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Schwarze Milch

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Recht raue Sitten herrschten also im unmittelbaren Umfeld meiner allerersten Studentenbude in einem der letzten der damals in Göttingen noch verbliebenen Unisex-Wohnheime. Reine Frauen- und Männer-Wohnheime waren zu der Zeit allerdings nicht wirklich eine Besonderheit, denn bis zum Ende der sechziger Jahre galt der Kuppelei-Paragraph §180 in voller Schärfe auch für Erwachsene und war insbesondere bei privaten Vermietern von Studentenbuden entsprechend gefürchtet! (Bitte melden: Wer kennt den §180 StGB heute noch?)

Aus Angst vor Strafe durften nach 22 Uhr abends und vor 6 Uhr morgens absolut keine weiblichen Wesen in unserem Heim gesehen werden. Was man dagegen tun konnte? Um der damals schon nicht mehr ganz zeitgemäßen Vorschrift nachzukommen, sperrte man die holde Weiblichkeit nach 22 Uhr einfach in das eigene Zimmer ein und entließ sie erst morgens nach 6 Uhr wieder in die Freiheit. Ausreichend Zeit für ein ausführliches körperliches Miteinander also. So wurde der Sinn und Zweck des Kuppelei-Paragraphen mit ein bisschen destruktiver Fantasie ganz einfach in das genaue Gegenteil verkehrt.

Raue Sitten also. Mein erstes Weihnachten wollte ich nicht fern der Heimat, sondern natürlich zuhause bei meinen Eltern und Freunden verbringen. Vor der langen Heimreise mit dem damals noch größtenteils dampfbetriebenen Zug versuchte ich noch, mich mit einem selbst gekochten Teller Spaghetti, Tomatensoße und leckerem Parmesankäse zu stärken. (Alles vom billigen ALDI, versteht sich!)

Ob’s am Reisefieber lag? Jedenfalls schaffte ich es nicht, die ganze Portion italienische Nudeln in einem Rutsch aufzuessen. Daraufhin dachte ich so bei mir, dass es doch bestimmt eine feine Sache sein würde, drei Wochen später wieder nach Göttingen zurückzukommen und dort im Gemeinschaftskühlschrank einen leckeren Essensrest vorzufinden. Schnell wieder warm gemacht, würde ich ihn mit großem Appetit und Genuss verspeisen, ausgehungert von der ebenso langen Rückreise mit der Bahn.

So jedenfalls dachte ich mir’s und stellte meine Restspaghetti mitsamt Soße, Käse und Besteck in den Kühlschrank, optisch ansprechend auf einem wunderschönen, giftgrünen Plastikteller angerichtet. (Diesen todschicken und topmodischen Teller hatte ich gleich zu Beginn meines Studiums für kaum ´ne Mark günstig beim HERTIE um die Ecke erstanden.)

Ich war nicht wenig überrascht, als ich gut drei Wochen später weder Teller noch Besteck, geschweige denn meine Spaghetti im Kühlschrank wiederfand. Die im Tagesraum anwesenden Mitbewohner sahen mich ratlos ins leere Kühlfach starren.

„Du suchst deine Nudeln?“

„Ja!“

„Ach, du warst das!“

„Ja, wieso? Das waren meine Spaghetti! Wo sind die denn jetzt?“

„Die haben wir weggeworfen.“

„Warum denn bloß?“

„Die waren doch total vergammelt, Mann. Und gestunken haben die auch – zum Hundserbarmen!“

„Ja, wirklich? Das ist dumm! Wo ist denn jetzt mein Teller?“

„Den haben wir gleich mit weggeworfen!“

„Was? Etwa mitsamt dem Besteck?“

„Na klar, Mann: mitsamt dem Besteck!“

Ich muss sagen, Mitleid oder tätige Reue sahen anders aus. Dabei war mir gerade dieser so schön giftgrüne Plastikteller – der erste Teller, den ich mir jemals von meinem eigenen Geld gekauft hatte – schon nach kürzester Zeit so ans Herz gewachsen, dass ich mich auch heute noch mit Schmerzen an diesen bedauerlichen Verlust erinnere.

Wenn ich allerdings so recht darüber nachdenke, hat man Teller, Besteck und Spaghetti nach drei langen Wochen im Kühlschrank wahrscheinlich überhaupt nicht mehr voneinander trennen können – weder optisch noch mechanisch. Die Reaktion meiner Kommilitonen war im Nachhinein also irgendwie verständlich. Dumm gelaufen...

Abschließende Verständnisfrage zum Thema „Studenten und ihre Essensvorräte”: Wie bekommt man schwarze Milch? Ganz einfach: In den Kühlschrank stellen und vergessen. Die Steinkohlebriketts der Neuzeit sind ursprünglich wohl auch auf diesem Wege entstanden. (Vielleicht gab’s ja schon in prähistorischen Zeiten Kühlschränke und Milchtüten!)

Wir haben alle mal klein angefangen

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