch auf den Angeklagten herab und sagte im vollen Brustton der Überzeugung:

„Das glaubt Ihnen doch kein Mensch: Diese Geschichte können Sie vielleicht Ihrer Großmutter erzählen, aber nicht diesem Gericht hier! Denken Sie sich doch bitte mal etwas Überzeugenderes aus. So kommen wir hier nie zu einem guten Ende!“

„Nein, Herr Richter, ich schwöre, genauso war es, ich sage die volle Wahrheit!“

Drei oder viermal erzählte der arme Mann gezwungenermaßen dieselbe Geschichte, dann knickte er endlich ein:

„Also ja Herr Richter, ich geb’s ja zu: Zu dieser Erzählung haben mir meine Kumpels geraten. In Wirklichkeit war es so…“

Und dann kam eine zweite Geschichte, die noch unglaublicher anzuhören war als die erste.

Das war’s mit „im Zweifel für den Angeklagten”: Trotz fehlender Beweise wurde unser wackerer, zu seinem eigenen Unglück leider mehr als ihm gut tat dem Alkohol verfallener Handwerksmann der grob fahrlässigen Verkehrsgefährdung in Tateinheit mit schwerer Sachbeschädigung schuldig gesprochen.

Die für Verkehrsdelikte zuständige Haftpflichtversicherung des Unfallfahrers, deren Vertreter zu den wenigen Zuhörern in dem großen, fast leeren Gerichtssaal gehörte, hatte damit die gewünschte Handhabe, sich den gesamten Schadensersatz für das beschädigte Haus vom Angeklagten zurückzuholen. Auto futsch, Geld futsch, und seinen Job beim Bau war der arme Wurm sogar schon vor dem Gerichtstermin los gewesen: Wer beschäftigt auf dem weiten, platten Land wohl jemanden, der kein Auto hat, mit dem er zu ständig wechselnden Baustellen fahren kann?

Armer Sünder, dachte ich mir, diesen Strick hast du dir ganz allein selbst um den Hals gelegt! Und für mich selbst zog ich aus dieser missglückten Selbstverteidigung den guten Vorsatz, zukünftig noch mehr als bisher an meiner eigenen Rhetorik feilen zu wollen. Nach diesem Prozess war mir sonnenklar, vor Gericht hat nur der gute Karten, der „coole“ Argumente und einen noch cooleren – Entschuldigung –, einen noch kühleren Kopf hat.

Vor allen Dingen: Jeder Depp und jeder Richter weiß, dass es nur eine einzige Wahrheit, dafür aber umso mehr Unwahrheiten gibt. Wer also für sich selbst beschlossen hat, den Rest der Welt mit Lügenmärchen zu beglücken, der sollte immer daran denken: Sagt man zuerst A und dann B, braucht man sich nicht darüber zu wundern, wenn einem hinterher keiner mehr glaubt. Also bitte schön bei der Stange bleiben – ganz besonders vor Gericht –, und immer schön „A” sagen, auch wenn’s einem keiner glaubt. Sollen alle anderen doch erst einmal hergehen und dir das Gegenteil beweisen!

Wir haben alle mal klein angefangen

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